42.

Die vier gewaltigen Rotoren durchschnitten die Luft und erzeugten einen orkanartigen Wind, der wie ein gewaltiges Laubgebläse das Rollfeld von sämtlichen Blättern und Zweigen befreite. Langsam hob der HAL DHRUV Mehrzweckhubschrauber ab.

Die siebzehn Passagiere saßen stumm da, als der hellbraune Helikopter aus dem indischen Bangalore in den Spätvormittagshimmel stieg. Dicht an dicht kauerten sie nebeneinander wie Soldaten, die zu einem Einsatz geflogen wurden, auf zwei langen Lederbänken, die vor den Metallwänden des spartanisch ausgestatteten Hubschraubers installiert waren. Außer Venue, Iblis, KC und Cindy waren elf furchteinflößende Wachhunde an Bord, Iblis’ Männer. Sie hatten verschiedene Nationalitäten, eine Mischung aus militärischer und krimineller Berufserfahrung, und stammten aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt. Das Einzige, was sie einte, war die Tatsache, dass sie alle Englisch sprachen. Sie waren nicht nur hart und erprobt in der Kunst des Mordens, überdies besaßen sie eine Qualität, die man sich nicht aneignen konnte: Jeder Einzelne war Iblis gegenüber hundertprozentig loyal, betrachtete ihn entweder als seinen »Führer« oder als Freund, zumindest als gut zahlenden Arbeitgeber. Im Laufe der Jahre hatten sie alle auf die eine oder andere Weise für Iblis gearbeitet und waren jederzeit einsatzbereit, ob es nun galt, in irgendein Museum oder Privathaus einzubrechen, Fluchtwagen zu chauffieren oder von einem Augenblick zum anderen irgendwelche Schwestern zu entführen. Bekleidet waren sie mit dicken Wollhosen und dunklen Pullovern. Jeder trug ein Seitengewehr, war über einen Ohrhörer mit dem Funkgerät verkabelt und mied jeden Blickkontakt mit den übrigen Passagieren.

Die beiden dunkelhäutigen Bergführer saßen zwischen den Wachhunden auf der Lederbank mit dem harten Rückenteil und wirkten wie Zwerge neben den wuchtigen Männern, die sie um Haupteslänge überragten. Beide kamen sie aus einem kleinen Dorf nördlich von Darjeeling, und beide waren indisch-nepalesisch-tibetanischer Herkunft, wie es für das Volk hier typisch war.

Sie waren beide an Bord, obwohl ihre Ehefrauen und Kinder dagegen protestiert hatten. Ihre Bergführer-Kollegen hatten sie angefleht, vernünftig zu sein und sich dieser wahnwitzigen Reisegruppe nicht anzuschließen, die ihrer Hilfe bedurfte, um in einer der gefährlichsten Jahreszeiten den Kangchendzönga zu erklimmen.

Doch Sonam Jigme fürchtete sich nicht. Der Reiz der finanziellen Vergütung und die Tatsache, dass er für diesen kurzen Ausflug einen Lohn kassierte, den er sonst innerhalb von drei Jahren nicht verdienen konnte, hatte all seine Furcht vertrieben. Er war jung und stark, und sein Körper war kräftiger, als es bei den meisten anderen in seinem Dorf der Fall war. Wenn jemand das Unmögliche überleben konnte, dann er. Und dann würde seine Frau das Haus bekommen, das sie immer gewollt hatte, und seine drei Töchter würden eine anständige Ausbildung erhalten, und er würde voller Stolz wissen, dass er anständig für sie gesorgt und ihnen eine wesentlich bessere Existenz geboten hatte, als er es sich jemals hätte erträumen können.

Kunchen Tsering galt als der erfahrenste aller Bergführer, weil er am meisten über die fünf Gipfel des Kangchendzönga wusste. Schon achtzehn Mal hatte er den Berg bezwungen, häufiger als jeder andere Mensch auf Erden. Er war ein bescheidener Mann der leisen Töne, und seines gesunden Aussehens wegen sah man ihm seine vierundfünfzig Lebensjahre nicht an. Er war im Schatten der ›Fünf Schätze des Schnees‹ aufgewachsen und kannte jeden Weg, der zu seinen fünf Gipfeln führte.

Als der große, etwas ältere Europäer im Dorf Nachforschungen angestellt hatte, war Kunchens Name in aller Munde gewesen. Er war ein Experte, der sich mit dem schwierigen Gelände auskannte, der den Wind lesen und daraus die Wetterveränderungen schließen konnte – ein Alpinist, der Bergsteiger auf die höchsten Höhen der Welt geführt und sie sicher wieder heruntergebracht hatte.

Doch war Kunchen ein Mann, den man sich nicht kaufen konnte; er hatte eine unkomplizierte Natur und Freude an den schlichten Genüssen, die ihm die Familie bereitete, und an seinem alltäglichen Leben im Einklang mit dem großen Himalaja, der für seine Existenz sorgte. Die Feinheiten des Kletterns hatte er vom Vater seines Vaters gelernt, einem Mann, der Lawinen überlebt hatte und plötzlich aufziehende Stürme, denen viele andere zum Opfer gefallen waren. Zum ersten Mal hatte Kunchens Großvater 1905 versucht, den höchsten Gipfel des Kangchendzönga zu besteigen – mit einer Gruppe, die von einem Engländer namens Crowley angeführt worden war. Vier Männer starben bei diesem erfolglosen Unternehmen, doch Crowley kam nie wieder, um es ein zweites Mal zu versuchen. Kunchens Großvater hatte immer viel von Crowleys Suche erzählt und Kunchen und seine Freunde mit den Geschichten beglückt, wenn sie in ihrer Jugend um das Lagerfeuer herum gesessen hatten. Er erzählte von Crowleys erfolgloser Suche nach versteckten Tempeln und sagenumwobenen Dörfern, die angeblich irgendwo in den höheren Regionen des gewaltigen heiligen Berges versteckt waren. Er erzählte die Geschichten so häufig, dass Kunchen sich später zwingen musste, nicht darüber einzuschlafen und keine glasigen Augen zu bekommen, wie es den meisten Kindern ergeht, die zum zwanzigsten Mal zuhören müssen, wenn einer der Älteren eine Mär erzählt.

Als der groß gewachsene ältere Europäer sein Angebot auf fünf Jahresgehälter steigerte, wollte Kunchen wissen, was einen Menschen dermaßen faszinieren könne, dass er bereit sei, einen solchen Lohn zu zahlen, nur um die Gelegenheit zu bekommen, in den sicheren Tod zu klettern. Daraufhin erzählte der Mann Kunchen eine Geschichte, die dieser seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte – nicht mehr seit den lodernden Lagerfeuern seiner Kindheit und nicht mehr seit der Zeit, als sein Großvater von Aleister Crowley und dessen großer Suchaktion erzählt hatte.

Am Ende war es nicht das Geld, und es waren auch nicht die flehenden Bitten eines verzweifelten Mannes, die Kunchen verlockten. Es war eine markierte Karte, die eine Route zeigte, die niemand je genommen hatte – nicht nur, weil es eine heimtückische Route war, sondern auch, weil sie an einem Pass endete, der als überwindlich galt, da er aus einer Felswand mit einem 130-Grad-Gefälle bestand, die im ewigen Eis lag. Kunchen erklärte, dass sie den Gipfel über diese Route niemals würden erreichen können. Doch ihn überzeugten schließlich die schlichten Worte, mit denen Venue antwortete: »Mein Ziel ist nicht der Gipfel, mein Ziel ist etwas sehr viel Höheres und Größeres.«

Das waren genau die gleichen Worte, mit denen Kunchens Großvater seine Geschichte stets begonnen hatte; es waren die gleichen Worte, die Aleister Crowley vor über hundert Jahren zu seinem Großvater gesagt hatte.

***

Der HAL DHRUV landete auf einem offenen, zum Teil verschneiten Stück Land, das sich am südlichen Fuß des Kangchendzönga erstreckte. Wie eine Treppe, die in den Himmel führte, erhob sich der Berg schneebedeckt und majestätisch über dem verlassenen Camp, das sich ungefähr auf halber Höhe zwischen Tal und Gipfel befand.

Iblis’ Männer zogen auf beiden Seiten des Helikopters die Schiebetüren auf und kletterten nach draußen, als wären sie auf einer militärischen Mission. Das Dröhnen des Hubschraubermotors wurde leiser; zugleich drehten die Rotoren sich immer langsamer. Die elf Wachhunde hoben zehn große Holzkisten aus dem Heck des Helikopters. Cindy und Venue sprangen auf der rechten Seite aus dem Hubschrauber – Hand in Hand, als gingen sie auf Urlaubsreise. KC stieg auf der linken Seite aus, um den beiden so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Der Boden bestand aus festgetretener Erde und Felsgestein. Hier und da lagen Schneereste. Die Temperatur hielt sich bei etwa drei Grad Celsius, was im Sommer in diesem Teil der Welt der Höchsttemperatur entsprach.

Rasch brach Iblis’ Team die großen Holzkisten auf und förderte einen Tisch zutage, der vor Venue aufgestellt wurde. Als Nächstes zogen sie fertig gepackte Rucksäcke hervor, außerdem Zelte und mehrere Laptops.

Kunchen schlenderte über das offene felsige Land, mal durch Gras und mal durch Schnee, blieb hier und da stehen und atmete tief durch, schien an der Luft zu riechen und sie zu schmecken. Er streckte die Arme zur Seite und drehte sich im Kreis, als wäre es eine Art Ritual. Dann blickte er auf, las im blauen Himmel, schaute auf den gewaltigen, markanten Gipfel, der über ihnen aufragte, mehr als achteinhalbtausend Meter hoch, und studierte die Schneeverwehungen, die von den zerklüfteten Felsen des Gipfels herunterwehten.

KC riss sich los von Kunchen und seiner Ökoanalyse und schaute auf die Piri-Reis-Karte, die man inzwischen auf dem Tisch ausgerollt hatte. An der Karte hingen nun gelbe Haftnotizen in englischer Sprache – Text, den Iblis während ihres Fluges aus dem Türkischen übersetzt hatte. Sonam hielt die flatternden Ecken fest, schützte sie vor der leichten Brise, damit er lesen konnte. Er richtete den Blick auf die gebirgige Darstellung des Kangchendzönga auf der Tierhaut und glitt mit seinem schwieligen Zeigefinger über den rot eingezeichneten Weg. Venue, Cindy und Iblis standen mit angehaltenem Atem da und warteten auf Sonams Einschätzung der Lage.

Plötzlich riss er die Augen weit auf, drehte sich zu Venue um und schenkte ihm ein breites Lächeln, wobei er seine schiefen Zähne bleckte. »Fünf Stunden«, erklärte er dann und wies dabei gen Westen, in Richtung eines verschneiten Gebirgspasses.

Venue schaute auf die Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Drei Jahresgehälter für fünf Stunden Arbeit.«

»Sie erst mal warten, wie toll Ziel, bevor schreien nach Rabatt«, erwiderte Sonam in gebrochenem Englisch.

»Kein Grund zur Aufregung«, meinte Venue. »Ich habe nicht die Absicht, neu zu verhandeln.«

Iblis wandte sich an seine Männer. »Sichert die Kisten und zieht euch an. In zehn Minuten machen wir uns auf den Weg.«

KC drehte sich zu Kunchen um, der gerade auf Venue zusteuerte. Der alte Bergführer ging mit bedächtigen Schritten; etwas Warnendes lag in seinem stählernen Blick.

»Wir können nicht gehen«, verkündete er dann.

Venue sprach kein Wort, beobachtete nur, wie der Mann immer näher auf ihn zukam.

»Wieso nicht?«, fragte Iblis.

»Es zieht ein Sturm auf.«

»Ein Sturm?« Iblis blickte zum blauen Himmel.

Venue drehte sich um, schaute Sonam an und hob dabei eine Augenbraue, als bitte er um Bestätigung.

Sonam blickte hinauf zu den Schneeverwehungen, die von den Gipfeln des Berges herunterwehten, und nickte beipflichtend. »Schweres Sturm.«

»Wie schwer?«

»Hier unten?«, antwortete Kunchen. »Kein Sturm, um den man sich Sorgen machen müsste. Wir stellen die Zelte auf, machen Kaffee und erzählen uns Witze. Und in sechsunddreißig Stunden brechen wir dann auf.«

»In sechsunddreißig Stunden?«, fuhr Iblis aus der Haut.

»Wie lange wird es dauern, bis der Sturm hier ist?«, fragte Venue.

Sonam und Kunchen blickten einander an.

»Sechs Stunden«, erklärte Kunchen dann. Er war hier offensichtlich der Wortführer, der Mann, der über die größte Erfahrung verfügte, und am dritthöchsten Berg der Welt hatte Erfahrung stets Vorrang.

»Wenn wir gleich jetzt losgehen würden, könnten wir es vorher zu unserem Ziel schaffen«, sagte Iblis zu Venue.

»Sie bitte verstehen«, warf Sonam ein. »Wenn wir rechnen falsch, wenn wir aus irgendeine Gründe laufen langsamer, wenn wir geraten in eine Steinschlag auf die Weg, dann Sie werden alle Kollegen von die andere Opferleichen von Kangchendzönga.«

»Wo ich herkomme, irren sich die Wetterfrösche ständig«, sagte Iblis.

»Sie das tun, dann weil sie ihre Wissenschaft von Bücher gelernt haben.« Sonam lachte. »Wir unsere von Gott gelernt.«

»Ich möchte nicht despektierlich sein«, sagte Kunchen zu Venue und senkte dabei den Kopf. »Aber ich habe mich noch nie geirrt, da können Sie jeden fragen.«

Venue stand da und überlegte. Er schaute auf die elf Wachhunde, die sich bereits ihre Rucksäcke aufgeschnallt hatten. »Fünf Stunden, hast du gesagt?«, fragte er Sonam.

»Wenn alles gut sich geht, ja. Ich kann Sturm aber auch schon schmecken, ist in die Luft.«

Venue wandte sich an Iblis. »Sichere das Lager hier, lass alles in den Kisten. Sollte sich das Wetter verschlechtern, drehen wir um und warten hier. Lass uns nur mitnehmen, was wir tragen können, nichts, was uns langsamer macht.«

Binnen Sekunden herrschte reges Treiben im Lager, denn Iblis’ Männer machten sich sofort an die Arbeit. Derweil rollte Venue die Karte zusammen und steckte sie in seinen Rucksack. Iblis schnappte sich die lederne Transportrolle, in der sich der Stab befand, und warf sie sich über die Schulter. Cindy stand da wie ein Fisch auf dem Trockenen in ihrer so überhaupt nicht zum Wandern geeigneten Garderobe und sah aus wie der Prototyp einer zum Scheitern verurteilten Hochgebirgstouristin. Ihre Kletterschuhe waren schlecht gebunden, ihre Weste trug sie offen, und ihre Mütze hatte sie sich in die Jackentasche gestopft, als wollte sie unbedingt vermeiden, dass ihre Frisur litt. Sie war naiv im Hinblick auf das, was ihr bevorstand, beinahe so, als wäre ihre Intelligenz in dem Moment verflogen, als sie dem Zauber ihres Vaters verfallen war.

KC schüttelte angewidert den Kopf, hob ihren Rucksack vom Boden und schnallte ihn sich auf den Rücken. Dann schnappte sie sich die leere lederne Transportrolle, die eigentlich für die Karte gedacht war. Sie lag auf dem Tisch, den zwei der Wachhunde gerade wieder zusammenklappen wollten. Sie sah, wie sie den Tisch zusammen mit ein paar Taschen voller Vorräte in den Holzkisten verstauten, die am größten waren, und die Kisten verschlossen.

»Wartet«, rief KC und lief zu den beiden. Sie öffnete den oberen Teil der Transportrolle, ließ ihren Brief an Michael hineinfallen, schloss die Rolle und reichte sie einem der Wachhunde. »Wir sollen nur mitnehmen, was wir unbedingt brauchen.«

Der Wachhund steckte die Lederröhre in die große Kiste und verschloss sie.

KC sah sich um. Sie konnte nirgendwohin gehen, nirgendwohin fliehen. Sie hasste sich selbst, in diese Lage geraten zu sein, und verfluchte sich, jemals auf Iblis gehört und ihrer Schwester vertraut zu haben.

Als sie sich umdrehte, sah sie Venue, Cindy und Iblis, die bereits durch den Schnee und über die Felsen auf den Gebirgspass zustapften, der etwa zweieinhalb Kilometer entfernt war. Die Wachhunde folgten ihnen in Zweierpärchen. KC hätte nie gedacht, jung sterben zu müssen, aber die Möglichkeit war jetzt realer als damals, als man sie in der Gefängniszelle eingesperrt und zum Tode verurteilt hatte. KC drehte sich zu den beiden Bergführern um, die schweigend dastanden und sie anstarrten.

»Das ist eine schlechte Idee«, sagte KC, stülpte sich eine schwarze Wollmütze über den Kopf und stopfte ihr blondes Haar darunter. Sie nahm ihren Rucksack noch einmal ab und überprüfte ihn, nahm eine Flasche Wasser heraus und sicherte sie in einem Netzbeutel an der Seite. Dann schaute sie auf die Armbanduhr, setzte ihre Sonnenbrille auf und blickte hinauf zum Gipfel des Kangchendzönga.

»Sie schon mal geklettert?«, fragte Sonam.

»Nicht auf so einen Giganten.«

»Sie haben wenigstens Respekt vor dem Berg«, meinte Kunchen.

»Es wird fürchterlich, nicht wahr?«

Kunchen nickte und schaute dabei auf Venue und sein Team, die bereits davoneilten.

»Keine Sorge«, erklärte Sonam und bleckte seine schiefen Zähne.

Kunchen fügte hinzu: »Sie machen den Eindruck, als hätten sie Angst – mehr als sonst einer in der Gruppe –, und das ist gut. Vielleicht sind Sie am Ende die Einzige von uns, die überlebt.«