18.

Langsam ging die Sommersonne unter und tauchte die erdfarbenen Häuser Istanbuls in eine Farbenpracht aus glühenden Rottönen. Der Duft von gebratenem Lamm, das die Straßenverkäufer unten zum Verkauf anpriesen, wehte durch die offenen Fenster hinein in die Welt des Four Seasons Hotels.

Michael saß auf dem Fußboden seiner Suite, Simons Aktentasche auf dem Schoß. Sie war vollgepackt mit Recherchen und Landkarten, die aus den Beständen des Vatikans stammten und die man Simon zur Verfügung gestellt hatte. Michael blätterte durch das umfangreiche Informationsmaterial über das Topkapi-Museum, in dem es sowohl um die ausgestellten Kunstgegenstände und deren Geschichte ging als auch um die Sicherungs- und Alarmanlagen. Regierungsunterlagen waren ebenfalls dabei.

Die Grundrisszeichnungen waren detailliert und gaben Aufschluss darüber, wie der Palast im Lauf der Zeit immer weitläufiger geworden war, als man die Anlage über die Jahrhunderte hinweg kontinuierlich ausgebaut hatte. In den unteren Stockwerken befanden sich Maschinen-, Büro- und Lagerräume. Dort gab es Gänge, die durch Wasserrohre führten, versteckte Räume und längst vergessene Tunnel, durch die man Haremsmädchen aus dem Palast heraus- und wieder hineingeschmuggelt hatte. Eunuchen hatten diese Tunnel erbaut; sie waren lange Zeit ein wohlgehütetes Geheimnis gewesen, an das sich heute niemand mehr erinnerte.

Michael hatte den Brief gelesen, den KC und Simon in Amsterdam gestohlen hatten, wusste aber nicht, was die Worte zu bedeuten hatten. Er schaute auf die religiösen Symbole von Christentum, Judentum und Islam, die in der oberen Ecke zu sehen waren und die Simon mit roter Tinte eingekreist hatte, doch er hatte keinen Schimmer, was sie zu bedeuten hatten.

Busch und KC saßen auf dem Sofa und überflogen noch einmal, was sie inzwischen in Erfahrung gebracht hatten. KC hatte sich Einzelheiten zu Selims Mausoleum und zu dem Innenraum notiert, in dem sich sein Sarkophag befand – Informationen, die man in den Broschüren und Touristenkarten nicht fand. KC und Michael waren beide in ihrer eigenen Welt; sie planten und grübelten, verwarfen und planten neu.

Alle drei hatten die letzten paar Stunden damit verbracht, jedes Stückchen Papier zu lesen und sich Notizen zu machen. Erst später wollten sie ihre jeweiligen Schlussfolgerungen miteinander vergleichen, um die Deutung des vorliegenden Informationsmaterials nicht zu beeinflussen. Vielleicht waren bestimmte Dinge, die der eine übersehen hatte, dem anderen aufgefallen.

Es war nach zwanzig Uhr, als Michael endlich von seinem Papierberg aufsah, sich erhob und sich streckte. Er nahm mehrere Dokumente vom Stapel – darunter die Kopie eines Briefes des Großwesirs – und steckte sie in seine Hosentasche.

»Hättet ihr Lust, mal eine Weile hier rauszukommen?«, fragte er.

Busch legte seine Papiere zur Seite und trank den letzten Schluck aus seiner Bierflasche. »Gott sei Dank. Ich weiß ja nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich hatte schon vor einer Stunde Hunger.«

»Ans Essen hatte ich eigentlich nicht gedacht.« Michael lächelte und öffnete die Tür.

Auch KC erhob sich. Die emotionale Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Wohin gehen wir?«, fragte sie.

»Hättest du Lust, in einen Palast einzubrechen?«

***

Michael und KC durchquerten die Hotelhalle und gingen nach draußen zu einer wartenden Limousine, deren Hintertür bereits für sie offen stand. Michael schaute sich um, weil er Busch suchte, aber der war nirgendwo zu sehen.

»Meinst du, er ist in der Bar?«, fragte KC.

Michael schüttelte den Kopf. »Steig du schon mal ein, ich sehe oben nach.«

KC setzte sich in die schwarze Stretchlimousine, und Michael eilte zurück ins Hotel.

»Michael?«, rief KC ihm nach.

Michael drehte sich um.

»Lass uns losfahren, wir verschwenden nur Zeit.«

Verärgert sah Michael sie an. Er würde seinen Freund nicht hier zurücklassen; er brauchte ihn. Außerdem hatte er nicht die Absicht, sich von einer ungeduldigen KC herumkommandieren zu lassen.

Plötzlich wurde das Fenster der Beifahrertür heruntergedreht.

»Nun beweg endlich deinen Hintern«, rief eine Stimme.

Michael beugte sich vor, um ins Wageninnere sehen zu können, und stellte fest, dass Busch hinter dem Steuer saß.

»Du schuldest mir zweihundert Dollar«, meinte Busch.

Michael stieg ein und schloss die Wagentür.

»Ein Chauffeur, den ich nicht kenne und der über jeden unserer Schritte Bescheid weiß, ist das Letzte, was ich jetzt noch brauche. Habe dem Knaben verklickert, ich würde das Wägelchen für was ganz Frivoles benötigen«, sagte Busch und schaltete das Automatikgetriebe in Dauerfahrstellung.

»Etwas Frivoles? Ich wusste gar nicht, dass du weißt, was das ist.«

»Nun ja, ›Nutten‹ hört sich besser an als ›Einbruch‹.« Busch fädelte in den dichten Verkehr ein, und die große Limousine glitt wie ein Flugzeugträger zwischen den kleinen gelben Taxis und den anderen Autos dahin. Hupen dröhnten, geballte Fäuste zuckten aus Wagenfenstern. Busch ignorierte das Schimpfen und Fluchen und schaute kurz auf das Navigationssystem, das den Flughafen Istanbul-Atatürk zeigte. Dann packte er das Lenkrad fester und trat aufs Gaspedal. »Ich kann nicht versprechen, dass wir in einem Stück ankommen, aber hinkommen werden wir auf jeden Fall.«

***

Der gelbe Fiat war wie eine Biene in einem Bienenschwarm und ging unter inmitten seiner zahllosen Brüder, von denen er nicht zu unterscheiden war. Er hielt sich fünf Wagen hinter der großen schwarzen Limousine im dichten Verkehr auf der Straße, die parallel zum Bosporus verlief.

Iblis hasste sich dafür, dass er KC erpresste, damit sie nach seiner Pfeife tanzte. Er hasste es, seine Methoden bei der einzigen Person anzuwenden, vor der er Respekt hatte. Er hatte KC immer als einen Menschen betrachtet, der genau wie er war. Sie war intelligent und furchtlos. Von dem Augenblick an, da sie einander zum ersten Mal begegnet waren, hatte er sich ihr innerlich verbunden gefühlt. Zahllose Tage, Wochen und Monate hatte er damit zugebracht, sie zu formen und zu prägen und ihr Kenntnisse zu vermitteln, die er aus schlechten Erfahrungen gesammelt hatte – im Zuge nervenaufreibender Polizeiverfolgungen und durch schiere Verzweiflung. KC war die größte Leistung seines Lebens und der einzige Mensch, der ihn mit Stolz erfüllte.

Iblis griff in die Brusttasche, zog das eselsohrige Foto heraus und stellte es vor sich auf das Armaturenbrett. Er blickte auf die junge Frau, wie er es schon so oft getan hatte, auf ihr blondes Haar und in ihre grünen Augen, die genauso lächelten wie ihr Mund. Das Foto war zehn Jahre alt. Es war an einem strahlenden Sonnentag in Essex aufgenommen worden, bevor KC einen Blick in sein Herz erhascht und die Wahrheit erfahren hatte.

Als Iblis sie vor weniger als einer Woche in Venues Büro erwischt hatte, hatte er weder Wut oder Rage empfunden, noch hatte er sich verraten gefühlt. Stattdessen überwältigte ihn ein bisher nie gekanntes Gefühl der Zuneigung und Wärme, weil er KC nach zehn langen Jahren zum ersten Mal wiedersah. Er war unglaublich stolz auf sie, denn sie tat, was er ihr beigebracht hatte. Und sie tat haargenau das, was er wollte.

Die Neuigkeit, dass Venue den Brief besaß, auf welche Weise er ihn erworben hatte und wo er sich befand, hatte Iblis gezielt in der Katholischen Kirche ausgestreut, weil er wusste, dass die Nachricht irgendwann auch Simon erreichen würde – und seinen Lieblingsdieb, KC. Iblis war sich darüber im Klaren gewesen, dass er sie nicht anrufen und um ihre Hilfe bitten konnte, sowohl die Karte als auch den Caduceus zu stehlen, den Stab des Sultans. KC kannte ihn und seine Schattenseiten, seinen Hang zum Morden. Zehn Jahre waren vergangen, seit sie zum letzten Mal miteinander gesprochen hatten.

Iblis war schockiert gewesen über Venues spontane Entscheidung, sie für ihren Affront töten zu lassen. Aber als Venue seine Kontakte benutzt hatte, um KC ins Staatsgefängnis Chiron zu schicken, und als er den Gefängnisdirektor bestach, sie hinrichten zu lassen, hatte Iblis keine Angst um sie gehabt. Denn er hatte KC ausgebildet, hatte sie geprägt und geformt. Er wusste, dass sie entkommen konnte.

Doch um ein wenig nachzuhelfen, schickte er ein Foto an den Vatikan, das Simon in Fußeisen zeigte – zusammen mit Informationen darüber, wo man ihn gefangen hielt und wann er hingerichtet werden sollte. In KCs Tasche hatte er die Visitenkarte eines gewissen Stephen Kelley gefunden, ein Rechtsanwalt – Iblis hasste Anwälte –, und da er annahm, dass sie die Visitenkarte aus gutem Grund mit sich führte, legte er sie seinem Päckchen Informationsmaterial bei.

Er ging nicht davon aus, dass man für eine Diebin Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, doch für einen Priester … niemand würde untätig herumsitzen, wenn einem Mann Gottes die Hinrichtung drohte.

KC war ein Teil von Iblis’ Plan in Istanbul, einem Plan, den er ohne ihre Hilfe nicht in die Tat umsetzen konnte. Er musste dafür sorgen, dass sie aus Chiron entkam. Nicht, weil er sie gern hatte, sondern um sicherzustellen, dass sie ihm die Hilfe zuteil werden ließ, die er brauchte, um die beiden Diebstähle in Istanbul durchzuziehen. Das gehörte alles zu seinem Plan, und er wagte nicht, Venue in diesen Plan einzuweihen.

Iblis fuhr über die Küstenstraße inmitten einer Armada aus Taxis, die alle auf dem Weg zum Flughafen waren, weil die Fahrer hofften, dort an diesem Abend noch einen Fahrgast aufzugabeln. Während Iblis beobachtete, wie der schwarze Wagen sich durch den Verkehr schlängelte, fragte er sich, was wohl gerade in KC vorging.

Iblis kannte KC. Er wusste, wie sie dachte, was sie empfand, was sie rührte und wovor sie sich fürchtete. Dieses Wissen benutzte er jetzt, um sie zu manipulieren. Sie würde aus Angst nach seiner Pfeife tanzen; sie würde es für ihre Schwester tun, für die sie sogar einen kriminellen Lebensweg eingeschlagen hatte, um sie großziehen zu können. KCs Beweggründe hatten sich niemals geändert. Ob es darum ging, eine Armbanduhr zu klauen, Schulbücher und Lebensmittel für Cindy zu kaufen oder einen antiken Kunstgegenstand zu stehlen, um Cindy das Leben zu retten – KCs Motiv war immer gleich: die Liebe zu ihrer Schwester.

Iblis schob diese Sentimentalitäten beiseite und konzentrierte sich wieder, denn sie hatten den Flughafen Istanbul-Atatürk erreicht. Er beobachtete, wie die Limousine über die Zufahrtsstraße und durch die Tore des Terminals für die Privatmaschinen fuhr, wie sie langsamer rollte und schließlich in einem der privaten Flugzeughangars verschwand. Iblis fand einen Parkplatz, von dem er einen perfekten Blick auf die Türen des Hangars hatte.

Iblis stellte den Motor ab und lehnte sich zurück.

Er hatte keinen Zweifel, dass KC trotz der Gefahr für ihre Schwester und trotz der Tatsache, dass ihr Freund verletzt und in Lebensgefahr war, in Betracht zog, die Karte zu stehlen. Nach der Karte hatten sie und Simon ja schließlich gesucht; sie war der Grund dafür gewesen, dass sie in Venues Büro eingebrochen waren und den Brief gestohlen hatten; sie hatten in Erfahrung bringen wollen, wo sich die Karte befand. Er wusste, dass KC sich trotz aller Furcht und Verzweiflung nicht so leicht zum Spielball würde machen lassen. Sie würde sämtliche Karten in der Hand behalten wollen.

Iblis fand die Herausforderung unwiderstehlich, mit seiner ehemaligen Schülerin ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu veranstalten und sich einen geistigen Wettstreit mit ihr zu liefern. Er war begeistert, sie wiederzusehen. Jedes Mal, wenn er sie erblickte, schlug sein Herz schneller. Nur war das hier kein Spiel, und er hatte nicht die Absicht, ihr die Piri-Reis-Karte zu überlassen, die unter den Mauern des Topkapi-Palasts versteckt war.

So gern er KC auch hatte, so sehr er sie im Grunde liebte – wenn sie ihn betrog und ihn daran hinderte, seine Aufgabe zu erfüllen, würde er keine Bedenken haben, sie zu beseitigen und ihr das Herz aus der Brust zu reißen.

***

Michael stand im Mittelgang des Boeing Business Jets. Er zog den Teppich zurück, und eine große rechteckige Fußbodenplanke kam zum Vorschein, die er mit wenigen Handgriffen aufschraubte. Er hob die Metallplatte an, unter der sich eine Vielzahl elektronischer Kabel und Kästchen verbarg, griff mit beiden Händen hinein und hob heraus, was wie eine elektronische Schaltanlage aussah. Im nächsten Moment fiel sein Blick auf einen anderthalb mal zweieinhalb Meter kleinen Lagerraum. Es war eng darin, doch ließen sich dort all die Dinge verstauen, die man niemals durch eine Sicherheitskontrolle hätte schleusen können. Michael kletterte in die schmale Öffnung und reichte drei große schwarze Reisetaschen nach oben, die Busch in Empfang nahm.

Busch zog den Reißverschluss der ersten Tasche auf, die mit einem goldenen Anhänger versehen war, wühlte sich durch Kletterausrüstung bis zum Boden, zog ein Messer heraus, das in einer Scheide steckte, sowie einen Kompass und zwei Rollen Seil. Er öffnete die nächste Tasche, in der er mehrere Pistolengürtel fand und kartonweise Munition.

»Mein lieber Mann«, sagte Busch. »Gut, dass du nicht mit normalen Fluglinien unterwegs bist.«

Michael ignorierte seinen Freund, kletterte aus dem Bauch des Jets und öffnete die dritte und letzte Tasche: Sie war vollgepackt mit elektronischen Geräten und technischen Spielereien, einer Tauchausrüstung und vier Lehmklumpen, die mit durchsichtiger Plastikfolie umwickelt waren. Michael überprüfte den Inhalt der drei Taschen und prägte sich genauestens ein, was jede enthielt. Er setzte sich und dachte einen Moment nach. Dann stand er auf, ging ins Heck des Flugzeuges und kam mit vier Lederröhren zurück, die jeweils einen Meter lang waren. Jede der Röhren besaß einen Schultergurt aus Leder und sah wie eine Transportrolle aus, wie sie für Bauzeichnungen benutzt wird. Michael öffnete sie. Eine Stahlröhre kam zum Vorschein, die man an der Oberseite aufdrehen und luftdicht verschließen konnte.

»Ist das dein Täschchen für alle Tage, um gestohlene Gemälde zu transportieren?«, scherzte Busch.

»Sehr witzig. Aber sie sind tatsächlich für den Transport von Gemälden. Sie sind wasserfest, und man kann sie luftdicht verschließen.«

Michael warf sie in die erste Reisetasche. Er zog die Reißverschlüsse der Taschen zu und drückte die angebliche elektronische Schaltanlage wieder an ihren Platz. Dann schloss er die Fußbodenplanke, drehte die Schrauben fest, legte den Teppich, der von Wand zu Wand reichte, wieder richtig hin und drückte ihn mit dem Fuß glatt.

»Jetzt gibt es kein Zurück mehr«, sagte Busch und reichte Michael den Kompass und das Messer.

»Das gab es schon vor Stunden nicht mehr«, erwiderte Michael und ließ den Kompass und das Messer in seine Jackentasche gleiten. Er warf sich die zwei Rollen Seil über eine Schulter, eine der schwarzen Taschen über die andere, und eilte aus der Jettür nach draußen.

Busch hievte die verbleibenden zwei schwarzen Taschen vom Boden und trug sie über die Gangway des Jets nach unten. Dort warf er sie neben Michaels Tasche in den offenen Kofferraum der Limousine. Er schloss den Kofferraum und blickte durch die Heckscheibe auf KCs Hinterkopf. Dann drehte er sich zu Michael um.

»Der Augenblick, an dem es für dich kein Zurück mehr gab, war vor sechs Wochen, als du das Mädchen geküsst hast.«