48.

Michael betrat den Tempel. Er war riesig, und es war stockdunkel im Innern. Hohe Säulen erhoben sich zu beiden Seiten des Mittelganges, der auf einen breiten Altar zuführte. Von der sechs Meter hohen Decke hingen an schweren Ketten große, runde Käfige, in denen Lichter glommen, die den Raum schwach beleuchteten. An der Wand brannten Hunderte Kerzen; der Schein ihrer kleinen Flammen brach sich im Messing der Halter, in denen sie steckten. Der Duft von Weihrauch lag in der verrauchten Luft, die aufstieg und durch die Decke des Gotteshauses abzog.

Als Michael durch das Mittelschiff schritt, erwartete er, vor dem Hochaltar einen Buddha zu erblicken, aber da war nichts – weder ein Kruzifix noch ein Kreuz, kein Tabernakel und auch keine obskure Gottheit. Da waren lediglich ein paar violette und tiefrote Kissen auf dem Fußboden aufgestapelt.

Der Altarraum war riesengroß, über dreißig Meter tief und ebenso breit. Es gab weder Kirchenbänke noch Stühle, wohl aber einzelne Gebetsteppiche, etwa fünfzig an der Zahl. Sie waren Kunstwerke aus fein gewobener Wolle und lagen zu beiden Seiten des Gangs auf dem Fußboden.

Michael ging bis zum Rand des erhöhten Podiums und schaute auf den Altar. Er betrat ihn aus Respekt nicht: Es stand außer Zweifel, dass dies hier ein Gotteshaus war, eine heilige Stätte für die Gesalbten oder diejenigen, die für würdig gehalten wurden.

Und dann sah Michael das Blut: Es war frisch und klebte an der Rückwand der heiligen Stätte und auf dem dunkelgrauen Boden des Altarraums.

Hier lebten Menschen, Mönche, aber vor denen fürchtete Michael sich nicht; es waren Iblis und seine Männer, die eine Bedrohung darstellten und Michael nervös machten. Michael zog seine Waffe, die im Kreuz an seinem Gürtel hing, und entsicherte sie. Dann zog er seinen Rucksack straffer an den Körper und bewegte sich in Richtung eines Gangs, der sich zu seiner Linken auftat. Bevor er ihn betrat, presste er seinen Körper an die Wand und lauschte, doch war es totenstill im Tempel.

Von dem steinernen Gang gingen zahlreiche weitere Gänge ab; ohne nachzudenken, lief Michael in den Tunnel links hinein.

Er gelangte in ein rundes Vestibül. In Wandhalterungen hingen Fackeln, deren orangefarbener Schein sich auf einem prachtvollen Fußboden spiegelte, auf dem Mandalas – mit goldenen Intarsien verzierte, kreisförmige und quadratische symbolische Gebilde – von den Mysterien der Himmel erzählten. Als Michael den Kopf in den Nacken legte und zur Decke blickte, entdeckte er dort die exakt gleichen Darstellungen. Sie waren sehr komplex und aufwendig und repräsentierten die metaphysische Struktur des gesamten Kosmos. Die Wände waren aus glänzendem Stein. Sieben Gänge zweigten von dem runden Raum ab, wie die Speichen eines Rades. Michael lauschte, hielt den Atem an und rührte sich nicht, hörte aber nichts.

Zögernd betrat er den ersten Gang, der gänzlich im Dunkeln lag, zog seine Taschenlampe heraus und knipste sie ein. Der Lichtschein geisterte durch einen langen Korridor, der sich mal nach links, mal nach rechts wand. Michael ging mindestens hundert Meter weit, bis er eine massive Holztür erreichte. Er umfasste den Eisengriff, zog die Tür auf und fand sich in einem großen runden Raum wieder, über dem sich in viereinhalb Metern Höhe eine Decke wölbte und an dessen Wänden zahlreiche Regale standen.

Als Michael mit der Taschenlampe in den Raum hineinleuchtete, erstrahlte er, als würde die Sonne darin aufgehen. Überall blitzte und schimmerte es; das gelbe Licht spiegelte sich und schien ganz von allein immer mehr und heller zu werden. Strahlendes Gold in seiner reinsten Form häufte sich auf den Regalen an den Wänden. Da waren Kelche und Teller, Schilde und Dolche, Juwelen und religiöser Zierrat, Barren und Platten. Es war ein unverschlossener Lagerraum, der Werte enthielt, die Michael gar nicht ermessen konnte. Wenn es dieses Gold war, hinter dem Venue so verbissen her gewesen war, würde es ihn reicher machen, als selbst er sich hätte erträumen können. Nur fürchtete Michael, dass Venues eigentliches Ziel ein anderes war. Er war hinter etwas her, was einen noch viel größeren Wert hatte.

Michael schloss die Tür wieder und eilte zurück in den Mandala-Raum, nahm den nächsten Gang und lief wieder an die hundert Meter, bevor sich ihm dort ein gänzlich anderer Anblick bot.

Diese Tür war breit und dick. Massive Eisenscharniere hielten ihr Gewicht, und zu Michaels großem Erstaunen verfügte sie über ein gewaltiges Fallriegelschloss. Es bestand aus vier Stiften, die auf der Außenseite der Tür ruhten und in den steinernen Türrahmen reichten; die Verkreuzung der Stifte wurde in der Türmitte von einem komplexen Zahnrad zusammengehalten, in dem sich ein großes Schlüsselloch befand.

Während Michael die schlichte Machart bewunderte, fragte er sich, warum man die Tür nicht zusätzlich gesichert hatte, denn sie stand weit offen: Das stählerne Schloss war von Pistolenkugeln zerschmettert worden.

Wenn ein Raum, der Gold im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar enthielt, kein Schloss besaß, welchen Wert hatte dann das, was sich in diesem Raum befand?

Michaels Frage wurde beantwortet, als er den Raum betrat. Er war wesentlich größer als einer der anderen Räume und die eigentliche Schatzkammer des Klosters. Dies hier war der Raum des Wissens, der Raum der Geschichte. Als Michael langsam umherging und den Blick schweifen ließ, wurde ihm bewusst, dass in diesem Raum Wissen aufbewahrt wurde, das weit älter war als alles, was der Menschheit jemals enthüllt worden war. Auf Regalen, die kein Ende zu nehmen schienen, lagen Schriftrollen und Pergamente, Velinpapiere und Bücher, sogar Steintafeln. Alle waren akribisch sortiert und in fünf verschiedenen Sprachen beschriftet: in Latein, Aramäisch, Englisch, in einer orientalischen Sprache sowie einer Sprache, die Michael unbekannt war: Die größten und ältesten trugen Schriftzeichen, die er nie zuvor gesehen hatte. Die Beschriftungen repräsentierten die Sprache im Laufe der Zeitalter, reichten von der Ursprache durch die gesamte Evolution und spiegelten den ständigen Wechsel in der Vorherrschaft der Weltkulturen.

Außerdem sah Michael schlichte Holztische, Bänke und Spiegel, die man strategisch so perfekt aufgestellt hatte, dass sie das Fackellicht reflektierten, das in sicherer Entfernung von den brennbaren Materialien aus den durchlüfteten Steineinbuchtungen fiel.

Michael ging umher, schaute sich die Beschriftungen auf den einzelnen Regalen an und fand Literatur über das Christentum und das Judentum, über den Hinduismus und den Buddhismus sowie über Religionen, von denen er noch nie gehört hatte. Außerdem gab es Literatur über Gebete, Meditation und göttliche Intervention sowie Hinweise auf und Beweise für das Leben nach dem Tod. Da waren handschriftliche Dokumente von Moses, Gautama Buddha und Jesus Christus, verlorene Evangelien und die philosophische Abhandlung des Mein Na.

Wenn die Zehn Gebote als Heiligtümer in der Bundeslade versteckt wurden, so war dieser Raum, im Inneren dieses Tempels, im Herzen eines der höchsten Berge der Welt, der Aufbewahrungsort eines Wissens, das tausendmal größer, sehr viel monumentaler und umso heiliger war. Die Welt hatte nie etwas gelesen, was Jesus selbst geschrieben hatte, nur die Interpretationen und Beobachtungen seiner Jünger und Chronisten, die Jahre später verfasst worden waren. Die Lehren Buddhas waren auf die gleiche Weise niedergeschrieben worden – von seinen Gefährten, nicht von ihm persönlich. Die Zehn Gebote waren das Einzige, wovon man wusste, dass Gott selbst sie geschrieben hatte.

Aber jetzt, in diesem Raum, durch die Heiligkeit und wahrhaftige Göttlichkeit dessen, was er enthielt … Es war, als hätte Michael die Bibliothek des Himmels betreten.

Das Material besaß nicht nur gewaltigen Umfang, es war auch allumfassend und beschäftigte sich mit den verschiedensten Spielarten des Glaubens und sämtlichen Ansichten und Interpretationen, was ein Leben nach dem Tod anging. Und da waren nicht nur Schriften über Gott und Allah, über das Paradies und das Streben nach Erleuchtung. Da waren Pergamente und Schriftrollen über die Teufel der Weltreligionen: Azazel, Luzifer, Abaddon, Beliar, Satan, Angra Mainyu, Asmodäus, Beelzebub und der islamische Name, dessen sich KCs Lehrmeister bemächtigt hatte, Iblis. Da waren Bücher über Schaitan, Baphomet, Mastema, Chutriel, Mephistopheles, den Anti-Christen. Sie klangen wie die Titel schlechter Horrorfilme, nur wusste Michael, dass sie nichts dergleichen waren. Loki, die nordische Gottheit des Listenreichtums und der Gerissenheit; Angat, ein Teufel Madagaskars; Arawn, der walisische Fürst der Unterwelt; Czorneboh, der slawische Teufel und Schwarze Gott; Mara, der Dämon, der Buddha in Versuchung geführt hatte; die babylonische Gottheit Nergal, die über die Toten regierte; Ördög, der ungarische Teufel; Pazuzu, der assyrisch-babylonische Dämon, halb Mensch und halb Tier; Vritra, der Gegenspieler in der vedischen Religion; der keltische Dämon Púca; Samnu, der Dämon der Bewohner Zentralasiens; Supay, der Inkagott der Unterwelt; T’An Mo, das chinesische Gegenstück zum Teufel, und schließlich Sedit, ein Teufel der amerikanischen Indianerstämme. Hier fand sich alles über ihre Geschichte, und hier lagen ihre Biografien in unvorstellbarer Ausführlichkeit.

Endlich gelangte Michael an das Ende der Bibliothek, wo leere Regale auf neue Bücher und Schriften warteten, die von den Mysterien der Welten über und unter der Erde erzählten. Michael drehte sich um und wandte sich zum Gehen, als er noch einmal stehen blieb und sich zurückdrehte, denn plötzlich wusste er, warum man die Tür zu diesem Aufbewahrungsort himmlischen Wissens aus den Angeln gerissen hatte.

Michael wurde bang ums Herz, als er auf die leeren Regale zuschritt. Die so unübersehbar leeren Fächer warteten nicht auf neue Schriften; die Regale waren bereits gekennzeichnet. Es gab Hunderte von Etiketten, doch die Werke, auf die sie sich bezogen, waren nicht mehr da. Der leere Bereich war gewaltig, mindestens drei Meter breit und zwei Meter hoch. Es war eine Sammlung kostbarer Schriften, die man über Jahrtausende zusammengetragen hatte, seit Anbeginn der Menschheit. Und es war ausgerechnet jener Themenbereich, der sich unter dem Begriff »das Böse in jeder nur denkbaren Form« zusammenfassen ließ. »Dämonen« und »Finsternis« stand auf den Etiketten, »Hexerei« und »Heimtücke«, »Gefallene Engel« und »Wiederauferstandene Teufel«. Da waren Gebete und Zauberformeln, mit denen der Teufel und die unheiligen Kreaturen der Hölle beschworen werden konnten. Etiketten, auf denen zu lesen war: »Die Worte Luzifers«, »Das Evangelium Satans«, »Der Weg in die Hölle«, »Wie man Pazuzu beschwört«, »Besessenheit« und »Die Vergewaltigung der Seele«.

Als Simon erzählt hatte, was sich angeblich in den Mauern dieses Tempels befand, hatte Michael seine Zweifel gehabt. Doch als er jetzt auf die leeren Regale blickte, die vor ihm standen, und las, welche Bücher, Schriftrollen und Pergamente fehlten, war er vor Furcht wie gelähmt. Venue war nicht nur wegen des Goldes hier; er war hier wegen der Macht und der Geheimnisse. Er war hier, um die Pforten zur Hölle zu öffnen.

Michael wich zurück und drehte sich hastig um, von Nervosität erfüllt. Er wusste nicht, warum, aber ihn befiel plötzlich eine Angst, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte und die sich nicht erklären ließ, weil sie völlig irrational war. Er packte seine Pistole so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und sah sich suchend um. Er musste KC finden und sie hier herausschaffen. Er musste sie in Sicherheit bringen und dann zurückkommen, um Venue und Iblis von der Verwirklichung ihrer Pläne abzuhalten, wie immer diese Pläne aussehen.

***

Michael eilte durch den steinernen Gang zurück in den Mandala-Raum und ging nacheinander durch jeden der Korridore, die wie Speichen von dem runden Vestibül abzweigten, um nach KC zu suchen. Er fand einen Raum voller Silber; einen Raum, der mit Juwelen, Edelsteinen und Halbedelsteinen gefüllt war, sowie einen Raum, in dem Getreide und Lebensmittel gelagert wurden, wodurch ihm klar wurde, dass die Bezeichnung »Berg der fünf Schätze« wörtlich zu nehmen war.

Als er wieder in den kreisrunden Raum kam, verharrte er einen Moment; es blieben jetzt nur noch zwei weitere Gänge. Michael fühlte sich wie der Minotaurus, auf ewig gefangen in einem sich windenden Labyrinth. Eine Tür führte zu einer Treppe, die nach unten ging; die andere führte nach oben.

Michael legte den Kopf zur Seite und horchte auf Geräusche, auf irgendeinen Hinweis darauf, wo KC sein könnte. Da er nichts hörte, eilte er nach oben und schaute dabei nach rechts, links und hinter sich. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er umklammerte seine Pistole noch fester. Er erreichte einen Treppenabsatz, der in einen leicht abschüssigen Gang führte, von dem zu beiden Seiten zahllose Türen abgingen, aber die Treppe führte noch weiter nach oben. Also stieg Michael höher, gelangte in die dritte und oberste Etage und fand sich in einem Raum wieder, der von Kerzen erleuchtet wurde und im gesamten Rund über Fenster verfügte, die Ausblicke in sämtliche Himmelsrichtungen boten. Für den Moment hatte der Sturm nachgelassen; das Licht des Sonnenuntergangs tauchte das Tal in einen grandiosen goldenen Glanz, flutete durch die gewölbten Glasscheiben in den Raum und ließ ihn in sämtlichen Farben des Regenbogens schillern.

Zwischen den einzelnen Fenstern waren die Wände mit Kunstwerken geschmückt, die sämtlichen Religionen huldigten: Christentum, Judentum, Islam, Zarathustrismus, Hinduismus, Buddhismus. Michael schaute sich die Darstellungen genauer an. Unter den Kunstwerken hingen Texte, die in den verschiedensten Sprachen verfasst waren und Geschichten erzählten. Da waren Zeichnungen, die Mönche zeigten, die in dem offenen Altarraum im Untergeschoss knieten. Bilder von magischen Sonnenaufgängen und mystischen Sonnenuntergängen. Eine Zeichnung zeigte einen bärtigen Mann mit langem Haar, dessen helle Haut sich stark von der dunklen Hautfarbe der Mönche unterschied, die mit ihm im Raum saßen – hier, in diesem Raum. Der ganze Mann strahlte, wie er so dasaß, mit ausgestreckten Armen, nach oben gerichteten Handflächen und einem Heiligenschein.

Ein indischer Prinz, der ein bodenlanges und farbenprächtiges, allerdings zerrissenes Gewand trug, unterhielt sich im Tempelgarten mit Männern unterschiedlichster Herkunft, während um sie her Vögel flatterten und Tiere spielten.

Ein hochgewachsener Mann mit langem, weich fallendem, weißem Haar und ebensolchem Bart stand auf einem Berg und umfasste mit den Händen einen langen Stab.

»Hallo, Michael«, rief eine freundliche Männerstimme.

Michael drehte sich um.

Der Mann war mittelgroß, sein dunkles Haar bürstenkurz. Er trug ein weites grünes Seidengewand, das bis zum Boden reichte. Die Ärmel und der Kragen waren mit Gold besetzt. Seine Haut besaß die Farbe von dünnem Tee, seine Gesichtszüge waren eine Mischung sämtlicher asiatischer Kulturen, und seine nackten Füße waren breit und schwielig. Aus seinen Augen sprach Weisheit, die durch ein unfassbar hohes Alter erlangt worden war. Trotzdem zeigte sein Gesicht keine nennenswerten Falten; abgesehen von einer Narbe auf der rechten Wange war die Zeit an der Haut des Mannes spurlos vorübergegangen.

Michael hatte das Gefühl, als drehe die Erde sich plötzlich viel langsamer, als werde die Zeit von Beschaulichkeit bestimmt und als wäre die Luft erfüllt von stillem Frieden.

Michael betrachtete den Mann, schaute auf die Skizzen und Gemälde an der Wand, blickte hinaus über das offene Tal und schaute den Mönch dann wieder an.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Michael mit gedämpfter Stimme.

»Ein Ort, an dem gebetet wird, an dem Gott gedient und studiert wird. Eine Welt des Gleichgewichts.«

»Das sehe ich«, erwiderte Michael voller Respekt. »Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine, obwohl ich die Frage wahrscheinlich gar nicht hätte stellen müssen, nicht wahr?«

Der Mann lächelte. »Dann kennen Sie die Antwort also schon.«

»Shambhala?«

»Die Menschen haben sich Namen ausgedacht und Idealvorstellungen entwickelt. Manche kamen der Wahrheit sehr nahe, andere hätten gar nicht weiter von ihr entfernt sein können …« Der Mann lächelte. »Dieser Ort hat keinen Namen, und doch hat er viele.«

»Ich verstehe nicht.«

»Spielt es eine Rolle, ob Sie es verstehen? Hinterfragen Sie, warum Sie an Gott glauben? Hat Ihnen irgendjemand jemals einen unbestreitbaren Beweis geliefert, dass Gott existiert?«

Michaels Schweigen beantwortete die Frage.

»Und doch sind Sie sich ganz sicher.«

»Mehr als je zuvor, nachdem ich diesen Ort jetzt gesehen habe.« Michael war in Gedanken verloren. »Sie wissen, dass ich an Gott glaube. Aber mein Gott, der Gott meiner Religion …« Es fiel Michael schwer, seinen Gedanken zum Ende zu führen.

»Es liegt in der Natur des Menschen, allem einen Namen zu geben«, sagte der Mönch. »Jede Religion ist darauf aus, Gott zu ihrem persönlichen Eigentum und ihren Gott zum Größten überhaupt zu machen.«

»Und wer hat recht?«

Der Mönch lächelte. »Alle haben recht.«

Michael erwiderte das Lächeln, als befänden sie sich in einem Spiel, bei dem es galt, sich philosophischen Herausforderungen zu stellen. Schließlich wies er auf die Darstellungen an der Wand. »Diese Bilder sind wunderschön. Wer sind diese Männer?«

»Sie stellen wieder eine Frage, deren Antwort Sie bereits kennen.«

»Ja, aber dieser hier.« Michael zeigte auf den Mann mit dem dunklen Bart und der weißen Haut. »Wie kann das sein?«

»In seinem Leben gibt es achtzehn Jahre, über die man nichts weiß«, erwiderte der Mönch lächelnd.

»War er denn hier?«

»Er hat viele Orte bereist. Ein Mensch, der seine Weisheit mit anderen teilen und von der Welt lernen möchte, reist viel und in ferne Länder.«

Michael blickte noch eine Weile auf das Bild und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf den Mann in dem zerrissenen Gewand. »Und dieser Mann …«

»Michael«, fiel der Mönch ihm ins Wort. »Nicht alles ist friedlich hier. Nicht alles ist, was es zu sein scheint.«

»Wie alt ist dieser Ort?«

»Er wurde vor der Zeit gebaut, an die der Mensch sich erinnern kann, und zwar, um einen Riss in der Erde zu verbergen.«

»Er fühlt sich so …«, Michael suchte nach dem richtigen Wort, »… so heiter an, so friedlich.«

»Obwohl Sie den Frieden des Himmels spüren, liegt die Qual der Hölle unter unser beider Füße. Und es ist jemand hergekommen, um die Hölle neu zu erwecken und auf die Welt loszulassen. Um die Geheimnisse zu stehlen, die seit Jahrtausenden hier versteckt sind.«

»Wo sind sie denn alle?« Michael trat ans Fenster und blickte über das Gelände, das er gerade noch für so friedlich gehalten hatte, das ihm jetzt aber plötzlich so vorkam, als künde es von drohendem Unheil.

»Die Menschen, die hier leben, sind als Geiseln genommen worden. Einer ist tot.«

»Und die Leute, die dafür verantwortlich sind?«

»Die warten. Auf Sie.«

»Was?«, fragte Michael und umklammerte instinktiv den Griff seiner Pistole. »Wo?«

»Sie dürfen nicht zulassen, dass diese Leute hier irgendetwas stehlen.«

»Ich bin unten in Ihren Räumen gewesen. An das Gold können sie problemlos heran, und der Schatz …«

»Diese Dinge interessieren mich nicht.«

»Ich bin auch in Ihrer Bibliothek gewesen. Das Türschloss ist aufgebrochen worden. Da sind Regale, die mit Etiketten markiert sind, auf denen Dinge stehen, die ich mir niemals hätte vorstellen können.« Michael stockte. »Die Regale sind leer«, sagte er dann. »Venue hat bereits …«

Der Mönch hob die Hand. »Sie haben nichts, was von wirklichem Wert ist. Diese Gegenstände – die Schriftrollen, Pergamente und Bücher – sind vor nahezu fünfhundert Jahren fortgeschafft worden. Man hat sie sehr gut versteckt, in einem Raum, den sie niemals finden werden.«

Der Mönch schaute Michael an. Sein Blick war sanft, beinahe väterlich; trotzdem lag eine Warnung darin.

»Nichts darf aus dem untersten Stock dieser heiligen Stätte genommen werden. Das würde die Pforten zur Finsternis öffnen und eine ansteckende Krankheit freisetzen, die den Menschen den Verstand rauben und sich auf der ganzen Welt ausbreiten würde. Venue strebt nicht nur nach Reichtum, sondern auch nach göttlichem Wissen, nach der Macht der Finsternis.«

Michael spürte mit einem Mal, dass der Rucksack über seiner Schulter immer schwerer wurde. Schuldgefühle überkamen ihn. Er drehte dem Mönch den Rücken zu und schaute noch einmal auf die Bilder an den Wänden, blickte aus den Fenstern nach draußen auf die unfassbare Welt zu ihren Füßen. In seinem Hirn herrschte ein einziges Chaos, und er hatte schreckliche Angst um KC. Nur sie hatte er retten, aus der Gewalt ihres Vaters befreien und von diesem Ort wegschaffen wollen, aber jetzt lagen ihm die Worte des Mönches wie ein Stein auf dem Herzen. Der Mann schien in der Lage zu sein, seine Gedanken zu lesen, als würde er seine Absichten kennen und als wüsste er genau, was sich in Michaels Rucksack befand.

»Sie kommen.«

»Wer?« Michael blickte zur Tür und hob seine Pistole.

»Eines dürfen Sie auf keinen Fall vergessen, Michael: Halten Sie sich immer im Licht. Und hören Sie nicht auf die Stimmen, denn sie werden Sie belügen und Ihnen alles versprechen, was Ihr Herz begehrt. Die Stimmen wissen, was Sie wollen und was und wen Sie lieben.«

Michael beobachtete den Mönch aus den Augenwinkeln, nur war er plötzlich nicht mehr da: An der Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte, fielen helle Sonnenstrahlen durchs Fenster.

»Michael?«

Michael drehte sich um und erblickte KC. Sie stand im Türrahmen, allein. Das Licht der Kerzen funkelte in ihren feuchten Augen. Sie blickten einander an. Michael wurde von Erleichterung übermannt.

»Was tust du denn hier?«, fragte KC schließlich in ärgerlichem Tonfall.

Michael, verwundert über den rüden Empfang, fragte: »Alles in Ordnung?«

Als er auf sie zutrat, erwachte die Dunkelheit hinter ihr plötzlich zum Leben. Vier Wachmänner standen im Korridor. Als sie in den Raum stürmten, kamen hinter KC drei weitere Personen zum Vorschein: Iblis, Venue und Cindy.