37.

Das Krankenhauszimmer war steril weiß, und in der Luft hing der Geruch von Desinfektionsmitteln. Das Atatürk-Hospital war ein altes Gebäude – manche Leute witzelten, es sei noch älter als die historischen Moscheen –, aber die Ärzte, die dort arbeiteten, zählten zu den besten nicht nur in Istanbul, sondern in ganz Europa.

Simon lag im Bett; er wurde durch eine Infusion mit Flüssigkeit versorgt. Auf dem Fensterbrett stand ein Tablett mit einem zur Hälfte verzehrten Sandwich. Simons Kopf war bandagiert, doch sein Gesicht hatte wieder Farbe bekommen, und seine blaugrauen Augen sprühten wieder vor Leben.

Busch saß auf einem billigen gelben Stuhl, der so aussah, als wäre er nicht stabil genug für seine hünenhafte Statur. Die Beine hatte er auf Simons Bett gelegt und lang ausgestreckt.

Beide lachten gerade aus vollem Halse, als Michael das Zimmer betrat und sich vor Simon aufbaute. Er hatte einen Aktenkoffer bei sich, dessen Griff er so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Einen Augenblick schaute er zwischen seinen beiden Freunden hin und her; dann fragte er: »Kann mir einer von euch sagen, was hier vorgeht?«

»Was meinst du damit?« Simon war sichtlich verwirrt.

»KC ist verschwunden.«

»Was?« Busch zog die Beine von Simons Bett und setzte sich aufrecht. »Und was ist mit der Karte und dem Stab?«

»KC hat mich aufs Kreuz gelegt.«

Auch Simon setzte sich nun auf. »Glaubst du wirklich?«

»Sie hat das Schloss zu meiner Hotelsuite geknackt und die Lederrolle gestohlen, als ich unter der Dusche stand. Und die Karte ist ebenfalls verschwunden.« Michael schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Er war in KCs Zimmer geeilt und hatte festgestellt, dass die Piri-Reis-Karte ebenfalls verschwunden war, was seine Verwirrung auf die Spitze getrieben hatte.

Simon griff nach dem Telefon, das neben ihm auf dem Nachttisch stand, und wählte die Neun. »Können Sie mich bitte mit dem Polizeipräsidium Istanbul verbinden?« Er wartete einen Moment. »Ich rufe wegen einer Verhaftung an, die vor ein paar Stunden vor der Blauen Moschee vorgenommen wurde«, sagte er dann, hielt inne und hörte zu. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, das wusste ich nicht.« Wieder schwieg er und lauschte aufmerksam. Dabei wurde seine Miene immer ernster. »Selbstverständlich. Sollte das der Fall sein, wären Sie der Erste, dem ich es mitteilen würde.«

Simon legte auf und blickte Michael an.

»Glaubst du, dass Iblis sie entführt hat?«, fragte Michael.

»Nein, nicht KC. Die lässt sich nicht so einfach entführen.« Simon atmete tief durch. »Iblis will sie kontrollieren, im Griff haben. Er muss ihre Schwester in seiner Gewalt haben.«

»Schon wieder? Wie kann das denn ein zweites Mal passieren?«

»Es ist nicht, wie du denkst«, sagte Simon mit unheilvoller Miene. »Ich glaube, dass Cindy mit Iblis zusammenarbeitet. Er hat sie verführt.«

»Was?«, stieß Busch angewidert hervor.

»Nicht sexuell, aber auf jede andere Art und Weise.« Simon schwieg einen Moment. »Sie haben sich unterhalten«, fuhr er dann fort. »Und er hat ihr die Karte gezeigt und ihr alles darüber erzählt. Ich war gerade noch bei Bewusstsein, habe aber genau zugehört, was er zu sagen hatte. KC hat dich nicht betrogen. Aber ihre Schwester. Sie hat jeden betrogen.«

***

KC saß auf einem breiten Bett in der Heckkabine eines luxuriösen Privatflugzeugs.

Sie hatte das Four Seasons Hotel Istanbul mit den zwei ledernen Transportrollen verlassen; die eine war leer gewesen, in der anderen steckte der Sultansstab, den sie sich aus Michaels Hotelsuite geholt hatte. Sie ging auf die offene Tür der wartenden Limousine zu, zögerte aber einen Moment, bevor sie einstieg. Sie und der Chauffeur, der neben dem Wagen stand, funkelten einander zornig an, denn die Pistole, die sichtbar an seinem Gürtel hing, vermochte ihr keine Angst einzuflößen. Als es allen zu lange dauerte, wurde plötzlich in der schwarzen Mercedes-Limousine, die auf der anderen Straßenseite stand, eines der Fenster geöffnet, und KC sah Cindy, die zwischen zwei bulligen Schlägern saß, Iblis’ Männern. Mehr Druck brauchte man auf KC nicht auszuüben: Sie stieg in den Wagen.

Der Chauffeur brachte sie geradewegs zum Flughafen Istanbul-Atatürk, ohne dass beide während der fünfundzwanzigminütigen Fahrt auch nur ein Wort wechselten. Sie hielten an der Rückseite des privaten Terminals, in dem mit laufenden Motoren ein Royal Falcon Business Jet stand; die Auspuffgase umflimmerten die Tragflächen.

Der Chauffeur öffnete wortlos die Tür und bedeutete KC mit einer Geste, in die Maschine zu steigen. Sie nahm zwei Stufen auf einmal, lief die Gangway hinauf und betrat die Falcon. Eine blonde Stewardess führte sie in den hinteren Teil der Maschine in eine Privatkabine. Die Wände waren mit gemasertem Kiefernholz getäfelt, und in der Mitte stand ein französisches Bett. Bevor KC sich auch nur hätte umdrehen können, wurde die Tür zugeschlagen.

Inzwischen war über eine Stunde vergangen, und noch immer hatte niemand mit ihr gesprochen.

KC hielt die beiden Lederröhren fest in den Händen und fragte sich, wohin sie ihre Schwester dieses Mal verschleppt hatten.

Die Maschine ruckte an und begann zu rollen. Mit ohrenbetäubendem Lärm drehten die Motoren voll auf; dann schoss der Jet über die Startbahn und stieg steil zum Himmel. KC klammerte sich am Bett fest, während die Fliehkraft sie auf die Matratze drückte. Sie schaute aus dem kleinen Fenster und sah Istanbul tief unter sich zu zwei Halbinseln schrumpfen.

KC dachte an Michael und an die Wut und Verwirrung, die er empfinden musste, weil sie so plötzlich verschwunden war und das gestohlen hatte, um das sie so schwer gekämpft hatten, damit es Iblis nicht in die Hände fiel. Aber es ging um ihre Schwester; einmal mehr bestimmte Cindys Wohlergehen KCs Leben, wie es immer schon gewesen war.

Je höher der Jet in den blauen Himmel stieg, desto deutlicher erkannte KC, dass sie ihre einzige Chance auf ein richtiges Leben hinter sich ließ. Sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab von dem Ort, an den man sie jetzt brachte, wo immer dieser Ort auch sein mochte, denn die Aussicht, dass sie überlebte, war gering.

Die Tür wurde geöffnet, und Iblis kam herein. Lächelnd blickte er KC an. Er hatte Blutspritzer im Gesicht, und seine Unterarme sahen aus, als wären sie mit tiefroter Farbe bemalt. Doch seine Hände waren überraschend sauber, was sich auf seltsame Weise vom Rest seines makaberen Erscheinungsbildes abhob. An der rechten Hand trug er einen kleinen Aktenkoffer aus Leder, als wäre er hergekommen, um geschäftlich ein bisschen mit KC zu plaudern.

»Wo ist meine Schwester?«, fuhr KC ihn an.

»Es geht ihr gut. Entspann dich.« Iblis stellte den Aktenkoffer auf den Nachttisch.

»Wo ist sie?«, wiederholte KC noch aggressiver.

»Sie ist vorn.«

»Ich will sie sehen«, verlangte KC.

Im nächsten Moment stand Cindy wie aus dem Nichts im Türrahmen. Sie sah weder mitgenommen noch erschöpft aus. Die Schwestern starrten einander an, ohne jede Regung, während die Sekunden verrannen.

Schließlich schloss Iblis die Tür und machte der peinlichen Begegnung damit ein Ende. Dann baute er sich vor KC auf und nahm ihr wortlos die beiden Lederrollen ab. Sein Blick irrte zwischen ihr und den beiden Behältnissen hin und her. »Der Lehrer ist immer der Stärkere.«

Er nahm den Deckel von der ersten Röhre, griff hinein und zog die Stange heraus. Er ging behutsam damit um, untersuchte die Schlangenköpfe und vergewisserte sich, dass die Silberzähne dieses Mal echt waren. Dann bestaunte er die mit Juwelen besetzte Haut der Schlangenkörper und steckte den Stab zurück in die Röhre. Vorher spähte er angestrengt in die Röhre und musterte KC mit enttäuschten Blicken. »Was denn, kein Diamanthalsband?«

KC drehte den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster; die Welt unter ihr wurde kleiner und kleiner.

»He!«, rief Iblis in gespieltem Erschrecken, nachdem er den Deckel der zweiten Rolle entfernt hatte. »Hier scheint ja was zu fehlen.«

KC blickte ihn an, sagte aber nichts.

»Wo ist sie?«, fragte Iblis. »Mach den Mund auf, KC. Es ist nicht ratsam, in zehntausend Metern Höhe Spielchen zu treiben.«

»Ich habe sie nicht.«

»Lass mich raten. Jemand hat sie dir gestohlen.«

»Ich sagte, ich habe sie nicht«, wiederholte KC trotzig und mit zusammengebissenen Zähnen.

»Siehst du? Deshalb ist es gut, immer einen Plan B zu haben, oder einen Menschen, der einem die Dinge abnehmen kann, die eigentlich ein anderer hätte tun sollen.« Iblis öffnete den Aktenkoffer, der auf dem Nachttisch stand, zog den asiatischen Teil der Piri-Reis-Karte heraus, hielt sie gegen das Licht und betrachtete sie bewundernd.

KCs Augen brannten vor Wut. Sie hatte es befürchtet; es war ja sonst niemand in ihrer Suite gewesen, als die Karte verschwand. Sie hatte es nur nicht wahrhaben wollen und die Fakten ignoriert, weil sie gehofft hatte, es müsse eine andere Erklärung geben.

»Ich glaube nicht, dass ich Cindy so leicht hätte überzeugen können, wenn du sie nicht so maßlos enttäuscht und belogen hättest«, sagte Iblis. »Deine Schwester hat sich in den letzten Tagen als verlässlicher und als treuer erwiesen als du.«

Der Schock stand KC ins Gesicht geschrieben.

»Fühlt sich nicht gut an, was? Immer verletzen uns die, die wir am meisten lieben. Wirklich verraten kann uns nur ein Mensch, dem wir wirklich vertraut haben.«

»Was hast du ihr angetan?«

»Cindy? Nichts. Ihr musste ich nicht mit dem Tod einer Angehörigen drohen. Ihre Prinzipien sind längst nicht so streng wie deine. Nachdem sie erfahren hatte, wohin die Karte führt – und nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich für einen sehr reichen Mann arbeite –, war sie überglücklich, helfen zu dürfen.«

»Glücklich?«

»Du kennst doch ihr Motto: dreißig Millionen, bis sie dreißig ist. Das konnte sie nicht schaffen in dem Job, den sie hatte.«

KC schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, was Cindy wirklich motiviert hat, war das kleine Geheimnis, das ich ihr verraten habe. Über den Mann, für den ich arbeite. Über den Mann, in dessen Büro du eingebrochen bist. Als sie von seinen Erfolgen und seinem Reichtum erfuhr … nun, du kennst ja deine kleine Schwester. Das sind die Dinge, die ihr am meisten bedeuten.

Sie ist ihm nie begegnet, hat aber ihr Leben lang an ihn gedacht. Du hast ihr immer nur erzählt, dass er ein Verbrecher war, ein schlechter Mensch. Du hast einfach wiederholt, was deine Mutter dir stets eingeredet hat. selbst dann noch, als sein Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde. Die Wahrheit aber ist, dass in dieser Holzkiste nur sein Name war, seine Vergangenheit und die verkohlte Leiche, die man nach seiner Flucht gefunden hatte.«

KC saß fassungslos da. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren lärmte in ihren Ohren, während ihre Welt aus den Fugen geriet. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Mein Vater lebt?«, fragte sie.

»Natürlich«, erwiderte Iblis und lächelte. »Was meinst du denn, wer mich vor Jahren losgeschickt hat, dir etwas beizubringen?«