62.
Venue betrat die Kammer, die von einer Fackel erleuchtet wurde. Der Schatz funkelte und gleißte im Schein der Flamme. Breiter hätte Venue gar nicht grinsen können. Er ging zu einem der Schatzhaufen und vergrub beide Hände darin: Juwelen, Münzen, heilige Kreuze, Utensilien jeder Art. Er nahm einen mit Edelsteinen besetzten Kelch aus Gold heraus, betrachtete ihn ganz genau und bewunderte seine kunstvolle Verarbeitung und seine Schönheit. Dann blickte er auf die anderen Berge aus Kleinodien, die sich in meterhohen Stapeln überall auf dem Fußboden türmten. Es war eine ganze Schiffsladung. Er lief um die Kostbarkeiten herum wie ein Mann, der flüchtig durchrechnet, welchen Wert die Beute besitzt, die er gerade gemacht hat. Als er die Drei-Milliarden-Euro-Marke erreichte, hörte er auf.
Dann fiel sein Blick auf die Leichen. Venue hockte sich vor die sterblichen Überreste eines Korsaren, dessen langes Haar wie ein Spinnennetz aussah, das über einem vergilbten, wächsernen Schädel lag. Die Hände des Skeletts umklammerten einen langen Säbel, dessen scharfe Klinge von schwarzem Blut verkrustet war. Ein Dolch steckte in der knöchernen Brust des Toten. Der Griff war mit Leder umwickelt, der Knauf mit Smaragden besetzt. Venue griff danach und riss ihn heraus, worauf der Brustkasten des Mannes zu einem Häufchen morscher Knochensplitter zerbröselte. Venue untersuchte die Klinge ganz genau, bewunderte ihre Symmetrie und staunte, dass sie nach so langer Zeit immer noch scharf war. Er fragte sich, wer der Mann war, der vor ihm lag. War es vielleicht Kemal Reis? Oder war es bloß einer seiner vielen Untergebenen, die ihn auf eine endlose Reise über Flüsse und durch unbekannte Gefilde begleitet hatten, um schließlich einen Berg zu erklimmen und den Ort zu finden, an dem sie sterben würden?
Als Venue auf die Unmengen kostbarer Schätze blickte, staunte er, dass Kemal und seine Männer dies alles durch die enge Höhle auf den Berg geschleppt hatten – ein Unternehmen, das mindestens neun Monate gedauert und aus Segeln, Klettern, dem Schleppen schwerer Lasten und nichts als Erschöpfung bestanden hatte.
Endlich wandte Venue sich den vielen Büchern und Schriftrollen zu, den wahren Objekten seiner Begierde. Er ging so andächtig auf sie zu, als würde er den Himmel betreten. Sie waren auf dem Boden aufgestapelt. Da waren Steintafeln, in die eine Sprache gemeißelt war, die Venue nicht erkennen konnte; da waren Schriftrollen und Pergamente in Chinesisch und Tierhäute in Aramäisch. Es war eine Sammlung aus Schriften und Gebeten, aus Einblicken in und Berichten über die Urgestalten der Finsternis, das Böse, das bereits vor Anbeginn der Welt Bestandteil des Lebens gewesen war. Da waren Landkarten, die zu verschollenen Rissen in der Erde führten und zu jenem Ort, an dem sich wirklich und wahrhaftig der Garten Eden befand, und zur Axis Mundi, die nicht nur in den Himmel, sondern auch in die Hölle führte.
In seiner Zeit im Priesterseminar hatte er über diesen Literaturschatz gelesen. Aleister Crowley, Heinrich Himmler und Rudolph Hess hatten danach gesucht, obwohl man stets behauptet hatte, die Existenz dieser Schriften sei bloß ein Gerücht, das dem verwirrten Geist eines Irrsinnigen entsprungen sei. Als Venue jetzt daraufblickte und mit eigenen Augen sah, dass sie vor ihm lagen, lächelte er. Er hatte den Funken Wahrheit gefunden, der jedem Gerücht und jedem Mythos innewohnte, mochte dieser Funke noch so winzig sein.
Venue nahm eines der Bücher in die Hand. Es war in Latein geschrieben, einer Sprache, mit der er dank seiner Zeit als Priester bestens vertraut war. Der Einband war aus Menschenhaut gefertigt – eine Methode, derer man sich vor Jahrhunderten recht häufig bedient hatte. Viele Bücher über berüchtigte Menschen waren in die eigene Haut der jeweiligen Person gebunden worden. Unter der Bezeichnung »Anthropodermische Einbände« fanden sich solche Bücher in vielen Bibliotheken, unter anderem in denen einiger Eliteuniversitäten der USA. Oft hörte man Geschichten darüber, dass die gespenstischen Gesichtszüge der einstigen Besitzer der Haut auf dem gegerbten, vergilbten Einband erschienen, weil ihre Seelen darunter gefangen waren.
Das Werk, das Venue gerade in der Hand hielt, hatte im Jahre 1511 ein exkommunizierter Priester namens Jacarlo Jabad geschrieben; es handelte sich um eine wissenschaftliche Abhandlung über das Böse, gefallene Engel und die Unterdrückung aller Dinge, die unvereinbar waren mit den Lehren der römischen Kirche. Es hieß, dass Jabad in dem Werk über seine persönlichen Begegnungen mit der Unterwelt berichtete, und zwar auf die gleiche Art und Weise, wie gläubige Menschen von Wundern erzählten. Dass man das Buch in die Haut des Priesters gebunden hatte, war auf seinen eigenen Wunsch hin geschehen. Und damit war es, wie Venue fand, genau das richtige Buch, um mit dem Lesen zu beginnen.
Er schaute sich in der Kammer um, die mit Reichtümern gefüllt war, deren Wert weit über das hinausging, was er früher besessen hatte, doch der materielle Wert dieser Dinge war nichts verglichen mit dem historischen Wert und dem Wert der Informationen, die sie enthielten.
Venue setzte sich in den warmen Schein des Fackellichts. Behutsam öffnete er den Einband aus vergilbter Menschenhaut und begann zu lesen.
***
Bendi und Thut standen mit dem Rücken zueinander im Türrahmen. Der eine schaute in die Kammer hinein, der andere in Richtung des höhlenartigen Gangs. Beide hielten ihre Waffen im Anschlag und bewachten Venue, wie man es ihnen aufgetragen hatte.
Sie hatten die Kammer mit dem Gold nach Michael durchsucht, doch es war äußerst schwierig gewesen, sich angesichts der gewaltigen Reichtümer zu konzentrieren. Sie hatten keine Spur von Michael oder Silviu gefunden und gingen deshalb davon aus, dass sie irgendwo draußen in der im Dunkel liegenden Höhle waren. Deshalb warteten sie jetzt auf Gianni und Karl.
Keiner wusste Genaueres über Bendi und Thut, nicht einmal, woher sie kamen, welche Staatsangehörigkeit sie hatten und wie sie mit Nachnamen hießen. Es war nur bekannt, dass sie Brüder waren. Doch nicht einmal diese eine Information entsprach der Wahrheit. Sie kamen aus Spanien und waren seit ihrem fünften Lebensjahr Freunde. Als sie dreizehn oder vierzehn waren, hatten sie sich aus einer Laune heraus als Brüder ausgegeben. Thut verschrieb sich früh der Kunst des Diebstahls, und Bendi schloss sich ihm an. So zogen sie gemeinsam durch Europa. Sie hatten bisher nur selten Aufträge von Iblis angenommen, aber das Angebot, fünfzigtausend Dollar zu verdienen, indem sie für ein paar Tage nach Indien reisten, war zu verlockend gewesen. So brauchten sie die nächsten sechs Monate nicht mehr zu arbeiten und konnten sich endlich einen Urlaub gönnen; durch kleine Taschendiebstähle und Raubüberfälle würden sie die Urlaubskasse aufbessern. Es würde eine nette Abwechslung sein, in der warmen Sonne im Sand zu liegen, nachdem sie durch die bittere Kälte gestapft und an diesem finsteren Ort geendet waren.
Aber zu diesem Urlaub sollte es niemals kommen.
Die Kugeln trafen sie ohne Vorwarnung. Die beiden »Brüder« wurden in die Kammer hineingestoßen, und das Blut, das aus ihren durchsiebten Köpfen schoss, ergoss sich über den Schatz.
Sie bekamen nicht mehr mit, dass Michael sich ihnen näherte.
***
Michael betrat die Kammer und drückte den Kolben der MP7 fest gegen seine Wange. Der Lauf der Waffe rauchte noch. Im nächsten Moment senkte er das Gewehr, denn Venue war in ein Buch vertieft und saß unter dem Lichtschein einer einsam brennenden Fackel. Auf die gewaltsamen Todesfälle, die sich vor wenigen Augenblicken unmittelbar hinter seinem Rücken ereignet hatten, hatte er gar nicht reagiert. Ebenso wenig reagierte er jetzt darauf, dass Michael die Kammer betrat.
Michael zog seine Taschenlampe hervor und leuchtete damit durch den Raum, vergewisserte sich, dass sonst niemand zugegen war, knipste die Lampe wieder aus und klemmte sie an seinen Gürtel.
»Nirgendwo ließen sich so viel Gold und so viele Juwelen besser verstecken als bei den Dämonen dieser Welt«, sagte Venue, ohne sich zu rühren und ohne Michael anzuschauen. »Und die Bücher und Schriftrollen, die Geheimnisse der Menschheit, die Geheimnisse von Göttern und Dämonen … Nirgendwo ließen sie sich besser verstecken als in der Hölle.«
Michael blickte auf die Stapel von Schriftrollen, Büchern und Pergamenten, die so lange Zeit überdauert hatten.
»Das alles wegen ein paar Büchern?«
Venue klappte Jabads Abhandlung behutsam zu, drehte sich aber nicht zu Michael um. »Hier geht es um sehr viel mehr, als du mit deinem schwachsinnigen Verstand je erfassen könntest.«
»Wissen Sie, wenn einem jemand eine Waffe an den Kopf hält – besonders, wenn es sich dabei um jemanden handelt, der allen Grund hat, einen umzubringen –, sollte man bei der Wahl seiner Worte etwas vorsichtiger sein.«
Venue drehte sich um und erhob sich zu voller Größe. »Weißt du, was Furcht ist?«
»Ja, sogar ziemlich gut. Aber ich glaube nicht, dass Sie sich schon mal richtig gefürchtet haben.«
»Glaubst du an Gott, Michael?«, fragte Venue.
»Mehr, als Ihnen bewusst ist.« Michael nickte voller Selbstvertrauen, denn er hatte die Oberhand, weil er seine Waffe auf den Mann richtete.
»Die Menschen verehren ihn in den verschiedensten Erscheinungsformen: Jesus, Jahwe, Allah, Buddha, Vishnu. Die Menschen verehren ihn und stellen ihn auf ein Podest, auf dem sie ihn anbeten können. Und doch wollen wir uns hier auf Erden von sämtlichen Herrschern befreien. Wir streben nach der Freiheit, unseren eigenen Weg gehen zu können. Die Tage der absoluten Monarchien und der Diktatoren sind nur noch eine Erinnerung. Wir lehnen uns auf gegen die Obrigkeit und dagegen, dass man uns sagen will, was wir zu tun haben. Überall, nur nicht in der Kirche. ›Folge dem vorschriftsmäßigen Weg, den Menschen für dich niedergeschrieben haben, und du wirst belohnt werden mit der warmen Umarmung des Herrn, in dessen Gegenwart du eine friedliche Ewigkeit damit verbringen wirst, ihn weiter anbeten zu dürfen.‹
Da draußen gibt es aber noch andere Dinge, Michael. Der Mensch verschließt seinen Geist vor diesen Dingen. Er hat Angst vor dem, was er nicht versteht. Es gibt Alternativen zu Gott. Diese Bücher wurden versteckt, um diese Wahrheit zu vertuschen. Um zu vertuschen, was in der Dunkelheit verborgen liegt. Um zu vertuschen, was in unser aller Unterbewusstsein schlummert. Wer sind diese Mönche, die diesen Ort bewachen, dass sie das Recht haben zu entscheiden, was die Menschen wissen dürfen und was nicht?«
»Und Sie sind würdig, diese Entscheidung im Namen der Welt zu treffen?«, spottete Michael.
»Ich werde der Lehrmeister sein. Ich werde eine Quelle des Wissens sein für die Neugierigen, die erfahren wollen, was sich jenseits der Finsternis befindet, hinter den versteckten Türen. Es ist höchste Zeit.«
»Ein zwar unredlicher, aber wohltätiger Akt? Ihnen muss mal jemand kräftig ins Hirn geschissen haben.«
»Weißt du, was für ein Ort das hier ist? Weißt du, was sich über uns befindet? Das ist Shambhala, Michael. Hier läuft alles zusammen.«
»Das ist ein Name, den Menschen sich ausgedacht haben. Ein Ideal, ein buddhistischer Mythos.«
»Den du selbst jetzt noch bestreitest, nachdem du ihn mit eigenen Augen gesehen hast und auf seinem Grund und Boden stehst?«
»Das reicht jetzt.« Michael schwenkte das Gewehr in Venues Richtung und bedeutete ihm, die Kammer zu verlassen. »Sie sind der letzte Mensch auf Erden, der versuchen sollte, mich von irgendetwas zu überzeugen.«
»Du kannst es nennen, wie du willst.«
Venue legte Jabads Buch nieder und ging quer durch den Raum, vorüber an den Bergen aus Gold und hinaus in den Gang. Michael lief nur wenige Schritte hinter ihm und hielt die Waffe dabei genau auf den Hinterkopf des Mannes.
»Du hast die Kostbarkeiten hier gesehen und …«
»Die Sie stehlen wollten.«
»Das streite ich nicht ab, aber was ist all der Reichtum wert? Was sind alles Wissen und alle Macht wert, wenn man tot ist?« Venue hielt einen Moment inne. »Du begreifst es immer noch nicht, stimmt’s?«
Michael behielt Venue im Visier. Sie verließen die Kammer und gingen auf die Treppe zu, den einzigen Weg, der aus dieser unterirdischen Welt hinausführte.
»Du hast die Menschen nicht gesehen, die hier leben und den Ort hier besuchen. Sie altern nicht. Und von all ihrem Wissen und all den Jahren philosophischen Austauschs hat die Welt nicht die leiseste Ahnung. Von diesem Berg aus könnte man die Welt regieren.«
Michael grinste über das ganze Gesicht. »Hören Sie sich eigentlich selbst gern reden?«
Sie erreichten die felsige Wendeltreppe, die aus der Höhle nach oben führte, und blieben davor stehen.
»Sie haben KC in den Tod geschickt, Sie Hurensohn. Sie haben sie ins Gefängnis gesteckt, damit man sie dort hinrichtet, obwohl Sie wussten, dass sie Ihre Tochter ist. Ein Mann wie Sie ist nicht einmal fähig, sich selbst zu regieren. Bewegen Sie Ihren Hintern«, sagte Michael und fuchtelte dabei mit seiner Waffe vor Venue herum.
Venue rührte sich nicht von der Stelle. »Wenn du mich töten willst, dann tu es jetzt«, sagte er. »Denn wenn du es nicht tust, begehst du einen Fehler, den du für den Rest deines nur noch sehr kurzen Lebens bereuen wirst.«
»Sie sind mein Ticket in die Freiheit. Ein besserer Vergleich fällt mir auf die Schnelle nicht ein.«
»Glaubst du ernsthaft, dass du dich irgendwo auf der Welt so gut verstecken kannst, dass ich mich nicht in dein Leben einmischen und es zerstören kann? Dass ich alles zerstören kann, an dem dir etwas liegt?« Hass loderte in Venues Augen, als er auf Michael hinunterblickte. »Glaubst du ernsthaft, ich würde KC am Leben lassen, wo ich jetzt weiß, wie viel sie dir bedeutet?«
Michael lächelte.
»Was ist denn so lustig?«, fauchte Venue.
»Ich habe gesagt, dass Sie mein Ticket sind, aus diesem Tempel herauszukommen. Ich habe aber nie behauptet, dass ich Sie am Leben lasse.«
Venue stellte den Fuß auf die unterste Treppenstufe, blieb aber gleich wieder stehen.
»Schluss jetzt mit dem Gerede. Sonst erschieße ich Sie gleich hier.«
»Das wäre keine gute Idee«, sagte eine Stimme von der Treppe her.
Michael warf sich auf den Boden und suchte Deckung, hielt die Waffe dabei mit beiden Händen und zielte auf die im Dunkeln liegende Wendeltreppe.
»Das wäre sogar eine noch schlechtere Idee«, meinte die Stimme daraufhin. »Du willst doch sicher nicht KC erschießen, oder?«
Zwei Gewehrläufe blitzten auf der im Dunkel liegenden Treppe auf. Beide waren auf Michael gerichtet. Die beiden Wachhunde kamen die letzten Stufen hinunter, bereit zu schießen. Sie warteten nur noch auf den Befehl ihres Herrn. Iblis kam hinter ihnen die Treppe hinunter, KC ging neben ihm. Er nickte Venue zu, als er an ihm vorüberging.
Iblis’ Gesichtszüge zeigten keinerlei Regung, als er KC bei den Schultern packte und sie in Michaels Richtung drehte.
KC und Michael schauten einander an. Schmerz und Bedauern lag in ihren Blicken.
Die beiden Wachhunde rissen Michael die Waffe aus der Hand, drehten ihn herum, fesselten seine Handgelenke mit Kabeln und schoben ihn zurück in die Kammer, in der das Gold und die Bücher sich stapelten. Die anderen folgten ihnen.
»Seinetwegen bist du zurückgekommen?« Venue blickte KC an und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Warum? Wegen etwas Romantischem wie die Liebe? Was für eine Verschwendung.« Venue richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Michael. »Ich habe es dir ja gesagt: Du hättest mich töten sollen, als du Gelegenheit dazu hattest.«
Im nächsten Moment hob Venue den Fuß, trat Michael brutal in den Rücken und schleuderte ihn zu Boden. »Also gut. Wen von euch beiden bringen wir zuerst um? Und wer zieht das große Los und darf zuschauen?«