Prolog

In der Wüste von Akbikistan

Das Staatsgefängnis Chiron erhob sich auf dem Gipfel eines mehr als neunhundert Meter hohen Felsplateaus und bot einen eindrucksvollen Blick über die rostfarbene Steinwüste von Akbikistan, einer kleinen abtrünnigen Republik im Norden Pakistans. Achtzig Kilometer fernab jeder Zivilisation hatte man den dreistöckigen Steinbau in den Gipfel des einsamen Berges gemeißelt und damit die einzige Orientierungshilfe in einer ansonsten toten, öden Wüstenlandschaft geschaffen. Um Mitternacht, wenn die Wachtürme erleuchtet waren, ähnelte der Bau einer Krone auf dem Haupt eines Dämons.

Das berüchtigte Zuchthaus war 1860 von den Briten errichtet worden, denen es als Kriegsgefangenenlager gedient hatte. Sah man davon ab, dass es inzwischen Strom gab, hatte sich in den hundertfünfzig Jahren, die seither vergangen waren, nicht viel verändert. Das knapp zwanzig Meter hohe Gebäude war ein Granitblock mit festungsartigen Mauern; an den vier Ecken stand jeweils ein achteckiger Wachturm.

Seinen Namen – Chiron – verdankte das Gefängnis dem obersten Wächter des siebten Höllenkreises in Dantes Inferno, doch eilte ihm der Ruf voraus, dass es dort noch wesentlich schrecklicher zuging als in den düstersten Visionen des italienschen Dichters.

In letzter Zeit war das Zuchthaus nur zu dreißig Prozent belegt, und das Wachpersonal war auf achtzehn Mann reduziert worden. Chiron standen keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Verfügung; außerdem war das Zuchthaus Endstation für jene Sorte von Verbrechern, denen von Amnesty International nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine Haftstrafe in Chiron war selbst dann ein Todesurteil, wenn der Häftling gar nicht zum Tode verurteilt worden war. Und es spielte keine Rolle, ob er fünf oder fünfzig Jahre abzusitzen hatte. Kein Gefangener erlebte den Tag seiner Freilassung.

Der Tod kam auf unterschiedlichste Weise, meist durch Hinrichtung, je nach Laune des Gefängnisdirektors entweder auf dem elektrischen Stuhl oder durch Enthauptung. Bei einem Fluchtversuch starb man durch die Kugel eines Wachmanns, wenn man nicht vorher durch die Hand eines Mitgefangenen ums Leben kam. Die häufigste Todesart allerdings war Selbstmord.

Es gab nur eine Möglichkeit, nach Chiron zu gelangen – über eine ausgefahrene Straße, die sich über knapp zehn Kilometer Länge hinauf zum Plateau schlängelte und kaum breit genug war für einen Lastwagen.

Seit 1895 war niemand mehr aus dem Gefängnis ausgebrochen. Denn wer das Glück hatte, den meterdicken Mauern zu entkommen, hatte anschließend nur zwei Möglichkeiten: Entweder er rannte die zehn Kilometer lange Zufahrtsstraße hinunter – die vom einzigen Wachturm, der durchgängig besetzt war, rund um die Uhr beobachtet wurde – und trat anschließend einen aussichtslosen Marsch durch die tödliche Wüste an, oder er sprang von der tausend Meter hohen Klippe, die sich vor der Haftanstalt auftat, um fünfundzwanzig Sekunden die Luft der Freiheit zu schnuppern und dann von den Felsen am Fuße des Plateaus zerschmettert zu werden. Es war eines der wenigen Gefängnisse weltweit, die auf einen Stacheldrahtzaun verzichten konnten.

Chiron war ein Ort, der perfekt dazu geeignet war, Menschen verschwinden zu lassen. Es war ein Ort, an dem man keinen Gedanken an das Wohl der Insassen verschwendete und wo man Wirtschaftskriminelle, Schwerverbrecher und kleine Ganoven zusammenpferchte in der Hoffnung, dass sie sich gegenseitig umbrachten.

Simon Bellatori saß auf dem Lehmboden seiner zweieinhalb Quadratmeter großen Zelle; die Vollstreckung seines Todesurteils war für fünf Uhr früh angesetzt. Er hatte keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen war, Hinrichtungen bei Morgengrauen vorzunehmen, aber er fand es barbarisch und unmenschlich.

Bellatoris Verbrechen war ein simpler Einbruch in das Büro eines Geschäftsmannes gewesen, um einen Brief zu stehlen, der illegal bei einer Auktion ersteigert worden war und großen antiquarischen Wert besaß. Ein muslimischer Großwesir hatte den Brief an seinen Bruder geschrieben, einen christlichen Erzbischof, und die Welt hatte niemals von seinem Inhalt erfahren sollen. Bellatoris Diebstahl war ein Verbrechen, für das man in der Welt von heute nie und nimmer mit der Todesstrafe belegt worden wäre, aber die moderne Welt existierte innerhalb der alten Gefängnismauern Chirons nur in den Träumen der Häftlinge.

Es war geplant gewesen, dass Simon und sein Partner so schnell wie möglich einbrachen, den Brief an sich brachten und schleunigst wieder verschwanden, um dann pünktlich um 21.00 Uhr in der Amsterdamer Altstadt unweit der Prinzengracht im Restaurant Damsteeg ein spätes Abendessen einzunehmen. Doch die besten Pläne von Mäusen und Menschen …

Jetzt, da er in Chiron in seiner Zelle saß, bereute Simon zutiefst, was er getan hatte. Nicht den Diebstahl oder eines der anderen Vergehen, die er sich im Lauf seines Lebens hatte zuschulden kommen lassen. Nein, er bereute nur, einen engen Freund in diese Sache mit hineingezogen zu haben, sodass dieser Freund jetzt in der Zelle nebenan saß. Es erfüllte ihn mit Bitterkeit, diesen Mann in diesem gottverlassenen Land an die Schwelle des Todes geführt zu haben – einen Mann, der ihm vertraute.

Denn morgen früh, wenn der neue Tag anbrach, würde man sie beide wecken und in den Raum nebenan führen. Dort würde der Henker auf sie warten, den Kopf unter einer mittelalterlich anmutenden Kapuze verborgen. Er würde sie über einen Tisch aus Zypressenholz legen, ihnen die Hände auf dem Rücken fesseln, ihre mit dem Gesicht nach unten liegenden Körper auf einem Holzblock festgurten und dann ihre Köpfe festschnallen.

Dann würde der Raum sich mit Zuschauern füllen. Die Wachen würden die anderen Gefangenen holen, damit diese sich das Spektakel zur Abschreckung anschauten.

Zum Schluss würde der Gefängnisdirektor den Raum betreten, in der Mitte Platz nehmen und den Todgeweihten zornig in die Augen und prüfend in die Seelen blicken. Irgendwann – mit einem angedeuteten Lächeln, da er in Gedanken bereits an seinem Frühstückstisch saß – würde er das Zeichen geben.

Und dann würde der Henker den Zeremoniensäbel ergreifen und den Delinquenten die Köpfe vom Rumpf trennen.

Drei Tage zuvor

Michael St. Pierre betrat das Wohnzimmer seines Bungalows in Byram Hills, eine Autostunde von New York City entfernt. Er warf seine Post auf das Ledersofa und ließ aus einer langen Pappröhre mehrere Entwürfe auf seinen Pooltisch fallen. Seine drei Berner Sennenhunde Hawk, Raven und Bear waren ihm gefolgt und ließen sich zu seinen Füßen nieder, als er die Schaltbilder der Alarmanlage auseinanderrollte und auf dem grünen Filz glattstrich. Vier Wochen hatte er damit zugebracht, die stecknadelkopfgroßen Kameras und die verschlüsselte Videoüberwachungs- und Alarmanlage zu konzipieren, die für ein Kunstlager bestimmt waren, das dem Milliardär Shamus Hennicot gehörte.

Michael konnte gut nachvollziehen, dass Hennicot seine Sammlung an Monets, Rockwells und van Goghs schützen wollte. Und indem er all seine Erfahrung und sein Wissen in das Projekt hatte einfließen lassen, hatte Michael ein Sicherheitssystem geschaffen, das es im Hinblick auf seine technische Unüberwindbarkeit mit den Systemen der CIA aufnehmen konnte.

Michael drehte sich um und blickte auf das große Gemälde, das über dem steinernen Kamin hing. Es zeigte einen majestätischen Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln, der einem leuchtenden Baum entstieg – ein Gemälde, das mit seinem realistischen Pinselstrich und seinen warmen Farben das Zeitalter der Renaissance spiegelte. Es war ein Govier aus dem späten sechzehnten Jahrhundert, ein Geschenk von einer engen Freundin, die ihn gebeten hatte, das zweite Gemälde dieses Malers zu stehlen und zu vernichten. Diese Bitte hatte schwer auf Michael gelastet, denn sie war der letzte Wunsch dieser Frau gewesen – eine ungewöhnliche Bitte, die er erfüllt hatte.

Michael war ein Dieb gewesen, der gelobt hatte, der Welt des Verbrechens den Rücken zu kehren. Er hatte dieses Versprechen seiner Frau und sich selbst gegeben. Dann aber hatten äußere Umstände ihn rückfällig werden lassen. Seit damals hatte er jedoch nur wenige Dinger gedreht – vor allem, um sich Geld zu beschaffen, das er für die Krebsbehandlung seiner Frau benötigte. Außerdem hatte er mehrmals seinem Freund Simon geholfen. Jede dieser Taten war uneigennützig gewesen. Michael selbst hatte sich nicht bereichert. Was er getan hatte, war zum Wohle anderer geschehen – in Situationen, in denen er moralische Kompromisse hatte schließen müssen.

Aber das alles war nun endgültig Vergangenheit. Obwohl er immer noch ein Meisterdieb war, hatte Michael seine Talente in Rente geschickt. Er hatte sich ein legitimes Geschäft aufgebaut, ein Sicherheitsunternehmen mit einem wachsenden Kundenstamm. Seine Kunden wussten, dass Michael vor ein paar Jahren zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, weil er in ein Botschaftsgebäude eingebrochen war, um Diamanten zu stehlen. Dennoch erhielt er immer wieder neue Aufträge, weil er sich den Ruf erarbeitet hatte, Qualitätsarbeit zu liefern, und über die Fähigkeit verfügte, so zu denken wie diejenigen, die auf der anderen Seite des Gesetzes standen und die Absicht hatten, in bewachte Gebäude einzubrechen, Computersysteme zu manipulieren und Alarmanlagen zu zerstören. Michael dachte wie der Feind, der darauf aus war, Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und in die Tresorräume von Banken einzudringen. Michael zu beauftragen war etwa so, als würde man einer Footballmannschaft eine Woche vor dem Entscheidungsspiel die Unterlagen stehlen, in denen der Trainer einstudierte Spielzüge notiert hatte. Man lernte, wogegen man sich verteidigen musste, wo die eigenen Schwachpunkte lagen und wie man sie minimieren konnte. Mit Michael St. Pierre lernte man das Siegen.

Michael rollte die Entwürfe zusammen, steckte sie zurück in die Pappröhre und legte diese zu der ungeöffneten Post aufs Sofa. Dann ging er ins Esszimmer. Der Tisch war für zwei gedeckt. Das marinierte Steak war im Kühlschrank und fertig für den Grill, der Wein war noch nicht geöffnet, die Kristallgläser warteten. In der Mitte des Tisches stand eine Vase mit frischen Blumen.

Nach achtzehnmonatiger Trauer um seine Ehefrau Mary zeigte Michael endlich wieder Interesse an Frauen. Mary war der Inbegriff seines Lebens gewesen. Nie hätte er gedacht, mit achtunddreißig Jahren allein dazustehen und ohne Mary leben zu müssen; niemals hätte er sich vorstellen können, wie schnell und wie bösartig Krebs sein konnte. Vor allem hatte er sich nicht vorstellen können, wie er jemals mit Marys Verlust fertig werden sollte.

Doch mit der Zeit und dank der Unterstützung seiner Freunde und seines Vaters hatte Michael langsam wieder Hoffnung geschöpft, hatte die Tragödie verdrängt, hatte sich stattdessen an Marys Lächeln erinnert und sich an den Worten erfreut: »Weine nicht, weil sie tot ist, sondern freue dich, weil sie am Leben war.«

Und so hatte er schließlich seinen Ehering vom Finger gestreift – er trug ihn seither an einer Kette um den Hals – und seinen engsten Freunden erklärt, er sei jetzt so weit.

Michael war ein attraktiver Mann mit dichtem braunem Haar, wachen dunkelblauen Augen und einem markanten Gesicht, dem anzusehen war, dass er in seinem Leben schon einiges hinter sich hatte. Er war eins achtzig groß und körperlich fit dank Bodybuilding, Freiklettern und Schwimmen. Er trug noch die gleiche Jeansgröße wie mit achtzehn und hatte auch nicht die Absicht, sich gehen zu lassen wie so mancher Altersgenosse. Das konnte er sich allein schon wegen seines Berufs nicht erlauben.

Seine Freunde Paul und Jeannie Busch hatten Michael an mehreren aufeinander folgenden Freitagabenden verplant. Vier verschiedene Frauen und vier Abendessen, bei denen geplaudert und gelächelt wurde und bei denen man sich Geschichten erzählte; viermal ein verlegenes »Gute Nacht« und verlegene Abschiedsküsse.

Erst beim fünften Rendezvous war alles anders gewesen. Diesmal war es keine Einladung zum Abendessen, sondern ein Basketball-Duell an einem Samstagnachmittag, ein Rendezvous, das Michaels Freund Simon arrangiert hatte – ausgerechnet Father Simon Bellatori, ein unkonventioneller Priester, der die Vatikanischen Archive leitete. Father Simon war Einzelgänger; seine Arbeit nahm ihn jede wache Minute in Anspruch und ließ ihm nur wenig Zeit für Freunde, sah man von Michael ab. Gemeinsam hatten er und Michael mehr als einmal dem Tod getrotzt. Sie hatten eine persönliche Beziehung aufgebaut, die zu einer Bindung gereift war, die enger war als Familienbande. Deshalb hatte Michael, als Simon Kathleen Colleen erwähnte – kurz »KC« –, die Gefühle des Freundes nicht verletzen wollen, obwohl Michael sich nicht vorstellen konnte, dass ein Rendezvous, das sein Priester-Freund arrangiert hatte, zu irgendetwas führte.

Michael betrat den Außenplatz hinter der Byram Hills High School voller Vertrauen in seine Fähigkeit als Basketballer. KC war bereits da und warf Körbe, wobei sie sich mit geschmeidiger Eleganz bewegte. KC war groß, fast eins achtzig, und schlank. Ihr Haar besaß die Farbe von Mais und war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; ihre smaragdgrünen Augen strahlten und waren wach und voller Leben. Sie war körperlich fit und doch durch und durch weiblich. Sie trug ein weißes T-Shirt über dunkelblauen Shorts. Michael konnte nicht anders und starrte auf ihre von der Sonne gebräunten, schlanken Beine, als er auf sie zuging.

»Hallo.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Michael.«

»KC«, erwiderte sie mit einem britischen Akzent, nahm seine Hand und schüttelte sie selbstbewusst.

Dann standen sie ein wenig verlegen da und wussten beide nicht, was sie sagen sollten. Schließlich gingen sie auf den Platz und warfen einander den Ball zu, als wäre dies eine Sprache, die sich leichter sprechen ließ als Worte.

Das Spiel fing freundschaftlich an. KC täuschte nach links, nach rechts, warf von der Drei-Punkt-Linie und versenkte den Ball. Bei jeder ihrer Bewegungen schwang ihr Haar mit. Dann lächelte sie und warf Michael den Ball zu. Der schnappte sich ihn, bewegte sich nach links, nach rechts – und KC schoss blitzschnell dazwischen, nahm ihm den Ball ab, hechtete auf den Korb zu und versenkte den Ball.

Michael starrte sie an, als wäre sie eine weibliche Ausgabe von Michael Jordan. Er kam sich vor wie der arme Trottel, den man bei einem All-Star-Game von der Tribüne geholt hatte, um sein fehlendes Talent vor fünfzehntausend Fans zur Schau zu stellen.

Dann aber fand Michael zurück zu seiner Form. Er warf drei Körbe hintereinander, und so wurde das Spiel während der nächsten halben Stunde zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen. Jedes Mal, wenn Michael einen Ball versenkte, zog KC nach.

»Achtunddreißig zu achtunddreißig«, sagte sie schließlich.

»Der nächste Korb bringt die Entscheidung«, keuchte Michael.

KC nickte und dribbelte vor, aber Michael nahm ihr den Ball ab, drehte sich nach links, riskierte den Wurf und verfehlte den Korb. KC schnappte sich den Ball und hechtete auf den Korb zu, aber Michael nahm ihr erneut den Ball ab. Er tat so, als wollte er zur Drei-Punkt-Linie stürmen, warf den Ball aber aus dreizehn Metern Entfernung und versenkte ihn.

»Guter Wurf.« KC lächelte.

»Danke.« Michael stützte die Hände auf die Knie und versuchte, zu Atem zu kommen.

»Ich dachte schon, ich hätte dich.« KC schob sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Vielleicht beim nächsten Mal«, erwiderte Michael, hoffte allerdings, eine Revanche vermeiden zu können.

***

Das Abendessen fand im Valhalla statt, der Bar in Byram Hills, die Paul und Jeannie Busch gehörte. KC und Michael saßen in einer schummrigen Ecke wie zwei Teenager, die zum ersten Mal ein Rendezvous hatten. Obwohl sie beide hungrig waren, rührten sie ihre Steaks kaum an, denn sie unterhielten sich die ganze Zeit.

»Gibt es irgendeinen Sport, den du nicht treibst?«, fragte Michael, nahm einen Schluck Cola und stützte die Arme auf den Tisch.

»Es gibt jedenfalls keinen, den ich nicht ausprobieren würde«, antwortete KC. »Obwohl ich am liebsten Sportarten mache, bei denen es schnell und ein bisschen gefährlich zugeht.«

»Gefährlich?«

»Ja. Deshalb liebe ich die USA so sehr. Sie sind für Extremsportler wie ein Spielplatz. Du hast den Colorado River zum Wildwasser-Rafting, die Rocky Mountains zum Klettern, Kalifornien fürs Surfen, Lake Placid fürs Rodeln und Bobfahren und Wyoming für das Reiten und Drachenfliegen.«

»Ein Extremsport-Junkie.« Michael lachte. »Hast du schon mal Bungee-Jumping probiert?«

»Wenn ich an meinen ersten Sprung zurückdenke, kann ich immer noch den Schweiß auf meinen Handflächen spüren.«

Michael saß da und ließ sie auf sich wirken – ihre Worte, ihr Lächeln – und begriff plötzlich, warum Simon gewollt hatte, dass sie einander kennen lernten.

»Woher kennst du Simon?«, fragte er.

»Ich habe vor ein paar Jahren einen Artikel über den Vatikan geschrieben«, erwiderte KC.

»Du bist Journalistin?«

»War ich früher mal. Woher kennst du Simon?«

»Wir helfen einander von Zeit zu Zeit.« Michael hoffte, dass die Lüge nicht allzu offensichtlich war. »Er ist einer meiner engsten Freunde.«

»Für mich auch«, sagte KC. »Ich treffe mich sonst nie mit Unbekannten, aber er hat förmlich darauf bestanden. Es ist ein bisschen peinlich, wenn Freunde dir die Rendezvouspartner aussuchen. Es gibt dir das Gefühl, als wärst du selbst nicht in der Lage dazu.« Sie lächelte. »Was machst du beruflich?«

Michael überlegte einen Moment und sprach dann von der Gegenwart, ohne auf seine Vergangenheit anzuspielen. »Ich habe ein Sicherheitsunternehmen.« Rasch wechselte er wieder das Thema. »Und du? Schreibst du noch?«

»Nein, ich tauge nicht zur Autorin. Ich arbeite als Beraterin für die Europäische Union auf dem Gebiet des Kulturaustausches.«

»Hört sich aufregend an«, erwiderte Michael lachend.

»Jetzt verstehst du sicher, warum ich gerne mit einem Gummiband um die Fußknöchel von Brücken springe.« Sie grinste. »Aber mal im Ernst: In meinem Beruf komme ich viel herum und kann mir meine Arbeit selbst einteilen. Und was noch besser ist – die meisten Europäer haben im August Ferien, sodass ich meinen Hobbys nachgehen kann.«

»Den ganzen August? Wow. Als ich noch ein Junge war, hat mein Dad nie Ferien gemacht. Er war Buchhalter.«

»Meine Mutter hatte auch nie Urlaub«, erwiderte KC, und dabei schwang ein Hauch von Traurigkeit in ihrer Stimme.

»Hast du Geschwister?«, fragte Michael.

»Eine jüngere Schwester. Sie arbeitet in London für Goldman Sachs. Und du? Hast du auch Geschwister?«

»Ich bin Einzelkind. Hast du ein enges Verhältnis zu deiner Schwester?«

»Ja. Obwohl sie ständig jammert, weil sie ihre eigene Firma aufmachen will. Langsam wird es nervig.«

»Wenn sie mal Hilfe braucht …« Michael zückte seine Brieftasche, nahm eine Visitenkarte im Prägedruck heraus und reichte sie KC.

»Stephen Kelley«, las sie laut von der Karte ab.

»Er ist ein Finanzmensch, und wir stehen uns sehr nahe. Er könnte deiner Schwester vielleicht helfen. Sag ihr, sie soll Stephen sagen, dass sie mich kennt.«

»Vielen Dank.« KC lächelte. Sie griff über den Tisch und nahm Michaels Hand.

***

Während der nächsten Wochen trafen KC und Michael sich häufig. Sie spielten Golf und Tennis, aßen gemeinsam zu Abend und gingen zum Mittagessen ins Shun Lee Palace. Und ihre sportlichen Zweikämpfe waren zwar stets ernsthafter Natur, aber erfüllt von Lachen, Witzeleien und geistreichem Schlagabtausch.

Der jeweilige Sieger erwarb sich das Recht, das Restaurant auszusuchen. Die Zahl der Siege war gleichmäßig verteilt. Die Spiele waren stets ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und der Verlierer kam am Ende immer mit der gleichen optimistischen Plattitüde: »Morgen ist ein neuer Tag.«

Ihre zunehmend engere Beziehung war mit nichts zu vergleichen, was Michael bisher erlebt hatte; es war, als wäre KC eine Freundin, die er schon ewig kannte. Sie konnten stundenlang miteinander reden, über alles und jeden. Manchmal saßen sie einfach nur da und erfreuten sich an der Gegenwart des anderen.

Michael verspürte ein Gefühl innerer Ruhe, wenn er in KCs Nähe war, und fand sie doch verlockend und sexy zugleich. KC wiederum besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor, mit dem sie sich gern selbst auf die Schippe nahm.

Fast ein Monat war vergangen, seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren. KC respektierte Michaels Gefühle und den Schmerz über den Verlust, den er erlitten hatte. Sie wusste, dass man manche Dinge nicht übereilen durfte; dass Intimität nur entstehen konnte zwischen Menschen, die mit sich im Reinen waren und keinerlei Schuldgefühle empfanden.

Michael hatte das Abendessen zubereitet. Die marinierten Steaks lagen bereits auf dem Grill. Auf dem gedeckten Tisch standen frische Blumen, und der Wein war entkorkt und dekantiert. Als KC zur Tür hereinkam, sah sie die kleine Schachtel, die auf ihrem Teller lag. Sie war von Tiffany’s, rechteckig und blassblau.

Sie lächelten einander an; dann öffnete KC die Schachtel und nahm eine Kette mit einem kleinen silbernen Amulett heraus. Behutsam drehte sie sie um und las die Gravur:

Morgen ist ein neuer Tag.

Sie hielt das Amulett in der Hand und spürte, wie ihr warm ums Herz wurde. Als sie aufblickte, konnte sie durch Michaels Augen in sein Inneres schauen: Er schenkte ihr viel mehr als nur dieses Schmuckstück.

Das Abendessen fand nie statt. Das Steak verbrannte.

Michael nahm KC in die Arme. Es war wie sein erster Kuss, wie sein erstes Mal. Es war lange her, doch verlor er sich in der Intimität ihrer Umarmung. Beide konzentrierten sich nur auf den anderen, vergaßen Zeit und Raum. Die Leidenschaft riss sie davon.

Als sie später nebeneinanderlagen, genossen sie die Stille und das Wissen, dass ihnen kein Leid geschehen konnte, solange sie einander in den Armen hielten.

Am nächsten Tag kam der Anruf: KC musste abreisen. Eine Geschäftsreise nach Paris stand an. In einer Woche würde sie zurück sein.

Der Abschied ging zügig vonstatten, als wären sie bereits geübt darin. Als Michael beobachtete, wie KC von seiner Auffahrt fuhr, lächelte er glücklich. Er hatte etwas gefunden, von dem er geglaubt hatte, es für immer verloren zu haben.

***

Jetzt, da er auf den Abendbrottisch starrte, auf die ungeöffnete Flasche Wein und die frischen Blumen, fragte er sich, wie er so dumm hatte sein können. Schon vor vier Tagen hatte KC zurück sein wollen. Sie hatte nicht angerufen, hatte sich nicht gemeldet. Er selbst hatte ihr zahlreiche Nachrichten hinterlassen, aber keine Antwort erhalten. Er fühlte sich wie ein Narr, der sein Herz geöffnet und seine Seele ausgebreitet hatte, weil er so naiv gewesen war zu glauben, noch einmal Liebe zu finden.

Michael tröstete sich mit dem Gedanken, dass er Mary gehabt hatte. Er verdrängte seine Gefühle und vertrieb Katherine Colleen Ryan aus seinem Gedächtnis.

Er räumte gerade die unbenutzten Teller vom Tisch, als es an der Haustür klopfte. Das Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, und seine drei Hunde begannen wie verrückt zu bellen.

Michael ging durchs Wohnzimmer, bedeutete den Hunden, still zu sein, und öffnete die Haustür. Ein hochgewachsener, schlanker, durchtrainierter Mann stand auf der Vortreppe. Seine Augen waren wach und klar, das graumelierte Haar perfekt frisiert. Er trug eine blaue Sportjacke und eine hellbraune Hose mit scharfen Bügelfalten. Alles an dem Mann war exakt und präzise.

»Hi, Michael«, sagte Stephen Kelley.

»Hi, Dad«, erwiderte Michael erstaunt.

»Bist du allein?«, fragte sein Vater und lugte an ihm vorbei ins Haus.

»Könnte man sagen. Komm rein. Was ist los?«

»Es geht um Simon.«