20.

Michael und KC lagen auf dem Bauch, Kopf an Kopf auf der Brüstung der über drei Meter hohen Granitmauer, die sich um das Außengelände des Topkapi-Palasts wand. Beide spitzten die Ohren und schauten sich um. Die Mauer war wie eine Trennungslinie zwischen zwei Welten: Die eine war voller Leben, voller Straßenverkäufer und Menschen, die zum Abendessen gingen, die andere war eine stille Welt wie aus vergangenen Zeiten, besinnlich, friedlich und der späten Stunde wegen menschenleer.

Michael und KC schwangen sich geübt von der Mauer und landeten lautlos und wie ein eingespieltes Team auf dem Rasen des Janitscharenhofes. Michael ließ den Blick über das Gelände schweifen und stellte fest, dass die meisten Wachen sich vor dem versperrten Großherrlichen Tor aufhielten, das ungefähr fünfzehn Meter entfernt war. Nur zwei Wachmänner gingen Streife. Die beiden waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie nicht mitbekamen, wie Michael und KC in den Schatten hinter einem antiken Versorgungsgebäude huschten.

Sie hielten sich in der Dunkelheit und arbeiteten sich weiter vor, vorbei an der Hagia Eirene und der Kaiserlichen Münze, an zahlreichen Backsteinbauten und Versorgungsgebäuden. Dabei waren sie die ganze Zeit in Alarmbereitschaft. Schließlich verharrten sie im Schutz eines Zypressenhains und legten sich flach auf den Boden, sodass ihre dunkle Kleidung mit der Umgebung verschmolz. KC hatte ihr Haar hochgebunden und unter einer dunklen Mütze versteckt, um ihre lange blonde Mähne zu verbergen. Michael trug zwei Rollen Seil über der Schulter. An seinem Gürtel war eine wasserdichte Tasche befestigt.

Sie waren ins Restaurant Mikla Iki hinein und durch die Hintertür gleich wieder nach draußen gelaufen, wo Busch sie erwartet hatte. Die tausend Dollar Trinkgeld, die sie dem Oberkellner gegeben hatten, garantierten ihnen nicht nur Intimsphäre, sondern zusätzlich ein Alibi. Sie hatten Iblis zwar nicht gesehen, waren aber überzeugt, dass er oder seine Männer das Restaurant bewachten. Sie hatten für das private Separée den doppelten Preis gezahlt und der gesamten Belegschaft großzügige Trinkgelder gegeben, damit sichergestellt war, dass man sie nicht störte. KC bezweifelte, dass Iblis ins Restaurant kam, aber wenn doch, war er hinterher so klug wie zuvor.

Sie schätzten, dass ihnen zwei Stunden Zeit blieb.

Vor ihnen hob sich das Begrüßungstor gewaltig und imposant vor dem Nachthimmel ab. Unter dem bogenförmigen Eingang standen zwei Wachmänner vor einer hohen schwarzen Tür und unterhielten sich leise.

Michael zog einen Plan des Palastgeländes aus der Gesäßtasche und breitete ihn vor ihnen auf dem Rasen aus. KC reichte ihm eine Stiftleuchte, deren rote Linse verhinderte, dass das Licht streute, als Michael es auf die Karte richtete. Beide ließen wortlos ihre Blicke darüber schweifen und behielten dabei die Wachmänner im Auge. Am linken Außenrand befanden sich die Festungsmauer, die den Palast umschloss, sowie das Archäologische Museum, das im Schatten dichter Laubbäume und angrenzender Gebäude stand.

Michael hob zwei Finger, deutete damit zuerst auf KC, dann auf seine Augen und schließlich auf die Wachmänner, damit KC wusste, worauf sie ihren Blick konzentrieren sollte. Während Michael unablässig darauf achtete, dass sich in ihrem Umfeld nichts regte, bewegten sie sich zwischen den Bäumen vorsichtig auf die äußerste Ecke des Zypressenhains zu, ohne ein Wort zu reden.

Sie spurteten über das offene Gelände und kamen vor der inneren Mauer zum Stehen, die den eigentlichen Palast umgab. Die Mauer bestand aus Stein und Ziegeln und war somit für jeden Felskletterer eine Herausforderung.

»Das pack ich«, sagte KC und blickte den fast zehn Meter hohen Wall hinauf.

Michael schüttelte den Kopf, grub seine Finger in die Mörtelfugen und kletterte los, bevor KC reagieren konnte. Seine Hände und Fingerknöchel brannten, als er die Ziegelwand erklomm, und seine Fingerspitzen fanden nur gefährlich knappen Halt in den gerade einen Zentimeter breiten Fugen, die immer mehr an Tiefe verloren, je höher er kam. Das Licht warf wechselnde Schatten auf die Mauer, sodass Michael gezwungen war, ständig seine Position zu ändern, um nicht entdeckt zu werden.

Nach einer Minute hatte er die Mauerkrone erreicht, nahm eines der beiden Seile von der Schulter, befestigte es an einem Abflussrohr und ließ das Seilende nach unten fallen, wo KC es mit ausgestreckter Hand auffing. Sie hangelte sich so schnell daran empor, dass sie bereits zehn Sekunden später an seiner Seite saß.

Dank Simons Notizen und ihrer Erkundungstour am Morgen wusste Michael, dass es im Topkapi-Palast nur an den Stellen, die der Öffentlichkeit zugänglich waren und an denen wertvolle Gegenstände aufbewahrt wurden, Hightech-Sicherheitsanlagen gab, während der Weg, den sie jetzt nahmen, und das Ziel dieses Weges niemanden großartig interessierte.

»Nett hier oben«, wisperte Michael und sah sich um. Unter ihnen dehnte sich das Palastgelände aus. Der Mond tauchte das Osmanische Refugium in blassblauen Glanz. Der Palast war gewaltig und bestand aus einer unüberschaubaren Anzahl von Gebäuden verschiedenster Größe, in die sowohl das architektonische Erbe des Ostens als auch das des Westens eingeflossen war: Gewölbe wie im Mittleren Osten, Türme wie in Europa, Dächer wie in Asien – ein Spiegelbild der abwechslungsreichen kulturellen Vergangenheit Istanbuls.

Michael zeigte über den zweiten Hof hinweg auf den dritten Innenhof. »Sieh mal.«

KC kniff die Augen zusammen, bis ihr Blick auf die vielen orangefarbenen Kegel fiel, die um ein dunkles Loch herum standen, das sich neben der Bibliothek Ahmed III. befand, einem Marmorbau im dritten Hof.

»Als wir heute Vormittag aus der Schatzkammer gekommen sind, habe ich die Bauhütchen um das Loch herum gesehen.« Michael zog ein Blatt Papier hervor, auf dem eine moderne elektrische Schaltanlage zu sehen war, und breitete es auf dem Mauerrand aus. »Das hier lag bei Simons Unterlagen. Es zeigt, wo überall gegraben wird, um neue Leitungen zu legen. Nur haben sie sich bei der vielen Graberei verbuddelt, sodass da drüben jetzt das Loch ist, das sie abstützen und anschließend zuschütten müssen.«

»Und?«

Michael zog eine weitere Karte hervor, auf der zwei der Geheimgänge zu sehen waren, die einst von den Eunuchen erbaut worden waren. »Hättest du Lust, dir unter der Erde mal ein bisschen was anzuschauen?« Er faltete die Papiere zusammen und steckte sie zurück in die Hosentasche. »Lass uns einen Spaziergang machen.« Er stand auf, warf sich die Seilrolle über die Schulter und eilte los, ohne auf ihre Antwort zu warten.

KC blieb noch einen Moment sitzen und beobachtete, wie Michael sich im Schutz der dunklen Schatten auf dem Mauerrand entfernte. Dann erhob sie sich ebenfalls und schloss rasch zu ihm auf. Nebeneinander liefen sie dahin. Es war, als befänden sie sich in einer völlig fremden Welt. Der Ausblick war unvergleichlich und ehrfurchtgebietend. Es war eine Perspektive, aus der nur eine Hand voll Menschen das Gelände des Topkapi-Palasts jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das gemeine Volk ging seinem lärmenden Tagwerk nach, ohne sich der friedvollen Sphäre bewusst zu sein, die sich unmittelbar über ihren Köpfen befand.

Aus dieser Perspektive wirkte der Topkapi-Palast wie eine ungeordnete Ansammlung von Gebäuden, die aus dem Boden sprossen – ohne Plan oder irgendeine Symmetrie. Teilbereiche erstreckten sich in sämtliche Richtungen: nach oben, nach unten, nach rechts und links, nach Ost und West, allesamt verbunden durch die blau verbleiten Dächer und Kuppeln, die minarettartigen Türme und Schornsteine.

Sie bahnten sich ihren Weg über die leicht abschüssigen Dächer, wobei sie sich von den Rändern fernhielten, weil jeder Wachmann, der auf dem Gelände Streife ging, sie hätte sehen können. Sie liefen vorüber am Turm der Gerechtigkeit, über den Harem hinweg und um den Beschneidungspavillon herum und gelangten schließlich auf das Dach des Gebäudes, in dem sich die Ausstellung der Miniaturen und Manuskripte befand. Michael blickte über das offene Gelände: In der Mitte der Baustelle war eine kleine dunkle Grube, ein schwarzes Loch, das sämtliches Licht im Umfeld in sich aufzusaugen schien.

Sie suchten mit Blicken das Gelände ab, stellten fest, dass niemand in der Nähe war, und arbeiteten sich zum Außenrand des Daches vor. Von dort sprangen sie drei Meter in die Tiefe und rollten sich ab. Dann spurteten sie auf das weiße Gebäude der Bibliothek zu und kamen neben einer Reihe orangeroter Bauhütchen und einem Bagger zum Stehen.

Michael befestigte die beiden Seile am Stahlrahmen des Baggers. Dann schnappte er sich das Seil mit beiden Händen und stieg in die Grube. Sechs Meter ließ er sich in absolute Finsternis sinken; dann verharrte er und blickte nach oben, bis er die Silhouette von KC an dem Seil nach unten gleiten sah, das neben seinem hing. Er schwebte im Nichts. Sein Atmen hallte von den kühlen Wänden wider, die ihn umgaben.

Michael knipste seine Taschenlampe ein und sah, dass das Licht sich unter ihm auf einer Wasseroberfläche spiegelte.

»Ist das deine großartige Idee?«, wisperte KC und schaltete ebenfalls die Taschenlampe ein.

Michael machte sich nicht die Mühe, sie einer Antwort zu würdigen, und glitt tiefer nach unten. Bis dort waren es noch einmal sechs Meter; das Ende seines Seils rollte sich auf der Wasseroberfläche nach oben wie eine Schlange, die darauf wartete, zuzubeißen. Nur Zentimeter über dem Wasser kam Michael zum Stillstand, ließ das Licht der Lampe schweifen und stellte fest, dass sie sich in einer Art Höhle befanden. Die Luft war kühl. Kalzit war aus der gewölbten, kuppelartigen Decke gesickert und hatte eine künstliche Tropfsteinhöhle gebildet.

Michael drehte sich an seinem Seil langsam um die eigene Achse und leuchtete mit der Lampe umher. Die Höhle war etwa zehn Meter breit und dreißig Meter lang; die Wände waren aus uraltem Stein und Ziegeln, die von der Feuchtigkeit schimmerten. Es war so still, dass selbst der kleinste Tropfen, der zu ihnen hinunterfiel, laut schallte.

»Das ist eine Zisterne«, flüsterte KC.

»Ja und nein.« Langsam ließ Michael sich ins Wasser gleiten. Als seine Füße nach anderthalb Metern endlich festen Boden beführten, reichte das Wasser ihm bis zu den Schultern. Es war glasklar und kühl, vielleicht achtzehn Grad. »Es ist viel mehr als nur eine Zisterne.«

Zisternen, große unterirdische Wasserspeicher, gab es bereits seit Hunderten von Jahren. Sie sicherten die Frischwasserversorgung und waren von Menschenhand geschaffene Staubecken für die Angehörigen des Königshauses und die Oberschicht. Es gab Hunderte davon unter der Stadt Istanbul.

KC ließ sich ebenfalls ins kalte Wasser gleiten und schnappte nach Luft, als ihr Körper eintauchte.

Michael zog einen Kompass aus der Tasche, leuchtete mit der Taschenlampe darauf und machte sich in nördlicher Richtung auf den Weg durch die tiefschwarze Höhle.

KC richtete den Strahl ihrer Taschenlampe gegen die Wände, nach oben auf die Decke und nach unten ins Wasser. Voller Misstrauen schaute sie sich um, als könne jeden Moment etwas aus der Dunkelheit hervorbrechen und über sie herfallen.

Michael plagte sich weiter voran, bis ihm im Licht seiner Taschenlampe plötzlich etwas ins Auge fiel: An der Wand auf der anderen Seite erblickte er ein Relikt aus präislamischer Zeit. Man hatte das Symbol in den Fels gemeißelt. Obwohl es abgesplittert und verwittert war, bestand kein Zweifel an seiner christlichen Bedeutung.

»Was meinst du damit – ja und nein?«, fragte KC.

»Bevor es Topkapi gab«, antwortete Michael, »und bevor es diese Zisterne gab, war das hier ein Kloster. Das stand in Simons Notizen. Das Kloster stammte aus den Zeiten Konstantins des Großen. Es war früher üblich, neue Bauten auf alte Gemäuer oder Grundmauern zu setzen, und man benutzte das Material alter Bauwerke, um neue Gebäude daraus zu errichten.«

Michael begriff, was diese Höhle ursprünglich gewesen war. Er sah Kruzifix neben Kruzifix an der Wand. Darunter befanden sich Ausbuchtungen, die man aus dem Stein und der zerklumpten Erde gemeißelt oder gegraben hatte. In jeder dieser Nischen stand ein steinerner Sarg.

»Das ist eine Krypta«, sagte er.

»Na toll. Als wäre es hier unten nicht schon unheimlich genug.«

Sie schauten sich um. Die meisten Särge waren intakt; nur wenige waren zerbröckelt, sodass man die Knochen nicht mehr vom Marmor unterscheiden konnte.

»Was bin ich froh, dass ich mir keinen Schluck von dem Wasser gegönnt habe«, meinte KC.

Michael und KC arbeiteten sich weiter vor. Das kalte Wasser setzte ihnen allmählich zu, sodass sie nur noch langsam vorankamen. Endlich erreichten sie die Wand am anderen Ende. Hier ging es nicht mehr weiter. Michael leuchtete mit seiner Taschenlampe, fand aber nirgendwo eine Öffnung. KC bewegte sich nach links, besah sich die Wände und suchte nach einer Öffnung, nach einer Spur, die auf einen versteckten Raum hindeutete.

Michael untersuchte die Wand aus Stein und Ziegel und hielt sich dabei dicht am Rand – und da spürte er es plötzlich. Es war eine sanfte Bewegung, eine Strömung. Michael leuchtete noch einmal mit seiner Lampe umher; dann tauchte er ohne Vorwarnung unter und verschwand.

KC drehte sich um und stellte fest, dass sie plötzlich allein war. Sie umklammerte ihre Taschenlampe, als könnte die sie vor der Finsternis beschützen.

»Michael?«

Er tauchte nicht wieder auf.

»Michael?«, wiederholte KC und watete zu der Stelle, an der Michael verschwunden war, leuchtete mit der Taschenlampe ins Wasser und suchte nach einer Spur von ihm. Sie spürte, wie die Strömung ihren Körper umspülte. Dreißig Sekunden waren inzwischen vergangen. Wieder leuchtete sie mit der Lampe und entdeckte unter Wasser ein Rohr, das etwa einen Meter zwanzig breit war. Sie wartete. Eine weitere Minute verging.

Panik erfasste KC. Sie hatte Michael verschwiegen, dass sie sich vor der Dunkelheit fürchtete. Seit ihrem sechsten Lebensjahr litt sie an dieser Phobie. Damals hatte sie allein im Bett gelegen und die Schatten an der Wand beobachtet, während aus dem Schlafzimmer nebenan die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr gedrungen war – ein Kreischen und Wispern, Lachen und Weinen, ganz so, als wäre sie in einem Raum voller Gäste, als wären tatsächlich Menschen mit ihr im Zimmer. Oft bekam ihre Mutter Weinkrämpfe oder schlug zornig auf die körperlosen Gespenster ein, die ihr Geist ihr vorgaukelte. Jedes Mal, wenn KCs Mutter einen dieser Anfälle hatte, fingen die Schatten an der Wand plötzlich zu tanzen an und griffen nach dem kleinen Mädchen, um es in eine fremde, Furcht erregende Welt zu zerren.

KC hatte im Lauf der Jahre gelernt, ihre Ängste unter Kontrolle zu halten, hatte die Furcht aber nie wirklich überwunden. Manchmal, wenn es dunkel war um sie herum, glaubte sie, wieder das Wispern und Kreischen zu hören und die Stimme ihrer Mutter, die sie in die Vergangenheit zog, zurück in diese entsetzlichen Nächte.

Jetzt, da KC in der dunklen Höhle ihre Taschenlampe umklammerte, wurde sie zusehends nervöser. Wo war Michael? Saß er irgendwo fest? Würde sie auch festsitzen, wenn sie versuchte, durch das Rohr zu schwimmen? Würden sie beide ertrinken?

Anderthalb Minuten. KCs Furcht verwandelte sich in Wut.

»Verdammt, Michael!«, stieß sie hervor, tauchte unter und leuchtete in das breite Rohr, froh, dass Michael wasserdichte Taucherlampen besorgt hatte. KC schwamm gegen die leichte Strömung an und benutzte ihre freie Hand, um sich durch die glitschige Röhre hindurchzuschieben. Eh sie sich versah, war sie auf der anderen Seite und tauchte in einem kleineren Raum auf, einem Vorraum der Zisterne, in dem ihr das Wasser bis zu den Schultern reichte.

Doch auch hier gab es keine Spur von Michael.

»Michael«, flüsterte KC, als hätte sie Angst, die Ruhe der Toten zu stören oder als könne jemand sie hören. Sie leuchtete mit ihrer Lampe auf einen etwa neunzig Zentimeter breiten Gehweg, der dreißig Zentimeter über der Wasseroberfläche um den gesamten Raum herumführte. Dann griff sie nach dem Rand und zog sich aus dem Wasser. Obwohl die Luft kühl war, war sie wesentlich besser zu ertragen als die Kälte des Wassers, die KC allmählich in die Knochen kroch. Sie hielt den Strahl der Taschenlampe auf den Gehweg gerichtet und stellte fest, dass er vollständig trocken war; Michael war also nicht aus dem Wasser gestiegen.

KC hatte sich gerade erst erhoben, als Michael plötzlich auf der anderen Seite des Raumes aus dem Wasser stieß und keuchend nach Luft schnappte.

»Sag mal, was treibst du eigentlich?«, fragte KC mit einer Mischung aus Zorn und Erleichterung.

Michael blickte sie verwirrt an. »Da ist noch ein zweites Rohr, etwa zwölf Meter lang. Es führt in einen anderen Raum. Ich habe es mir genauer angesehen.«

»Mach so was nicht noch mal«, rief KC wütend.

»Hast du dir Sorgen um mich gemacht?« Michael musste grinsen.

»Was meinst du wohl?«

»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.« Michael schwamm zum Rand und zog sich aus dem Wasser.

»Hast du wenigstens etwas gefunden?«, fragte KC.

»Soviel ich sehen konnte, verläuft dieser Weg um den ganzen Raum herum.« Michael wies auf die Wand am anderen Ende. »Da drüben gibt es einen alten Türeingang. Davor sind drei Treppenstufen, die nach oben führen. Dahinter muss das versiegelte Treppenhaus sein, das in den Harem führte. Auf der anderen Seite der Wand ist ein weiterer Vorraum. Er sieht aus wie der Kontrollraum der Zisterne. Da gibt es einen Schacht, der nach oben in das Türkische Bad im Harem führt, das wir heute besichtigt haben.« Michael hielt ihr das Fünfundzwanzig-Cent-Stück entgegen, das sie am Morgen in den Abfluss geworfen hatte, und wies auf die Wand zu seiner Linken. »Wir wissen, dass der Weg, durch den wir in die Zisterne hineingekommen sind, hinter dieser dritten Wand liegt …«

KC erhob sich, ging zur vierten Wand und strich mit den Händen darüber.

»Das ist die einzige Wand, hinter der sich nichts befindet«, sagte Michael, ging zu ihr und stellte sich neben sie. »Schau dir den Gehweg an.«

KC sah nach unten. Ihr Blick folgte dem Weg, der um den ganzen Raum herumführte. »Und?«

»An dieser Stelle hier ist er fünfzehn Zentimeter schmaler.« Michael zeigte darauf, hockte sich hin und klopfte die Wand ab. »Diese Wand ist viel später gebaut worden als der Weg.«

»Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Kapelle sich hinter dieser Wand befindet.«

»Ich weiß. Aber ich glaube, dass dieses Symbol darauf hindeutet.« Michael wies auf mehrere antike Zeichen, die an der Wand neben ihm in die Ecke gemeißelt waren. Sie waren klein und primitiv, und auf den ersten Blick sahen die Schleifen und Buchstaben nicht viel anders aus als die Zeichen eines Steinmetzen.

Michael zog eine Fotokopie des Briefes hervor, den KC von Venue gestohlen hatte, und hielt ihn hoch. Obwohl das Blatt nass geworden war und die Tinte verlief, war deutlich zu erkennen, dass das Symbol in der oberen rechten Ecke der Wand mit dem auf dem Brief übereinstimmte.

»Das ist das Siegel des Großwesirs Sokollu Mehmet. Simon hat ›Die Söhne Abrahams‹ darunter geschrieben. Der Großwesir war ein weiser Mann, der die unterschiedlichen Glaubensauffassungen gleichgestellt hat. Drei Weltreligionen – Judentum, Christentum und Islam – vereinigt unter einem Gott und einem gemeinsamen Propheten, Abraham.« Michael lief zurück zur anderen Seite des Vorraums der Zisterne, blieb stehen und ließ die Wand und den gesamten Raum noch einmal auf sich wirken. Dann konzentrierte er sich auf das Mauerwerk vor ihm. »Ich bin sicher, dass die Kapelle sich hinter dieser Wand befindet.«

»Na toll.« KC seufzte und schaute sich die Steine, den Mörtel und die Dicke des Hindernisses an. »Und wie sollen wir durch diese Wand kommen?«

»Mach dir keine Sorgen. Wir haben gefunden, weshalb wir hergekommen sind.« Michael blickte auf seine wasserdichte Armbanduhr: Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr dreißig. »Wir müssen zum Restaurant zurück, damit unser Freund Iblis nicht misstrauisch wird.«

»Okay.« KC sprang ins Wasser und schwamm auf das Abflussrohr zu. »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du durch die Wand kommen willst.«

Michael stieg ebenfalls ins Wasser und watete zu dem Rohr, drehte sich dann wieder um und blickte noch einmal auf das Hindernis aus Stein und Ziegel. »Wir müssen Sprengstoff benutzen.«

»Klasse. Da fühle ich mich gleich wesentlich besser«, meinte KC und tauchte unter.