32.
KC ging über den Vorplatz der Blauen Moschee, der mit seinen frisch gemähten Rasenflächen und den sattgrünen, dichten Hecken herrschaftlich wirkte. Ihr Herz schlug heftig, sodass sie ihren eigenen Pulsschlag hören konnte. Sie hatte Iblis seit zehn Jahren nicht gesehen – wenn man von der einen Nacht absah, in der er sie und Simon in Amsterdam geschnappt hatte. Bei diesem kurzen Aufeinandertreffen in den Niederlanden hatte er kein einziges Wort gesagt, aber diesmal würde gesprochen werden. KC empfand eine Mischung aus Furcht und Zorn auf diesen Mann, der sie geprägt hatte; es war im Grunde nichts anderes gewesen, als hätte er sie zu einem Junkie gemacht, indem er sie kostenlos mit Heroin versorgt hatte. Er hatte sie süchtig gemacht, und deshalb war sie zu dem geworden, was sie heute war.
Sie hatte Iblis als Teil ihrer Familie betrachtet; er war wie ein älterer Bruder, bisweilen sogar wie ein Vater gewesen. Als sie noch jung gewesen war, hatte sie sich häufig sogar vorgestellt – und sich heimlich gewünscht –, er sei wirklich ihr Vater. Er war der einzige Mensch, der sich um sie und Cindy gekümmert hatte, der Einzige, der ihnen rettend zur Hilfe gekommen war.
Doch als KC im Laufe der Zeit begriff, welcher Methoden er sich bediente, wie groß seine Schwäche für Blut war, wie gering er menschliches Leben schätzte und jeden verachtete, den er nicht benutzen oder ausnutzen konnte, bereute sie ihre Vater-Tochter-Fantasien und war entsetzt, zu einem Mann aufgeblickt zu haben, der bedenkenlos mordete.
Und obwohl er nach wie vor behauptete, dass sie ihm etwas bedeuteten – und trotz ihrer gemeinsamen Vergangenheit –, hielt er Cindy und Simon jetzt gegen ein Lösegeld gefangen. Simon war ein Mann, der stets wusste, worauf er sich einließ, der dem Tod schon oft ins Auge geblickt hatte und wissentlich Risiken einging. Cindy jedoch war unschuldig. Nicht nur, weil sie nichts über Iblis’ und KCs Diebeskarrieren wusste, sondern auch im herkömmlichen Sinn des Wortes. Cindy konnte keinerlei Einfluss nehmen auf ihre Rettung oder ihren Niedergang. Sie war bloß eine Schachfigur in dem Spiel, das KC gegen Iblis spielte.
Die Menschen scharten sich in dichten Mengen um die Blaue Moschee – Touristen, die respektvoll den Gläubigen Platz machten, die den Rufen von den Minaretten folgten, um sich zum Mittagsgebet zu versammeln, dem Zhur. KC hatte Iblis aus den Augen verloren, als sie das Dach des Kiritz-Hotels verlassen und sich auf den Weg zur Moschee gemacht hatte, doch sie wusste, dass sie ihn finden würde. Dies hier war das einzige Treffen in ihrem Leben, das sie um keinen Preis verpassen wollte.
Sie ging beinahe gemächlich die Straße entlang und über den Vorplatz der Moschee. Obwohl sie Iblis vom Dach aus gesehen hatte – und er sie ebenfalls –, hatte sie keine Eile, ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Sie würde tun, was sie konnte, um Michael und Busch so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, damit sie Cindy und Simon aus Iblis’ Haus holen konnten. Die Lederrolle, die über ihrer Schulter hing, hielt sie ganz fest. Das alles gehörte zu Michaels Plan. Sie hoffte nur, dass Michael bereits Erfolg gehabt hatte und aus dem Haus verschwunden war.
»Erfreust du dich an den Sehenswürdigkeiten?«
KC drehte sich um und erschrak. Sie stand Iblis Auge in Auge gegenüber. Seine makellose Haut war in den zehn Jahren, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, kein bisschen gealtert, und seine hellblauen Augen blickten so wach und lebendig wie eh und je. In seinem weißen Leinenhemd, dem schwarzen Haar und der braunen Haut sah er wie ein Einheimischer aus, doch KC wusste, dass dieser Mann in keiner Hinsicht war, was er zu sein schien.
»Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dich mit einer Waffe in der Hand anzutreffen.« Iblis lächelte.
KC konnte sich nicht beherrschen. »Wie konntest du es wagen, meine Schwester zu entführen?«, fuhr sie ihn an.
»Berichtige mich, falls ich mich irre, aber ich glaube nicht, dass du mir zu Hilfe geeilt wärst, wenn ich dich freundlich darum gebeten hätte«, erwiderte Iblis. »Es freut mich übrigens ebenfalls, dich wiederzusehen.«
»Lebt Simon noch?« KC versuchte, sich zu zügeln.
»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er noch unter uns«, erwiderte Iblis.
»Du erbärmlicher Kerl.«
»Und du bist erwachsen geworden.« Iblis ließ den Blick über KCs Figur schweifen. »Eine richtige Frau ist aus dir geworden. Ich nehme an, das macht dich noch gefährlicher.«
KC versuchte, nicht vom Thema abzukommen, aber es gelang ihr nicht. »Du hast mich ins Gefängnis verfrachtet, damit ich da verrecke.«
»Nein, das habe ich nicht«, widersprach Iblis. »Es war auch nicht meine Idee.«
»Du hast es aber zugelassen.«
Iblis zog eine Visitenkarte aus der Hosentasche und reichte sie KC. »Kommt dir diese Karte bekannt vor?«
KC schaute auf die Visitenkarte von Stephen Kelley, die Michael ihr gegeben hatte für den Fall, dass Cindy Rat brauchte, um ihre eigene Übernahmefirma zu gründen.
»Ich hatte keine Ahnung, warum du die Visitenkarte eines Bostoner Rechtsanwalts mit dir herumschleppst, aber ich habe sie zusammen mit Informationen über eure Inhaftierung und die anstehenden Hinrichtungen nach Rom geschickt. Ich dachte mir, dass der Vatikan sich diplomatisch einschalten würde. Konnte mir nicht vorstellen, dass man dort großartig Sympathie für eine Diebin wie dich aufbringt, aber wenn einer ihrer eigenen Leutchen, ein Priester, hingerichtet werden soll, erweckt das eher Mitgefühl und veranlasst die Leute, aktiv zu werden.«
»Das macht keinen Sinn.«
»Oh, und ob das Sinn macht! Ich brauchte deine Hilfe, um an die Piri-Reis-Karte und den Caduceus heranzukommen. Und wie hättest du mir helfen sollen, wenn du tot gewesen wärst?«
»Bildest du dir etwa ein, du hättest mich gerettet?«
»Wie dem auch sei, ich bin froh, dass du jetzt vor mir stehst und sehr lebendig wirkst. Ob der Vatikan dir nun geholfen hat oder nicht, KC – ich konnte mir eh nicht vorstellen, dass man dich längere Zeit gefangen hält.«
KC konnte nicht glauben, dass Iblis etwas getan hatte, um sie zu retten, aber es war die einzige Erklärung: Jemand hatte dem Vatikan einen Hinweis zukommen lassen, und nur eine Hand voll Menschen hatten überhaupt gewusst, dass man sie ins Gefängnis geworfen und ihre Hinrichtung angesetzt hatte.
»Darf ich mir den Stab ansehen?« Iblis zeigte mit dem Finger auf die Lederrolle, die über KCs Schulter hing.
»Welche Garantie habe ich, dass du Cindy und Simon nicht tötest?«
»Ich habe dir mein Wort gegeben.«
»Was weniger wert ist als nichts.«
»Trotz der Gefühle, die du mir gegenüber hegst, KC, bist du für mich das einzig Gute auf der Welt.« Iblis hielt inne und beobachtete die Leute, die an ihnen vorüberzogen. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte irgendetwas in seinen Augen. »Ich sehe einen Teil von mir selbst in dir.«
»Ich bin nicht wie du«, entgegnete KC voller Abscheu. »Du bist ein Mörder.«
»Du bist mir sehr viel ähnlicher, als dir bewusst ist.« Iblis nickte. »Sag mir, dass du mich nicht auf der Stelle töten würdest, wenn du damit deine Schwester retten könntest.«
»Ich würde dir ohne Bedenken das Leben nehmen, um ihres zu retten, aber ich würde niemals jemanden töten, um mich persönlich zu bereichern.« KC musterte ihn angewidert. »Dir bereitet das Vergnügen.«
»Das stimmt nicht. Ich fühle nichts, wenn ich töte. Ich habe niemals Reue empfunden oder auch nur Bedauern. Und weißt du, warum? Weil ich noch nie etwas gefühlt habe. Ich sage das nicht, um Mitleid zu erregen, ich sage es nur, weil ich einfach nichts empfinden kann, es sei denn, es geht um dich.«
Schockiert stand KC da. Ihre Furcht wurde mit jedem seiner Worte größer.
»Ich verstecke mich nicht hinter irgendwelchen Illusionen. Tatsache ist, dass ich ehrlicher mit dir bin als du selbst. Du bist eine Diebin, KC, du lebst außerhalb von Recht und Ordnung. In welchem Maß, tut nichts zur Sache. Du bist eine Diebin – vergiss das nicht, wenn du mich verurteilst. Du hattest Gefallen an dem, was ich dir beibringen konnte, als du es gebraucht hast.«
»Das war zu einer Zeit, als ich noch nicht wusste, was für ein Mensch du in Wahrheit bist.«
»Und was für ein Mensch bin ich?«
»Du bist die personifizierte Schlechtigkeit. Du hast kein Gewissen, keine Seele.«
»Warum arbeitest du nicht für mich?« Iblis lächelte und ging über ihre Worte einfach hinweg. »Oder mit mir? Wir waren ein gutes Team.«
»Was willst du mit dem hier?« KC beachtete seine Worte nicht, wies stattdessen auf die Lederrolle.
»Der Stab ist nicht für mich.«
»Erzähl mir keinen Unsinn.«
»Weißt du, für wen er ist?«
»Seit wann musst du für jemanden arbeiten?«
»Es gibt Augenblicke, in denen sich jeder von uns vor einem anderen verantworten muss, KC.«
Sie starrten einander an, während die Menschenmassen desinteressiert an ihnen vorüberzogen.
»Gib mir den Caduceus, und du kannst dir deine Schwester holen und deinen Freund Simon, sofern er noch am Leben ist.«
»Sofern er noch am Leben ist? Du Hurensohn!« KC hätte ihm an liebsten ins Gesicht geschlagen.
»Ich erfülle meinen Teil der Vereinbarung, obwohl du mich verraten und Michael geschickt hast, um dir die Karte zu beschaffen. Ja, ich kenne seinen Namen und weiß alles über ihn.«
»Jetzt hast du die Karte. Und du hast ihn getötet, um sie zu bekommen«, brach es aus KC hervor.
Iblis legte den Kopf zur Seite. »Du warst einmal die beste Lügnerin, die ich je gekannt habe, KC.«
KC schwieg und funkelte ihn zornig an.
»Dir muss doch klar gewesen sein, dass ich niemals zugelassen hätte, dass ein anderer mir die Karte wegschnappt. Er war ein fähiger Dieb – nach dem zu urteilen, was ich gesehen habe.« Iblis hielt einen Moment inne, blickte KC tief in die Augen und fügte leise hinzu: »War er dein Liebhaber?«
KCs Augen loderten vor Wut, als Iblis seine Gefühle so klar durchblicken ließ. Sie hatte gewusst, wie gemein und gefährlich er war, doch sie hätte nie damit gerechnet, dass er zur Eifersucht neigte, was ihn zu unbedachten Handlungen verleiten konnte und noch gefährlicher machte, als er ohnehin schon war.
»Wie kannst du es wagen …«
Iblis hob die Hand und schnitt ihr das Wort ab. Das bisschen Gefühl, das er eben noch gezeigt hatte, schwand aus seinen Zügen. Er wies auf die Lederröhre, die über ihrer Schulter hing. »Kann ich jetzt endlich den Caduceus haben?«
»Was ist das?« KC hielt die Röhre in die Höhe. »Welche Verbindung besteht zwischen dem hier und der Karte?«
»Hat dein Priesterfreund dir das nicht erzählt?«
KC schüttelte den Kopf.
»Dann ist es besser, du erfährst es gar nicht.«
»Willst du versuchen, mich zu schützen? Hör auf, mir Blödsinn zu erzählen.«
»Wenn du aufhörst, mich zu belügen.«
»Wie meinst du das?«
»Wo ist Michael?« Iblis’ Stimme wurde frostig.
»Du hast ihn umgebracht, du …«
»Komm«, fiel Iblis ihr ins Wort. »Du warst mal eine erstklassige Lügnerin. Du konntest einen Polizisten von deiner Unschuld überzeugen, obwohl du die rauchende Waffe noch in der Hand gehalten hast. Ist das die Folge, wenn man sich verliebt? Werden die Fähigkeiten dann so schwach wie die Knie?«
KC starrte Iblis an. Sie sah, dass er immer wütender wurde.
»Ich hatte dich gewarnt, keine Dummheiten zu machen.«
»Was soll das?«
»Michael versucht, Cindy und Simon zu retten, nicht wahr?«
KC wich einen Schritt zurück.
»Du hörst nie zu. Du musst alles immer auf deine Art machen. Es ist eine Schande.«
»Wovon redest du?«
»Michael ist vielleicht clever genug, um in mein Haus einzudringen und die beiden zu finden, aber ich bezweifle, dass er clever genug ist, sie aus dem Haus herauszuschaffen.«
Auf einmal wurde KC alles klar.
»Der Raum, in dem sich deine Schwester und Simon befinden, ist so schwer gesichert, das du es dir nicht einmal vorstellen kannst. Es gibt zahllose Sicherheitseinrichtungen.«
»Zum Beispiel?«
»Sprengfallen. Dein guter Freund Michael meint zwar, du würdest mich hier aufhalten, damit er in Ruhe in mein Haus einbrechen kann, aber in Wahrheit macht er sich schuldig. Er vergießt Blut. Denn wenn er versucht, die Tür zu dem Raum zu öffnen, in dem Cindy sich befindet …«, Iblis machte eine kurze Pause, »… wird sie sterben.«