2.
Mit siebenundvierzig Etagen war das Wake Financial das höchste Gebäude von Amsterdam. Seit 2007 erhob es sich über der Mündung der Amstel und bot einen unverbauten Blick auf die Nordsee. Das Hochhaus stand am südlichen Rand des Altstadtviertels der niederländischen Hauptstadt, die von zahlreichen Grachten durchzogen war, denen sie ihren Beinamen verdankte: Venedig des Nordens.
Die drei obersten Stockwerke des Wake Financial gehörten der PV Group. Auf der fünfundvierzigsten Etage wurden Aktien und Edelmetalle gehandelt, auf der sechsundvierzigsten kaufte und verkaufte man Immobilien, und im siebenundvierzigsten Stock wurden die eher illegalen Geschäfte abgewickelt.
Besitzer und Präsident des Konzerns war Philippe Venue. Der Zweiundsechzigjährige saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus schwarzem Onyx, strich mit seinen dicken, rauen Händen über einen großen Briefbeschwerer und starrte dabei auf ein dunkles Ölgemälde an der Wand seines Büros. Es war über zweihundert Jahre alt und zeigte ein krankes Kind in den Armen seiner Mutter inmitten einer Horde von Göttern, die in sonnendurchfluteten Wolken gegeneinander kämpften.
Venues Büro war mehr als hundert Quadratmeter groß. Die Sitzgruppen waren aus teurem Leder. Der Konferenztisch aus Kirschholz bot sechzehn Personen Platz, und der große Kamin wurde während der kalten niederländischen Winter mit duftendem Holz befeuert. Die Bücherwände waren mit Antiquitäten dekoriert, vor allem mit byzantinischen Schnitzereien. Kostbare Renaissancegemälde und Expressionisten zierten die Wände, während antike griechische und römische Statuen auf niedrigen, geriffelten Sockeln standen. Ein Teil der Kunstwerke war über Auktionshäuser erworben worden; andere hatte Venue sich auf illegale Weise beschafft. Dabei ging er ähnlich vor wie beim Firmensammeln: bei manchen mit ehrlichen Finanztransaktionen, bei anderen mit brutaler Gewalt. Doch egal auf welche Weise die Kostbarkeiten in seinen Besitz gelangt waren – Venue inszenierte seine Stücke und brachte sie hier unter, in seiner palastartigen Bürosuite, dem Allerheiligsten eines Mannes, dessen Ruf zu einem Mythos geworden war.
Venue war eins neunzig groß und schwergewichtig. Das wenige Haar, das er noch besaß, war bereits seit seinem dreißigsten Lebensjahr grau. Sein Gesicht war breit und derb, verunziert durch eine schiefe, mehrmals gebrochene Nase und durch Narben, die er sich in seiner Jugend eingehandelt hatte – auf Straßen, die ihm eine Bildung vermittelt hatten, die man sich in Harvard oder Cambridge nicht aneignen konnte.
Venue trug einen schwarzen Nadelstreifenanzug von Armani, eine blaue Krawatte von Hermès und schwarze Lederschuhe von Gucci – seine bevorzugte Montur, wenn er Verhandlungen führen oder Leute einstellen oder feuern wollte. Er war ein Mann, der nur ein einziges Ziel verfolgte: sich selbst zu dienen. Innerhalb von fünfundzwanzig Jahren hatte er ein Vermögen von mehr als drei Milliarden Dollar angehäuft, ohne dass ihm dabei jemand zur Seite gestanden hatte. In Venues Leben gab es keinen Platz für die lächerlichen Ansprüche, die eine Familie oder Liebe stellten. In seinem Leben zählte nur das Streben nach Wohlstand und Macht.
Im Alter von achtunddreißig Jahren hatte Venue in Amsterdam eine Investmentfirma gegründet. Amsterdam war immer schon seine Lieblingsstadt gewesen, da sie in einem großartigen Land lag, in dem die Gesetze mild und die Moral locker waren. Er liebte die Grachten und die alte Architektur, die Ziegel-und Steinhäuser, von denen die idyllischen Wasserstraßen gesäumt wurden, und die vierhundert malerischen Brücken, die sie überspannten. Da Amsterdam eine der wenigen Städte war, die im Zweiten Weltkrieg von Bomben verschont geblieben waren, gab es noch eine intakte, wundervolle Altstadt, die den Übergriffen der modernen Welt trotzte.
Venue stellte Leute ein, die Experten waren in den Bereichen Aktienhandel und Immobilien- und Finanzmarkt, und er investierte sein Vermögen mit Bedacht, indem er Firmen aufkaufte, die sich fusionieren ließen. Gegenüber von seinem Schreibtisch ließ er an der Wand fünfzehn Überwachungsmonitore installieren, die Bilder von fünfzig Kameras übertrugen, die in den beiden Stockwerken darunter installiert waren, als wollte er die Produktivität jedes Angestellten persönlich im Auge behalten, wenn die Bilder über den Bildschirm huschten. Manchmal saß Venue tatsächlich stundenlang da und beobachtete das Treiben, das hysterische Geschacher, das allein zu seinem Wohl geschah. Ein Bienenvolk aus Männern und Frauen, das alles tat, um den Imker noch reicher zu machen, als er ohnehin schon war.
Die Firmen, die Venue aufkaufte, waren auf die unterschiedlichsten Sparten spezialisiert: Energiekonzerne, Textilfabriken, Pharmaunternehmen, Firmen aus der Unterhaltungsbranche. Hatte Venue seine Beute erst einmal ins Auge gefasst, ließ er nicht locker, bis er sie in den Konkurs getrieben hatte, damit sein Konzern sie schlucken konnte. Er hatte einen Verhandlungsstil, mit dem er den Willen auch des schwierigsten Verkäufers zu brechen vermochte. Während das organisierte Verbrechen darauf aus war, Drogenhandel und Prostitution zu kontrollieren, benutzte Venue vergleichbare Taktiken, um legale Unternehmen an sich zu reißen. Er unterwarf die Menschen seinem Willen, indem er ihnen Furcht einflößte und sie einschüchterte. Hin und wieder musste auch jemand sterben.
Anschuldigungen gegen Venue wurden höchstens geflüstert, und Anzeige zu erstatten wurde nicht einmal in Erwägung gezogen. Er hatte die Taschen der Beamten mit Bestechungsgeldern und ihre Herzen mit Furcht und Schrecken gefüllt. Er wurde gefürchtet wie der Teufel, und niemand glaubte, dass er aufzuhalten war.
Aber wie es im Leben nun mal ist, hatte sogar der Teufel hin und wieder einen schlechten Tag.
Die Märkte waren zusammengebrochen. Riesige Gewinne verwandelten sich in schreckliche Verluste. Die Immobilienpreise stürzten ins Uferlose und ruinierten Venues Kapital, das in hohem Maße fremdfinanziert war.
Wenn er seine Aufmerksamkeit jetzt auf die Bilder der Monitore richtete, war kaum Aktivität darauf zu sehen, sah man von einer Hand voll Händlern ab, die sich mühten, das Unternehmen zu retten, und von einer Schar Buchhalter, die damit beschäftigt waren, die Bilanzen zu frisieren, um sich die Behörden vom Hals zu halten.
Noch viel mehr als der Verlust seiner Reichtümer und seiner Macht erschütterte Venue jedoch die Tatsache, dass sie ihn gefunden hatten. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Welt erfuhr, wer er wirklich war und bis das, was von seinem fragilen Imperium noch übrig blieb, endgültig zusammenbrach.
Ein junger Mann namens Jean-Paul Ducete saß vor ihm. Er war blond und blauäugig und sehr attraktiv. Er war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und verzehrte sich danach, seinen Eltern wenigstens einen Teil von dem zurückgeben zu können, was sie geopfert hatten, um ihm seine Ausbildung zu ermöglichen. Jean-Paul hatte sein Grundstudium an der Sorbonne absolviert und seinen akademischen Abschluss an der renommierten London School of Economics erlangt, beide Male als Jahrgangsbester. Nachdem man ihn zwei Jahre zuvor wegen seiner überragenden Intelligenz und seines unersättlichen Strebens nach Erfolg eingestellt hatte, arbeitete er sieben Tage die Woche und achtzehn Stunden am Tag für Venue. Seine Wohnung, nur einen Block von der Vristed Straat entfernt, wurde ausschließlich zum Schlafen genutzt. Er nahm sämtliche Mahlzeiten während seiner Arbeitszeit ein und hatte Privatleben und Ehe auf einen späteren Zeitpunkt verlegt, um stets an seinem Arbeitsplatz sein zu können. Er verschrieb sein Leben ganz und gar Venue und dessen Visionen, denn er war sicher, dass es sich eines Tages auszahlen würde, dass er sein Glück machte und in der Lage war, seiner Familie alles mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen.
Nur ist Glück ein Wort, das vieles bedeuten kann, und Venues Glück hatte sich eine knappe halbe Stunde zuvor erschöpft. Nicht er selbst hatte den Fehler begangen, sondern ein Untergebener. Es war ein dummer Fehler, den die Aufsichtsbehörde nicht gefunden hätte und den man hätte korrigieren können, ohne dass es Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Dennoch war es ein Fehler. Und in den Augen eines Menschen wie Venue gab es keinen Platz für Fehler, sofern sie nicht von ihm selbst begangen wurde.
Venue hielt Jean-Paul eine zweistündige Strafpredigt, in der es vorwiegend um seine eigene Genialität ging, um seine Ehrbarkeit und Integrität. Dann verlangte er, dass Jean-Paul kündigte, und schickte ein entsprechendes E-Mail-Rundschreiben an die Angestellten heraus, in dem es hieß, dass Jean-Paul sie verlassen habe, um in Zukunft andere Interessen zu verfolgen.
Venue stand auf, kam um seinen Schreibtisch herum, lehnte sich dagegen, starrte auf Jean-Paul hinunter und erklärte, er wolle ihm nicht schaden, er habe nur einfach keinen Raum für irgendwelche Fehler. Er baute sich vor ihm auf wie ein Vater vor seinem Sohn und blickte den jungen Mann zutiefst enttäuscht an.
Im nächsten Moment griff er mit einer Geschwindigkeit, die außergewöhnlich war für einen Mann von zweiundsechzig Jahren, nach dem Briefbeschwerer, holte aus und schlug ihn Jean-Paul mit Wucht gegen die Schläfe und dann auf die Nase, sodass der Knochen ins Hirn getrieben wurde. Immer wieder schlug er zu. Das Blut spritzte durchs Zimmer. Jean-Paul versuchte sich abzudrehen, doch es war sinnlos. Er taumelte von seinem Stuhl. Venue warf sich auf ihn und schlug auf seinen Schädel ein, bis das Gesicht des Mannes nicht mehr zu erkennen war. Die blauen Augen waren zugeschwollen, das blonde Haar blutdurchtränkt.
Schließlich stand Venue auf, zog sich in sein privates Badezimmer zurück und duschte. Anschließend zog er sich ein Paar Leinenhosen an, eine grüne Sportjacke und Laufschuhe aus Krokoleder. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch und achtete dabei darauf, nur ja einen weiten Bogen um Jean-Pauls blutigen Leichnam zu machen, denn er wollte sich seine sauberen Sachen und Schuhe nicht schmutzig machen. Noch einmal las er sein E-Mail-Rundschreiben durch, in dem es hieß, dass Jean-Paul gekündigt und die Firma verlassen habe, und drückte auf »Abschicken«.
Das Telefon auf Venues Schreibtisch läutete. Er schaltete den Lautsprecher ein und wurde von einer Stimme begrüßt, die von atmosphärischen Störungen begleitet wurde. »Venue?«
»Ja«, erwiderte der Geschäftsmann und machte es sich auf seinem Stuhl bequem.
»Barabas ist tot«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass für seine neuesten Gefangenen nicht das Gleiche gilt?«
»Sie sind verschwunden«, erklärte der Mann, als verkündete er den Tod eines Familienangehörigen.
»Das hat man davon, wenn man Dinge korrupten Gefängnisdirektoren anvertraut.« Venue bemühte sich, seine Wut im Zaum zu halten. »Was für eine Geldverschwendung!«
»He, Barabas war einer Ihrer Leute«, parierte der Mann. »Er hat nach Ihrer Pfeife getanzt, nicht nach meiner.«
»Wenn wir sie hier getötet, oder wenigstens die Polizei eingeschaltet hätten, wie ich von Anfang an gesagt habe …«
»… hätte man sie in Amsterdam umgebracht und ihre Leichen zu Ihnen zurückverfolgt, und dann hätte man ihnen den Prozess gemacht, und es wäre herausgekommen, was sie gestohlen hatten. Denken Sie mal darüber nach.«
»Bilde dir ja nicht ein, dir wäre kein Vorwurf zu machen«, sagte Venue.
»Es sieht so aus«, gab der Mann zurück, »als müsste ich immer häufiger den Dreck für Sie beseitigen.«
»Und das wirst du auch weiterhin tun, bis ich dir etwas anderes sage«, brüllte Venue und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, was den Mann zum Schweigen brachte. »Wie konnten die überhaupt wissen, dass wir den Brief hatten? Woher wussten sie, dass er in meinem Büro war? Was geht da vor? Das Mädchen und ein Priester? Verdammt! Du weißt, wie ich dazu stehe.«
Der Mann am anderen Ende schwieg weiter. Nur seine regelmäßigen Atemzüge waren zu vernehmen.
Venue schwieg ebenfalls einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. »Da wir gerade beim Dreckwegmachen sind«, sagte er dann. »Ich weiß, dass du ein paar Tausend Kilometer weit weg bist, aber du musst mir jemanden in mein Büro schicken, um eine Entsorgung vorzunehmen.« Er blickte auf Jean-Paul, der auf dem Boden in einer Lache seines eigenen Blutes lag. »Würde es dir etwas ausmachen, mir zu sagen, wohin diese Leute geflüchtet sind? Wohin sie unterwegs sind?«
»Was meinen Sie wohl? Die kommen hierher.«
»Ich dachte, die hätten den Brief nicht.«
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte der Mann. »Wir haben eine Kopie. Ich dachte, es würde Ihnen nichts ausmachen, wenn sie das Original bekämen.«
»Weil ich der Meinung war, sie würden das Gefängnis nicht überleben. Und dass sie nicht versuchen würden, uns zuvorzukommen.«
»Ich habe beide persönlich durchsucht. Sie hatten den Brief nicht.«
»Die sind eben cleverer als du.«
»Cleverer?« Ein Hauch von Wut schwang in der Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung.
»Ja, cleverer. Sie haben den Brief und werden ihn zu nutzen wissen.« Venue spürte, wie heißer Zorn ihn erfasste; fest umklammerte er mit der Hand den Briefbeschwerer. »Was hast du eigentlich die ganze Zeit getrieben? Schon vor zwei Wochen habe ich dir die Kopie des Briefes gegeben. Da hast du behauptet, das Ganze sei gar kein Problem und dass du mir besorgen könntest, was ich haben will.«
»Man darf diese Dinge nicht überstürzen. Das dauert seine Zeit.«
»Zeit ist ein Luxus, den du nicht mehr hast. Du musst die Karte stehlen, bevor sie es tun.«
»Entspannen Sie sich, ich habe einen Plan.«
»Und wie sieht der aus?«
»Das spielt keine Rolle«, erwiderte der Mann und versuchte, den Fortgang der Unterhaltung selbst zu bestimmen. »Vertrauen Sie mir einfach.«
Venue schaute auf die Bildschirme an der gegenüberliegenden Wand, die leere Büros zeigten, und fragte sich, wie es kam, dass ihm alles entglitt. »Es kümmert mich einen Dreck, was du tun musst! Er ist mir gleich, wer lebt oder stirbt. Töte den Priester, töte das Mädchen, wenn es sein muss, es ist mir scheißegal. Ich brauche diese Karte. Meine Welt stürzt zusammen. Und wenn meine Welt zerbricht, gilt das auch für deine.«