50.

Was tust du denn hier?«, fragte KC Michael noch einmal, und in ihrer Stimme schwangen Verzweiflung und Schmerz mit.

Sie stand immer noch im Gang. Michael schaute sie an, erleichtert, dass sie am Leben war.

»Hallo, Michael.« Venue trat einen Schritt vor und machte ihrer trauten Zweisamkeit ein Ende. »Wie ich sehe, bist du ein gewiefter Dieb und Betrüger.«

KCs Gesicht nahm immer gequältere Züge an.

»Lassen Sie sie gehen«, befahl Michael.

»Wieso glaubst du denn, dass sie von hier weg will? Dass sie nicht aus eigenem Antrieb mitgekommen ist?«

»Nun machen Sie aber halblang.« Michael drehte sich zu KC um. »Er hat mich angerufen und gesagt, du würdest sterben, wenn ich mich einmische und ihm in die Quere komme.«

»Schlecht hören kannst du also auch recht gut«, höhnte Venue.

Michael öffnete seinen Rucksack und zog die Lederrolle heraus. »KC, es ist nicht so, dass ich dir nicht vertraut habe. Ich vertraue nie einem anderen Menschen.«

»Ist es nicht erstaunlich, was man alles aus Liebe tut, Michael? Ich brauchte dich nicht einmal zu bitten, das mitzubringen.« Venues Blick fiel auf die Lederrolle und blieb darauf haften. »Woher soll ich denn wissen, dass das hier jetzt wirklich das echte Stück ist?«

»Ich spiele nicht mit dem Leben von Menschen, wie Sie es tun.«

»Oh, ein wahrer Held«, spottete Venue. »Lass mich das Ding mal sehen.«

»Das dürfen Sie erst, wenn Sie KC und ihre Schwester gehen lassen. Sobald ich weiß, dass die beiden in Sicherheit sind.«

»Was?« Cindy drehte sich verwirrt um die eigene Achse. »Ich bin aber …«

»Was für ein Dreck«, erklärte Iblis ungerührt. Im nächsten Moment packte er KC mit aller Gewalt im Nacken und riss sie so schnell nach hinten, dass sie nicht mehr reagieren konnte. Er bog ihren Körper zurück, dass ihr blondes Haar auf seiner Brust lag und sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Dann presste er die Klinge seines Messers gegen ihre Halsschlagader.

Michael sah KC fest in die Augen, während sie versuchte, sich gegen Iblis zur Wehr zu setzen. Sie zeigte keine Furcht, nur Wut. Aber Michael erkannte in Iblis’ Augen, in diesen kalten, toten Augen, dass er nicht zögern würde, KC die Kehle durchzuschneiden, um zu bekommen, was er wollte. Was er für sie empfand, spielte dabei keine Rolle.

Michael öffnete die lederne Transportrolle und zog den echten Stab heraus. Er versuchte, sich zu konzentrieren, da der Stab sofort seine Wirkung entfaltete, sodass er sich ein wenig benommen fühlte.

»Was ist das?«, stieß Iblis hervor und machte mit dem Kinn eine Bewegung in Richtung des Stabes.

Michael hielt ihn hoch, damit Venue und alle anderen ihn sehen konnten. Die kostbaren Edelsteine funkelten im Licht der Kerzen. Nur schaute keiner auf die Juwelen, mit der die Schlangen besetzt waren …

Dazwischen geschlungen, wie eine dritte Schlange, war eine hellbraune dünne Schnur, die vom einen Ende zum anderen reichte. Der Plastiksprengstoff wand sich um die beiden Schlangenköpfe und endete in einem silbernen Stift, aus dem zwei Drähte ragten, die in einem schwarzen Kästchen verschwanden.

»Ich nehme an, ihr alle wisst, was das ist. Ein einmaliges Stück, könnte ich mir vorstellen. Die letzten fünfhundert Jahre hat es ein toter Sultan in den Händen gehalten. Und ich habe das Design jetzt ein wenig verbessert. Primacord ist ein hervorragender Sprengstoff und sorgt für höllische Knaller … für die Doppeldeutigkeit entschuldige ich mich. Dieses silberne Ding«, Michael betastete die Sprengkapsel, die sich am Kopf der Schlangen befand und mit einem kleinen Keypad verbunden war, »ist der Zünder. Bevor ihr darüber nachdenkt, KC zu töten oder mich über den Haufen zu schießen und mir das hier aus der Hand zu reißen, solltet ihr euch klarmachen, dass der Sprengstoff in dem Moment explodiert, in dem ihr versucht, ihn vom Keypad zu trennen. Nur ich kenne den Code, um die Bombe zu entschärfen. Sobald KC und Cindy in Sicherheit sind, könnt ihr den Stab haben.«

»Ich gehe hier nicht weg. Mit dir gehe ich nirgendwo hin!« Cindy blickte von einem zum anderen, doch niemand beachtete sie. »Ich bleibe hier«, schrie sie Michael an; dann stellte sie sich dicht neben Venue.

»Wie du willst.« Michael schüttelte den Kopf, war aber nicht überrascht. »Dann eben nur KC.«

»Woher sollen wir wissen, dass das nicht schon wieder eine Imitation ist?«, sagte Iblis, der KC nach wie vor das Messer an die Kehle drückte.

»Hier.« Michael reichte Venue den Sultansstab. »Welche Gefühle bereitet Ihnen das Ding?«

Venue ließ den Stab durch seine Händen gleiten, drehte und wendete ihn, als hätte man ihm soeben den Schlüssel zur Welt seiner Träume überreicht. Mit einem Mal wurden seine Augen vor Verwunderung ganz groß; man konnte die Wirkung, die der Stab auf ihn hatte, von seinem Gesicht ablesen. Er schwankte, schien unsicher auf den Beinen.

»Glauben Sie mir, das ist der echte Stab.« Michael reichte ihm die lederne Transportrolle.

»Ich lasse euch zwei nicht gehen«, sagte Venue im Befehlston und kämpfte gegen den Einfluss des Stabes an. Schließlich steckte er ihn zurück in die Röhre. Sofort ließ die Wirkung nach. »Ich habe keinen Grund, dir zu trauen, Michael.«

»Es ist ein Handel. Mein Leben gegen ihres.«

»Nein!«, schrie KC und wehrte sich wieder gegen Iblis, dieses Mal mit aller Kraft.

»Ich bin der Einzige, der dieses Ding da entschärfen kann. Und das werde ich nicht tun, solange sie hier unten ist.«

»Und wenn ich sie nicht gehen lasse?« Venue legte seinen Glatzkopf zur Seite.

»Dann fliegen wir alle in die Luft.«

»Du würdest die Frau töten, die du liebst?« Venue grinste.

»Sie werden sie sowieso töten, und Sie sind ihr Vater. Wie ich die Sache sehe, können KC und ich auf diese Weise wenigstens zusammen sterben.«

»Was für ein Blödsinn«, meinte Iblis gelangweilt.

»Stell mich lieber nicht auf die Probe«, entgegnete Michael und blitzte Iblis mit zornig funkelnden Augen an.

»Ich gehe nicht ohne dich, Michael«, sagte KC, die immer noch versuchte, sich aus Iblis’ Klammergriff zu lösen. »Jage alles in die Luft. Da ist eine Tür. Du darfst nicht zulassen, dass sie diese Tür öffnen.«

Iblis drückte das Messer so fest gegen KCs Kehle, dass sie ihre verzweifelte Gegenwehr einstellte.

Schweigen breitete sich aus. Mehrere Sekunden vergingen.

Venue sah Michael an, blickte ihm fest in die Augen. Beide versuchten einzuschätzen, wie viel Mut der andere wirklich hatte.

Schließlich blickte Venue zu Iblis hinüber und nickte, worauf Iblis von KC abließ. Sie stellte sich wieder aufrecht hin, drehte sich zu ihm um und blitzte ihn wütend an. Dann wandte sie sich wieder Michael zu und sagte: »Du kannst das nicht tun.«

»Doch.« Michael nickte. »Ich kann. Geh jetzt bitte, Busch wartet auf dich.«

»Nein, Michael«, widersprach KC, »ich bleibe hier.«

Michael starrte sie an. »Es wird Zeit, dass du gehst.«

»Nein«, antwortete KC trotzig.

»Geh!«, rief Michael und wandte ihr den Rücken zu.

»Ich werde dich nicht verlassen.« KC versuchte, die Tränen zurückzuhalten, doch sie strömten ihr trotzdem über die Wangen.

Mit tränennassen Augen sah sie Cindy an, die sie mit kühlem Blick anstarrte, ohne Mitleid und Reue, ehe sie nach der Hand ihres Vaters griff.

Michael schaute Iblis an. »Wenn KC bei meinem Freund in der Höhle ist, ohne dass ihr ein Haar gekrümmt wurde, werdet ihr eure Belohnung bekommen.« Er wandte sich Venue zu. »Von mir aus können Ihre Männer sie fesseln, um sie hier herauszuschaffen.«

Venue nickte Iblis zu, der sich sofort dem Wachhund zuwandte, der zu seiner Rechten stand. Der Mann war gut eins neunzig groß und besaß die Statur eines Holzfällers. Mit gehorsamem Blick erwartete er die Weisung seines Herrn.

»Begleite sie zurück zur Höhle. Tu ihr nichts zuleide und funk mich an, wenn ihr dort seid«, befahl Iblis.

»Der Mann wird sie dort abliefern«, gab Michael seinerseits weitere Anweisungen, »und sich auf den Rückweg machen, während ich sie weiterhin im Blick halte.«

»Von mir aus.« Venue nickte dem Wachmann zu.

Der große, bullige Mann packte KCs Arm und führte sie auf die Treppe zu.

KC versuchte, sich von ihm loszureißen. »Rühren Sie mich nicht an!«

Der Mann bog ihren Arm brutal nach hinten und presste ihn gegen ihren Rücken. Dann hob er sie mit Leichtigkeit hoch und eilte mit ihr die Treppe hinunter. Alle liefen hinterher, während KCs Schreie durch dem Tempel hallten. Sie betraten das Gotteshaus und gingen auf die Tür zu. KC trat um sich und kreischte so laut sie konnte, als der Wachhund sie aus dem Tempel trug. »Nein! Michael, bitte …«

Mit lautem Knall fiel die Tür ins Schloss. Zwei Wachhunde hoben ein langes Holzstück vom Boden, das die Form eines Kanonenrohrs hatte, klemmten es vor die Tür und sicherten sie auf diese Weise.

Michael trat neben die Tür und beobachtete durch den kleinen Fensterschlitz, wie KC sich weiterhin gegen den Mann wehrte. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er sah, wie sie ausholte und dem Mann mit Wucht einen Schlag auf die Nase versetzte.

Iblis löste sich von den anderen und gesellte sich zu Michael.

»Komm mir nicht zu nahe«, sagte Michael, ohne Iblis anzusehen.

»Entspann dich. Noch einmal werde ich nicht versuchen, dich zu ertränken.«

Inzwischen dämmerte es über dem Berg. Lange, düstere Schatten senkten sich über das Tal. Wegen der kahlen Felswände, die sich um den Tempel herum erhoben, würde die Nacht viel schneller kommen als anderswo.

»Hättest du ihr wirklich die Kehle durchgeschnitten?«, fragte Michael, dessen Blick nach wie vor auf KC ruhte, die gerade die Höhle erreichte.

Eine ganze Weile blieb es still. Iblis konzentrierte sich ebenfalls auf KC und auf das, was sich vor dem Fenster abspielte.

»Hättest du sie wirklich in die Luft gejagt?«, fragte er dann.

Michael und Iblis standen da, Seite an Seite, und beobachteten, wie KC widerwillig den Hang hinaufkletterte und im Höhleneingang verschwand. Der Wachhund drehte sich um und machte sich auf den Rückweg zum Tempel.