41.

Durch das Flugzeugfenster beobachtete KC, wie die Sonne aufging und ihre Strahlen die üppigen grünen Wälder unter ihnen in roten Glanz tauchten. Im Norden konnte sie die Gipfel des Himalaja sehen, sodass sie wusste, dass sie irgendwo über Indien waren. Niemand hatte geklopft, niemand war seit ihrem Abflug in die Kabine gekommen. KC wusste, dass sich sowohl Cindy als auch Iblis auf der anderen Seite der Tür aufhielten; sie wusste aber auch, warum man sie allein gelassen hatte: Den beiden war klar, dass sich KCs ganzer Zorn gegen sie richten würde, sobald sie ihr in den Weg traten.

Die Maschine begann mit dem Landeanflug. Zwanzig Minuten später setzte sie auf einem kleinen privaten Rollfeld auf, das gefährlich am Hang eines Steilhügels lag, von dem zu beiden Seiten Schluchten abfielen. Auf dem Hügel selbst standen dichte Laubbäume auf sattgrünem Gras. In der Ferne, höchstens sechzig Kilometer weiter nördlich, konnte KC einen Berg sehen, der höher war als alles, was sie je zuvor gesehen hatte, und dessen schneebedeckte Gipfel von kristallblauem Himmel umkränzt wurden.

Der Jet rollte, bis er am anderen Ende der Asphaltbahn zum Stehen kam. KC konnte hören, dass in der Kabine Bewegung entstand. Dann wurden die Motoren heruntergefahren, und die Haupttür des Flugzeugs öffnete sich mit einem zischenden Laut. KC saß da und wartete, dass die Tür zu ihrer Kabine geöffnet wurde, doch niemand kam. Sie blickte aus dem Fenster und sah, wie Iblis und Cindy die Gangway hinunterliefen, gefolgt von sieben von Iblis’ Männern.

Das geschäftige Treiben endete, und es wurde totenstill in der Maschine. KC hatte bestimmt schon eine halbe Stunde gewartet, als endlich einer von Iblis’ Männern die Tür öffnete. Er war nicht bewaffnet, sprach kein Wort und ging sofort wieder. KC folgte ihm aus dem Flugzeug und hinein in den kalten Morgen. Die Lufttemperatur betrug bestenfalls zehn Grad Celsius an diesem Sommertag, was den Beweis lieferte, dass sie sich mehrere tausend Meter über dem Meeresspiegel befanden.

Sie standen inmitten wogender Hügel aus dichten Gräsern, üppigen Sträuchern, gewaltigen Bäumen und sattem Grün, das die verschiedensten Farbschattierungen aufwies. Abgesehen von dem provisorischen Flugplatz gab es keine Spur von Zivilisation. Keine Ortschaften, keine Straßen, keine Flugzeuge über ihnen. Es war eine zeitlose Welt, die erfüllt war von einer Atmosphäre des Friedens.

KC folgte dem Mann zu einer Hütte, die aus Holz und Blech gebaut und mit einem schwammartigen grünen Moos gedeckt war. Aus dem windschiefen Dach ragte ein Ofenrohr, aus dem hellgraue Rauchwölkchen stiegen, die sich in der kühlen Morgenluft auflösten.

Iblis’ Wachhund sagte kein Wort und öffnete die Tür. KC spähte hinein in den Schuppen und sah eine alte Frau vor der Feuerstelle knien. Sie trug eine dunkelrote Weste über einem weiten orangefarbenen Kleid und schwere Stiefel. Ihr dunkles Haar war hinten zusammengebunden und legte ihr tief gebräuntes Gesicht frei, das ein Lächeln zierte, durch das sich die Haut um ihre Augen herum in Falten legte. Essensdüfte erfüllten die Luft, denn die Frau hantierte mit mehreren Töpfen und Pfannen, in denen Eier, Eintopf und Fleisch brutzelten.

Sie nickte zur Begrüßung, gab das Essen auf Blechteller, füllte verbeulte Becher mit Kaffee und nahm Gewürze und Bestecke von einem Regal.

Als KCs Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah sie den großen, grob gezimmerten Tisch, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Darauf lag der asiatische Teil der Piri-Reis-Karte – das, worauf sich die gesamte Aufmerksamkeit der drei Personen richtete, die davorstanden. Die drei drehten sie sich um, als KC eintrat, und blickten sie an. KC wurde so wütend wie in ihrem ganzen Leben noch nicht. Ihre Schwester stand bei Iblis, ihrem Todfeind. Beide schauten KC mit ausdruckslosen Augen an, und beide sprachen kein Wort, waren ganz und gar dem Mann ergeben, der zwischen ihnen stand.

KC nahm den älteren Mann genauer ins Visier. In der Nacht in seinem Büro hatte sie ihn nur ganz kurz im Vorübergehen aus den Augenwinkeln gesehen. Er war groß, mindestens eins neunzig, und das wenige Haar, das er noch besaß, war längst ergraut. Er war gekleidet, als wäre er gerade einer alten Safari-Broschüre entsprungen: Er trug khakifarbene Hosen und über einem dicken Holzfällerhemd eine Weste aus Leder und Schafspelz, alles brandneu. Zweifellos war er ein Mann, der glaubte, er könne sich mit seinem Geld den Weg auf einen hohen Berggipfel erkaufen.

Als er einen Schritt auf KC zutrat, wurde ihr schlagartig übel, denn mit einem Mal sah sie die Ähnlichkeit. Sie hatte seine Augen, die gleichen hohen Wangenknochen. Der Mann stand gelassen da und betrachtete sie voller Selbstbewusstsein. Er besaß eine Ausstrahlung, die den gesamten Raum füllte und Cindy und Iblis zu Statisten degradierte, doch KC ging darüber hinweg.

»Du bist größer, als ich dachte«, sagte Venue und kam noch näher, unangenehm nah, beäugte KC wie einen Gegenstand, den er kaufen wollte.

KC starrte ihm in die Augen, die ihren eigenen so erschreckend ähnlich waren.

»Wesentlich hübscher als deine Schwester«, sagte er, und das war keineswegs ein Kompliment, sondern lediglich die Feststellung einer Tatsache. »Wie wär’s mit einem kleinen Familienausflug?«

»Ich werde nirgendwo mit Ihnen hingehen«, zischte KC durch die Zähne.

Venue starrte sie an. Zorn funkelte in seinen Augen; er war es nicht gewöhnt, dass jemand ihm nicht gehorchte. Langsam hob er die Arme, streckte sie zur Seite und umarmte KC, was diese allerdings nicht erwiderte. Dann legte der Mann seinen Kopf zur Seite und berührte ihre Wange mit seiner. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr. »Und ob du das wirst, meine Liebe«, sagte er.

Venue ließ KC los und trat zurück an den Tisch. Die drei konzentrierten sich wieder ganz und gar auf die Karte.

KC stand da, schockiert von der Überheblichkeit dieses Mannes. Sie hatte Mühe, ihre Gefühle im Zaum zu halten. »Du hast mich in den Tod geschickt«, sagte sie trotzig.

»Ja«, erwiderte Venue, ohne von der Karte aufzusehen. »Aber warum kommst du nicht her und gesellst dich zu deiner Schwester und mir, damit wir uns gemeinsam ansehen können, wohin wir gehen?«

KC ignorierte die Aufforderung und die Vermessenheit des Mannes und schaute Iblis an. Dabei sah sie etwas, was sie noch nie zuvor gesehen hatte. KC kannte den Mann seit vielen Jahren, hatte miterlebt, wie er menschliches Leben missachtete, wie gelassen er blieb im Angesicht einer Gefahr. Er konnte einen Menschen auf dreißig verschiedene Arten töten, und doch entdeckte sie jetzt etwas an Iblis, was sie nie erwartet hätte: Furcht. Venue flößte ihm Furcht ein, wie er neben ihm stand.

Cindy hingegen war fasziniert von Venue. Sogar ein Hauch von Stolz lag in ihrem Blick, als sie ihn anschaute. Als er ihre naive Bewunderung sah, streichelte Venue ihr liebevoll über den Rücken, rang sich ein Lächeln ab und zog sie dadurch noch mehr in seinen Bann.

Angewidert wandte KC sich ab und sah die beiden Lederrollen, die an der Wand der Bruchbude lehnten. Sie griff nach der ersten, hob sie auf und öffnete den Deckelverschluss. Die Rolle war leer; was sie enthalten hatte, wurde zurzeit auf dem Holztisch von Venue genauestens studiert. KC ergriff die zweite Rolle und wollte den Deckel heben, hielt dann aber inne, denn sie erinnerte sich an die Wirkung, die der Stab auf sie gehabt hatte, als sie ihn aus dem Sarkophag genommen hatte.

»Ehre, wem Ehre gebührt«, sagte Venue und schaute dabei auf die Rolle in KCs Hand. »Iblis hat dich zwar gut ausgebildet, aber du hast all meine Erwartungen übertroffen. Als ich ihn damals losgeschickt habe, damit er auf dich aufpasst und dir beibringt, wie man auf der Straße überlebt, ging ich davon aus, dass deine Karriere als Kriminelle nur von kurzer Dauer sein würde. Wer hätte gedacht, dass sie sich zu einer lebenslangen Berufung entwickelt? Du …« Venue warf Cindy einen raschen Blick zu. »Tut mir leid, meine Liebe. Du, KC, du bist ganz meine Tochter.«

KC schenkte Venue keinerlei Beachtung, und seine lobenden Worte fielen bei ihr auf taube Ohren. Sie schaute in die Röhre und auf die beiden ineinander verschlungenen Schlangen, auf ihre Silberzähne und Rubinaugen. Dabei dachte sie, dass diese Zwillingsschlangen im Grunde wie Iblis und Venue waren. Sie zog den Stab zur Hälfte heraus, blickte auf die blutroten Rubinaugen, mit denen die Schlangen einander anblitzten, schaute auf die weit aufgerissenen Mäuler, mit denen sie einander drohten, und fragte sich, wie jemand auf die Idee gekommen war, ein derart abscheuliches Kunstwerk zu schaffen.

»Ist dir eigentlich klar, was du da in der Hand hältst?« Venue wartete nicht auf ihre Antwort. »Was du gestohlen hast, ist der Schlüssel zu einer Welt, die nur ganz wenige je mit eigenen Augen gesehen haben. Es ist die Antwort, nach der ich dreißig Jahre lang gesucht habe.«

KC grinste nur. Der Stab hatte nicht die geringste Wirkung auf sie: Sie verlor nicht das Gleichgewicht, nichts drehte sich vor ihren Augen, und ihr wurde nicht übel. Der Stab hatte nicht den desorientierenden Effekt, der ihr so zu schaffen gemacht hatte, als sie ihn aus dem Sarkophag des Sultans gestohlen hatte. Und sie wusste, warum. Michael war noch viel erfinderischer, als sie gedacht hatte, und besaß die seltene Gabe, weit vorauszudenken. Ihr wurde bewusst, dass der Hermesstab, den sie in den Händen hielt, in Wahrheit eine Imitation war.

Dass sie innerlich schallend lachte, wärmte KC die Seele, denn als sie auf Iblis, Cindy und Venue schaute, der vor seiner Karte stand und sich voller Hochmut und Selbstherrlichkeit auf die eigene Schulter klopfte, da wusste sie, dass sie es möglicherweise auf den Berg hinauf schaffen würden, dass die Karte sie vielleicht zu dem Ort führte, nach dem Venue gesucht hatte. Doch ohne den echten Stab würde er diesen Ort niemals betreten.

***

Der Boeing Business Jet erhob sich mit dröhnenden Motoren über Istanbul und machte sich auf den Weg, den asiatischen Kontinent zu überqueren. Michael und Busch hatten in aller Eile zusammengepackt, ihre Ausrüstung und ihre Waffen sortiert und sie in die drei großen Reisetaschen gepackt, die sie dann in dem Lagerraum im Bauch des Jets versteckt hatten.

»Hast du irgendeine Vorstellung, wohin wir fliegen, und worauf wir uns einlassen?«, fragte Busch.

»Was den ersten Teil der Frage angeht, nein, aber ich weiß, worauf wir uns einlassen.«

»Man klettert im August nicht im Himalaja herum, es sei denn, man hat Todessehnsucht«, sagte Busch, weil Michael ihn wütend anblitzte. »Ich sag ja nur …«

»Wir klettern ja nicht auf den Gipfel. Für unseren Weg brauchen wir nicht einmal künstlichen Sauerstoff oder nennenswerte Vorräte.«

»Du hast doch gerade gesagt, du wüsstest nicht, wohin wir gehen.«

»Nicht genau. Wir werden der Karte folgen. Was aber noch wichtiger ist: Wir werden ihnen folgen.« Michael zeigte auf das Navigationsgerät, das Busch in der Hand hielt. »Ich habe Iblis die Drecksarbeit abgenommen, jetzt kann er sich revanchieren und mir den Weg zeigen.«

Busch schaute auf den Bildschirm des Navigationsgeräts. Die beiden roten Punkte waren miteinander verschmolzen und sahen jetzt aus wie einer. Die Transportrolle, in der die Karte steckte, und die Transportrolle mit dem Imitations-Caduceus bewegten sich wieder, verließen die indische Stadt Darjeeling in Richtung Norden.