31.
KC rannte durch das Treppenhaus die drei Etagen nach unten und riss die breite weiße Feuertür aus Metall auf. Vorsichtig lugte sie nach draußen in den Istanbuler Morgen; die Temperaturen stiegen schon jetzt unerbittlich, und die Feuchtigkeit erschwerte jeden Atemzug. Die kopfsteingepflasterte Straße war leer, sah man von ein paar Ladenbesitzern ab, die ihrer Routine nachgingen, um alles für den neuen Tag vorzubereiten.
KC blieb im Türrahmen stehen. Ihr Herz pochte wild, und sie war bereit, jeden Moment loszurennen, denn sie wusste nicht, ob die Polizei sie beobachtete, Iblis ihr nachstellte oder irgendetwas Unbekanntes hinter ihr her war. Und was Michael anging – in ihrem Kopf herrschte ein einziges Wirrwarr. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht. Sie hatte ihm vertraut, mit ihm geschlafen. Dass ihrer beider Leidenschaft echt gewesen war, stellte sie nicht infrage, doch änderte das nichts an der Tatsache, dass er verschwunden war, zusammen mit dem Sultansstab. KC hoffte, dass er keine Dummheit versuchte. Wenn Iblis herausfand, dass Michael noch am Leben war, würde er beim zweiten Mal nicht versagen – das wusste sie, dazu kannte sie den Mörder zu gut. Ihr blieben also knappe fünf Stunden, um Michael zu finden und Iblis den Stab zu übergeben. Andernfalls waren ihre Schwester und Simon tot. Und wer wusste schon, wer sonst noch.
Plötzlich bog eine Limousine um die Ecke, ganz langsam, und rollte geradewegs in ihre Richtung. KC trat zurück und versteckte sich im Treppenhaus, ließ die Tür einen Spaltbreit geöffnet, um den näher kommenden Wagen im Auge behalten zu können. Die schwarze Luxuskarosse passte überhaupt nicht in die heruntergekommene Gegend und wirkte in diesem Umfeld völlig fehl am Platz. Aus Versehen fuhr sie aber nicht hier herum.
Der Wagen kroch dahin, suchte nach etwas, kam näher wie ein Raubtier auf Beutejagd. Als er endlich hielt, wurde das Seitenfenster geöffnet.
KC ließ die Haustür los. Sie fiel mit einem dröhnenden Laut, der durch das ganze Treppenhaus schallte, ins Schloss. KC ging zum untersten Treppenabsatz und stellte sich so, dass sie jederzeit nach oben rennen konnte.
»Guten Morgen«, rief von draußen eine Stimme.
KCs Angst schwand schlagartig. Sie ging zurück zur Tür, öffnete und sah Michael neben der Limousine stehen. Mit der linken Hand hielt er die Wagentür, und in seiner rechten Hand eine braune Papiertüte.
»Hunger?«, fragte Michael.
KC lief nach draußen, schaute dabei argwöhnisch nach links und nach rechts und ließ sich schließlich auf den Rücksitz der Limousine fallen. Michael rutschte hinter ihr in den Wagen und schloss die Tür, sodass KC sich zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, wieder sicher fühlte. Im Wagen duftete es verführerisch nach frischem Brot und Kaffee. Die Klimaanlage lief auf vollen Touren, hatte aber trotz der frühen Morgenstunde bereits mit der Hitze zu kämpfen.
Michael lächelte, als er zwei frische Böreks und eine Flasche Mineralwasser aus der braunen Papiertüte zog.
»Wo bist du gewesen?«, fragte KC gereizt. »Ich habe dich mehrmals angerufen. Kannst du nicht ans Telefon gehen?«
Michael musterte sie schweigend. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Langsam hob er die braune Tüte. »Frühstück?«
»Konntest du mir keinen Zettel hinlegen?«
Michael schaute zu Busch hinüber, der hinter dem Steuer saß. KC folgte seinem Blick und ging dann auf Michaels hünenhaften Freund los. »Und was ist mit dir? Kannst du auch nicht ans Telefon gehen?«
Busch antwortete nicht, richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Straße und fuhr los.
»Wo ist der Stab? Was hast du damit gemacht?«
Michael hob die Hände, als müsse er sich gegen einen Angriff wehren. »Entspann dich.«
»Von wegen! Du hattest nicht das Recht, mir den Stab wegzunehmen.«
Michael hielt sie fest im Blick, stellte die Tüte mit dem Frühstück auf seinen Schoß, hob die Lederrolle vom Boden und hielt sie ihr hin. KC riss sie ihm aus der Hand und verstummte, schaute schmollend aus dem abgedunkelten Wagenfenster – wie ein Kind, das zwar seinen Willen bekommen hatte, trotzdem aber noch nicht zufrieden war.
Michael reichte ihr einen Börek und die Flasche mit Mineralwasser. Sie riss ihm beides aus der Hand und wandte ihre Aufmerksamkeit gleich wieder der Stadt zu, die an ihnen vorüberglitt.
Sie saßen schweigend da, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, während sie an der Blauen Moschee vorüberfuhren, aus der die Gläubigen strömten, die gerade mit ihrem Morgengebet fertig waren. Dann passierten sie den Großen Basar, nahmen die Atatürk Bulgarı, überquerten die Atatürk-Brücke und fuhren hinein in die moderne Welt auf der asiatischen Seite der Stadt.
Hier herrschte Weltstadtatmosphäre. Alles war frisch und neu und bildete einen deutlichen Kontrast zu den antiken Bauwerken in dem Stadtteil, den sie gerade hinter sich gelassen hatten.
»Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, wohin wir fahren?« KC blitzte Michael an.
»Würde es«, erwiderte Michael, der mit dem Laptop beschäftigt war, der auf seinem Schoß stand.
KC ignorierte seine Antwort und rutschte über die Sitzbank nach vorn zu Busch.
»Wirst du es mir sagen?«, fragte KC.
Busch konzentrierte sich auf den Bildschirm des Navigationssystems, an dem er sich beim Fahren orientierte. Darauf blinkten zwei rote Punkte: Der eine befand sich in der Mitte des Bildschirms, der andere in der rechten oberen Ecke.
»Was ist das?«, wollte KC wissen.
»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Busch in der Hoffnung, damit das Thema zu wechseln.
»Was ist das da?«, wiederholte KC und wurde zusehends gereizter. »Würde mir einer von euch beiden endlich sagen, wohin wir fahren?«
Busch schaute in den Innenspiegel. Sein Blick traf sich mit Michaels, der beipflichtend nickte, worauf Busch erklärte: »Wir holen deine Schwester und Simon.«
***
Die Luxus-Enklave stand inmitten von zwanzigtausend Quadratmetern gepflegter Rasenflächen hinter fünf Meter hohen Steinmauern. Das dreistöckige Haus im mediterranen Stil bot einen Blick über das Meer und kündete von unvergleichlichem Reichtum.
Das wuchtige schmiedeeiserne Tor war wie eine Vorwarnung auf die Sicherheitsvorkehrungen, die man hinter den hohen Mauern zu erwarten hatte. Zwei Wachmänner flankierten den Eingang, während drei Kameras auffällig auf zwei hohen weißen Metallpfählen thronten.
»Wo sind wir hier?«, fragte KC verwirrt.
Busch nahm das Navigationsgerät vom Armaturenbrett. Jetzt blinkten die roten Punkte beide in der Mitte des Bildschirms. »Wir sind auf der Jagd nach der Lederrolle mit der Karte.«
Er drehte sich zu KC um und hielt ihr einen kleinen Chip unter die Nase, der in etwa so groß war wie ein Stück Kaugummi. Dann legte er ihr das Teil in die Hand. »Der ist wasserfest. Die Batterie hält etwa achtundvierzig Stunden.«
KC musterte ihn verwirrt.
»Wenn du den kleinen Schalter an der Seite umlegst, wird das Ding aktiviert.« Buschs Riesenfinger ließen das stecknadelkopfgroße Knöpfchen an der Seite des Chips noch winziger erscheinen, als er es ohnehin schon war.
KC legte den Schalter um, und in der Mitte des Navigationsbildschirms begann ein dritter Punkt zu blinken. Sie grinste. »So ein Hurensohn.«
»Ganz meine Meinung.« Busch grinste.
KC runzelte die Stirn, als sie genauer auf den Bildschirm des Navigationssystems schaute. »Wenn einer in dem Haus da ist und einer in meiner Hand, wo ist denn dann der Dritte?«
Michael hielt die Lederrolle hoch, in der sich der Sultansstab befand. »Ich musste gestern hier drinnen einen installieren, für alle Fälle. Ich habe mir das Teil heute Morgen von dir ausgeliehen, um die Batterie auszuwechseln.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Ich wollte dich nicht wecken«, erwiderte Michael verlegen.
»Ich meine, dass in den ganzen Röhren Peilsender stecken.«
»Tut mir leid, das ist eine meiner Unarten.« Michael zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Angewohnheit, Dinge für mich zu behalten. Ich habe noch nie mit einem Partner zusammengearbeitet.«
»Wenn wir einander nicht vertrauen können …« KC hielt inne und blickte Michael fest in die Augen. Sie brauchte den Satz nicht zum Ende zu bringen. »Du hast diese Dinger in die Transportrollen gesteckt«, sagte sie stattdessen.
»Ich hatte mir gedacht, dass Iblis versuchen würde, uns die Karte an irgendeinem Punkt abzuluchsen«, erwiderte Michael und stieg dabei über die Rückbank auf den Vordersitz des Wagens. »Ich hatte gehofft, dass er das tut.«
»Aber wie konntest du das wissen?«
»Es war eher eine Vorsichtsmaßnahme, die sich jetzt allerdings als glückliche Fügung erweist.«
KC blickte die Straße hinauf und auf die Villa. »Die Karte ist da drin?«
Michael nickte. »Und ich bin ziemlich sicher, dass da auch deine Schwester und Simon sind.«
»Können wir da sicher sein?«
»Nein. Aber ich weiß, wie ich es herausfinden kann.«
***
KC saß auf dem Dach des Kiritz Hotels, das Fernglas in der Hand. Sie hielt den Blick auf den Hof der Blauen Moschee gerichtet. Es war zwölf Uhr fünfzig; somit blieben noch zehn Minuten bis zum Beginn des islamischen Mittagsgebets, des Zhur, und bis zur vorgesehenen Übergabe des Hermesstabes an Iblis.
Ein öffentlicherer Ort als die Blauen Moschee war kaum zu finden. Die Moschee, die als eine der größten Touristenattraktionen Istanbuls galt, war im Jahr 1609 fertig gestellt und nach den wunderschönen blauen Mosaikfliesen benannt worden, mit denen die Wände ihres gewaltigen Innenraumes geschmückt waren. Sie war umgeben von sechs in den Himmel ragenden Minaretten: Vier geriffelte schlanke Türme, die jeder drei Balkone hatten, standen an den vier Ecken der Moschee; zwei weitere erhoben sich auf dem Vorplatz. Die dünnen, bleistiftartigen Bauwerke waren nahezu sechzig Meter hoch, stachen in den Mittagshimmel und waren das Wahrzeichen Istanbuls, wie der Eiffelturm das Wahrzeichen von Paris und die Freiheitsstatue das von New York City war. Das eigentliche Bauwerk bestand aus einer Vielzahl kleiner Kuppeln, die nach oben hin immer größer wurden und auf denen die gewaltige Hauptkuppel thronte, die in den Mittagshimmel ragte, dessen Licht sich auf der gewaltigen Fläche spiegelte.
An dieser Stelle hatte einst der Palast des Großwesirs Sokollu Mehmet Pasha gestanden. Sultan Ahmed I. hatte den Palast gekauft und zerstören lassen, um Platz zu schaffen für sein monumentales Werk, wobei die Grundmauern, die unterirdischen Gänge und Gruften unter dem historischen Gebetsort aber erhalten geblieben waren. Als KC jetzt auf das Bauwerk schaute und an dessen bewegte Geschichte dachte, wusste sie, dass dies hier der Ort war, an dem ihrer aller Reise vor vielen Jahren ihren Anfang genommen hatte. In diesem Haus Allahs hatte Sokollu Mehmet Pasha den Brief an seinen Bruder geschrieben. In seinem ehemaligen Palast hatte er die List ersonnen, den finsteren Teil der Piri-Reis-Karte und den dazugehörigen Hermesstab zu verstecken.
KC konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Unwillkürlich krampften ihre Finger sich um das Fernglas, und ihr Herz schlug schneller bei dem Anblick, der sich ihr plötzlich bot. Er stand im Innenhof der Blauen Moschee, bekleidet mit einem weißen Leinenhemd und dazu passender Hose, und sah aus wie einer der Einheimischen. Unvermittelt nahm er seine Sonnenbrille ab und starrte KC aus zweihundert Metern Entfernung geradewegs in die Augen, mitten hinein in ihre Seele. Dabei legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. So stand er inmitten der wachsenden Menschenmenge aus Gläubigen und Touristen, die an ihm vorüberströmte, wobei niemand bemerkte, dass unter ihnen das personifizierte Böse stand. Er starrte KC unverwandt an, als wüsste er genau Bescheid über jeden ihrer Schritte. Schließlich verbeugte er sich. Es war eine angedeutete Begrüßung, eine letzte Respektsbekundung vor dem Gefecht.
KC trat einen Schritt zurück, sodass er sie nicht mehr sehen konnte, griff sich ihr Mobiltelefon und wählte.
Michael antwortete gleich nach dem ersten Läuten. »Können wir loslegen?«
»Ja«, flüsterte KC, als würde Iblis neben ihr stehen.
»Pass auf dich auf«, sagte Michael, und dabei schwang ehrliche Sorge in seiner Stimme mit.
»Und du pass auf dich auf«, erwiderte KC. »Lass nicht zu, dass meiner Schwester etwas passiert.«
»Ich werde sie beschützen, wie ich dich beschützen würde.«
***
Busch kniete auf der Rückbank der Limousine und sondierte die Lage. Der Lauf seines Scharfschützengewehres lag auf der Hutablage der Heckscheibe aus Rauchglas. Das Gewehr gehörte Michael; Simon hatte es ihm geschenkt. Michael hatte nie den Mut besessen, die Waffe zu benutzen, noch hatte je die Notwendigkeit dazu bestanden, doch er hatte sie in seiner Zaubertasche aufbewahrt für den Fall, dass er sie irgendwann einmal brauchte.
Busch presste den Holzgriff fest gegen seine Schulter, legte den Zeigefinger um den Abzug und drückte sein Auge in die dafür vorgesehene Vorrichtung des Suchers. Der schwarze Gummiring blendete sämtliches Licht von den Seiten aus, sodass es jetzt nur noch durch die Linse des Zielfernrohres drang. Er bewegte die Waffe leicht nach oben und nach unten, nach rechts und nach links, bekam ein Gefühl für sie und beobachtete dabei die Straßen der eleganten Wohngegend. Schließlich fixierte er seinen Blick auf das gewaltige schmiedeeiserne Tor vor Iblis’ Haus. Anders als die meisten Tore der Reichen war es nicht verziert – es gab kein ausgefallenes Dekor, kein Familienwappen auf den schweren Stangen, lediglich doppelt verschweißtes, dickes, abschreckendes Eisen. Busch blickte nach oben auf die Videokameras, die auf hohen weißen Pfählen thronten und den Bürgersteig und das Tor so erfassten, dass nirgendwo eine Stelle blieb, an der man sich hätte verstecken können. Ganz leicht drückte er mit dem Finger auf den Abzug der Waffe; der Laser reagierte sofort und malte einen hellroten Punkt auf den weißen Pfahl, der sich jetzt präzise im Fadenkreuz des Zielfernrohres befand. Busch lächelte.
Busch war bei der Polizei zum Scharfschützen ausgebildet worden, hatte seine Fähigkeiten zum Glück aber nie einsetzen müssen. Schließlich nahm er das Gewehr wieder herunter, um Michael zu beobachten. Der ging soeben den Bürgersteig hinauf, der neben der mit Stuck verzierten, fünf Meter hohen Mauer verlief, hinter der sich Iblis’ Haus verbarg. Michael war bekleidet mit einem leichten hellbraunen Sommerhemd und einer khakifarbenen Hose; über der Schulter trug er eine große Ledertasche, die ihm bei jedem Schritt gegen die Schenkel schlug.
Busch bewegte das Gewehr zwischen Michael, dem schmiedeeisernen Tor und den Videokameras hin und her und zentrierte es. Michael war nur noch etwa acht Meter vom Tor entfernt, als er plötzlich die Hand hob und sich mit den Fingern durch das wellige braune Haar fuhr. Das war das Zeichen für Busch.
Busch reckte den Hals, atmete tief ein und betätigte den Abzug. Der Laserstrahl jagte mit absoluter Präzision durch das Rauchglas der Heckscheibe, 150 Meter die Straße hinauf, und traf die Linse der Infrarotkamera genau in der Mitte.
Diese Kameras funktionieren bei Tageslicht genauso wie bei Dunkelheit und sorgten damit bei Tag und Nacht für hochwertiges Bildmaterial. Deshalb war die Linse hochgradig anfällig, wenn sie zu intensiver Lichteinstrahlung ausgesetzt wurde. Die elektronische Linse der Videokamera wurde nun geblendet vom Laser des Gewehrs. Damit hatte Michael für ganz kurze Zeit die Möglichkeit, unbemerkt auf das Gelände vorzudringen.
***
Die Wohngegend war elitär, stellte Michael fest. Die hinter hohen Mauern versteckten Villen lagen weit auseinander, um jedem Bewohner den bestmöglichen Blick auf den Bosporus und die europäische Seite Istanbuls zu gewähren. Es war Mittagszeit. Alles war totenstill, wie ausgestorben. In den letzten fünf Minuten war kein einziges Auto vorbeigekommen; nicht einmal ein Hund hatte gebellt. Michael zog sich die Ledertasche, die er über der Schulter trug, fester an den Körper und überprüfte den Sitz seiner Sig Sauer, die im Kreuz unter seinem Hemd klemmte. Dann blickte er rasch die Straße hinauf und hinunter, um sicherzustellen, dass sie immer noch leer war, und erklomm die Mauer aus weißem Stuck und Backstein. Er schwang sich über die Mauerkrone, rollte sich ab und landete in der Hocke genau im Sichtfeld der geblendeten Kamera.
Das Grundstück war üppig bepflanzt mit Sträuchern und Blumen, die von einem Landschaftsgärtner professionell angelegt worden waren. Das Haus war eine weißgetünchte Villa im mediterranen Stil mit Ziegeldach und zwei Etagen, die jeweils über mindestens vierhundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche verfügten. Bezahlt hatte Iblis diesen Luxus von den Einkünften durch seine Verbrechen.
Nachdem Michael sich davon überzeugt hatte, dass die Luft rein war, spurtete er an der Mauer entlang zu einem Wachhäuschen, das sich gleich hinter dem Eingang zum Grundstück befand. Es war klein und unauffällig und stand im Schatten einer Platane. Direkt daneben parkte ein Golfmobil. Vorsichtig verlangsamte Michael seine Schritte und kauerte sich unter das rückseitige Fenster des Wachhäuschens; dann schlich er um das kleine Gebäude herum und lief dabei regelrecht in den Wachmann hinein.
Der Kerl war gut eins neunzig groß. Die Nähte seines blauen Blazers spannten sich über den gewaltigen Muskeln. Doch bevor er reagieren konnte, schlug Michael ihm gegen die Kehle. Instinktiv griff der Mann sich an den Hals, als er sich vorbeugte, weil ihm plötzlich die Luft wegblieb. Michael versetzte ihm zwei Kinnhaken, dass er ins Innere des Wachhäuschens zurücktaumelte, wo er auf dem Holzfußboden zusammenbrach. Rasch zog Michael eine Rolle Klebeband aus der Tasche, die an seiner Hüfte hing, und fesselte und knebelte den bewusstlosen Wachmann.
Als er den Arbeitsbereich des Wachhäuschens betrat, begrüßte ihn dort eine Heerschar von zwanzig Sicherheitsmonitoren, deren Bildschirme in dem winzigen Raum nahezu gespenstisch wirkten. An der hinteren Wand gab es vier Garderobenschränke; auf dem Boden davor standen drei Paar Straßenschuhe. Zusätzlich zu seinem schlafenden Freund gab es also mindestens noch zwei weitere Männer auf dem Gelände, gegen die er sich würde behaupten müssen.
Der obere linke Bildschirm zeigte ein strahlend weißes Licht, was von der Wirkung des Lasers herrührte. Busch hatte voll ins Schwarze getroffen. Die anderen Bildschirme zeigten sowohl Innenperspektiven der Villa als auch Außenbereiche: einen Swimmingpool mit Umkleidehäuschen im romanischen Baustil, die Gärten, die Rückfassade, die zum Bosporus hinauslag, diverse Wohn- und Schlafräume. Jeder Bildschirm war gekennzeichnet mit Angaben über die genaue Lage und Himmelsrichtung.
Es war die unterste Bildschirmreihe, die Michael interessierte. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er Simon regungslos daliegen sah, an eine Infusion angeschlossen, der Kopf mit blutigem Mull verbunden.
Cindy war auf dem Bildschirm daneben zu sehen. Michael konnte ihr Gesicht zwar nicht genau erkennen, doch ihre kastanienbraunen Haare ließen keinen Zweifel, dass sie es war. Sie saß in einem großen Ledersessel und sah fern, wobei sie an einer Flasche Mineralwasser nippte. Zum Glück sah sie völlig unverletzt aus. Beide wurden in dem gleichen Raum gefangenen gehalten, der als »Unterer Gesellschaftsraum« gekennzeichnet war.
Michael zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte.
»Sie sind hier«, sagte er, kaum dass KC das Gespräch entgegengenommen hatte. »Sei vorsichtig. Und egal was du tust, behalte immer klaren Kopf und halte dich an unseren Plan.«
Ohne ein weiteres Wort beendete Michael das Gespräch und rief Busch an. »Lass uns loslegen.«
Im gleichen Moment produzierte der eben noch schneeweiße Bildschirm wieder ein Bild und zeigte deutlich den Garten und den Bürgersteig, der mitten in die Gartenanlage führte. Nach wenigen Sekunden sah Michael, wie Busch auf das Tor zujoggte. Für einen Mann, der bei einer Größe von eins fünfundneunzig über zweihundert Pfund wog, bewegte Busch sich immer noch wie ein Jüngling.
Michael drückte auf einen roten, kreisrunden Knopf auf der Sicherheitskonsole. Ein lautes Klicken ertönte, und die riesigen Eisentore öffneten sich zu den Seiten. Busch rannte hindurch und in das Wachhäuschen. Er zückte seine Sig Sauer, zog den Schlitten zurück, ließ das Magazin herausfallen, steckte es wieder hinein und entsicherte die Waffe.
»Wir haben es mit mindestens zwei zu tun«, sagte Michael, als er ein Walkie-Talkie vom Schreibtisch zog und sich den Kopfhörer ins Ohr steckte.
»Bist du plötzlich mit besonderer Sprachbegabung gesegnet?«
Michael sah ihn nur an.
»Du kannst doch kein Wort von dem verstehen, was die sagen.«
Michael blickte ihn immer noch an und brachte ihn damit zum Schweigen.
»Hast du irgendeine Vorstellung, wohin wir hier gehen?«
»Nein«, erwiderte Michael und schüttelte den Kopf.
»Dann nichts wie los.«
Beide Männer traten aus dem Wachhäuschen und schauten auf das Golfmobil. Ohne eine Wort zu verlieren, stiegen sie hinein und fuhren über die Auffahrt auf das Haus zu. Das von den hohen Mauern umschlossene Grundstück schien etwa zwanzigtausend Quadratmeter groß zu sein, und jeder einzelne Quadratzentimeter wurde von Profis in Schuss gehalten. Michael saß am Steuer, als sie seitlich an der Frontfassade des Hauses vorbei auf eine Garage dahinter zufuhren, die sechs Wagen Platz bot. Drei Autos standen darin: eine Mercedes-Limousine, ein Aston Martin Vantage Roadster und ein Maserati GranSport Spyder.
Ein Mechaniker rollte auf einem Liegewagen unter dem Spyder hervor und warf den beiden Fremden in dem nahenden Golfgefährt neugierige Blicke zu. Der kleine Kerl, der bestenfalls sechzig Kilo wog, quälte sich langsam auf die Füße, und der Wagen kam zum Stehen. Im nächsten Moment fiel ihm auf, dass der Wagen sich viel zu langsam bewegte. Sofort griff er nach der Waffe an seinem Hüftgurt, doch Busch sprang vom Beifahrersitz, riss dem Mann die Waffe aus der Hand und drückte ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt. Michael fesselte und knebelte ihn mit Klebeband. Dann schnappte Busch sich den strampelnden Burschen, trug ihn am Hosenbund in die Garage und legte ihn in einem Lagerschrank ab.
Ohne ein Wort zu wechseln, setzten Busch und Michael sich beide wieder in den Wagen und fuhren zur Rückseite des Hauses. Dort bot sich ihnen ein spektakulärer Ausblick: Schiffe glitten vorüber, Jachten und Segelboote mit gebauschten weißen Segeln schnitten durch die blauen Wasser, die Kontinente trennten und das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbanden. Michael hatte nie gewusst, dass Istanbul solche Schönheit und einen derart atemberaubenden Blick auf eine der großen Metropolen der Antike zu bieten hatte. Als er jetzt von Asien aus auf die Meerenge des Bosporus blickte, wurde Michael einmal mehr daran erinnert, dass es verkehrt war, sich Städte immer nur als urbane Wüsten aus Beton und Glas vorzustellen. Das war ebenso unangebracht wie die Behauptung, New York sei eine eintönige Stadt.
»Man sollte doch meinen, dass er mehr Wachen hat«, sagte Busch.
»Stimmt, aber …«
Die Kugel prallte von der Vorderseite des Golfmobils ab. Michael und Busch stürzten sich vornüber von dem rollenden Fahrzeug herunter und krochen auf dem Bauch auf die seitliche Hausfassade zu. Michael zeigte mit dem Finger auf die vordere Ecke des Hauses und dann nach oben.
Busch kniete sich auf den Boden. »Gib alle fünfzehn Sekunden einen Schuss ab.«
»Was …«, begann Michael, aber Busch war bereits verschwunden und rannte um die Hinterseite des Hauses herum.
Ein weiterer Schuss peitschte. Michael feuerte zurück und zielte nach oben in die Richtung, aus der die Schüsse bisher gekommen waren, sah aber niemanden. Hoffentlich wusste Busch, was er tat. Aber sie beide hatten schon mehr als eine lebensbedrohliche Situation überstanden. Busch war immer für ihn da gewesen.
Michael hoffte, dass Cindy und Simon nichts passiert war. Obwohl er sie auf den Bildschirmen gesehen hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass er im Begriff war, in eine Falle zu tappen – eine Falle, die sie alle das Leben kosten konnte.
Wieder fielen zwei, drei Schüsse, gefolgt von einer Salve, die dreißig Sekunden anhielt; dann kehrte wieder Stille ein.
Angespannt lag Michael da, während die Furcht ihm den Rücken hinaufkroch.
»Für den da brauchen wir kein Klebeband mehr«, sagte Busch, als er an der Hausecke auf der anderen Seite auftauchte und auf Michael zukam. »Und was jetzt, du Genie?«
Sie liefen zurück zur Vorderseite des Hauses und stellten fest, dass die Tür bereits offen war. »Das ist gar nicht gut«, sagte Michael.
»Wieso? Hier gibt’s Wachpersonal, Alarmanlagen und eine hohe Mauer. Warum da noch die Tür abschließen?«, meinte Busch.
Michael verschwieg seinem Freund, dass er befürchtete, in eine Falle zu laufen.
Sie betraten das Haus und gelangten durch eine Marmorhalle in einen großen modernen Salon. Sieben Meter hohe Fenster boten einen Ausblick auf einen türkisfarbenen Swimmingpool, der mit blauen Kacheln gefliest war, die aussahen, als hätte man sie geradewegs aus der Blauen Moschee gestohlen. Der Rand des Pools verschmolz mit dem Hintergrund, schien eins zu werden mit dem Bosporus, der knapp einen Kilometer entfernt war. An einer Seite stand ein Poolhäuschen, und die weiße Pergola wurde von bleichen Marmorsäulen getragen.
Die Mittagssonne durchflutete den Salon. Das Mobiliar war nüchtern und modern, beinahe unpersönlich: Tische aus gebürstetem Stahl, Acrylstühle, ein schwarzes Sofa ohne Armlehnen. Es gab keine Familienfotos, keine Erinnerungsstücke; alles sah so steril aus, als wäre es geradewegs einem Katalog entsprungen. Dies hier mochte Iblis’ Haus sein, doch war es gewiss kein warmes, freundliches Zuhause.
»He«, sagte Busch.
Michael drehte sich um und sah, dass Busch die Transportrolle in die Höhe hielt, deren äußere Lederverschalung von Wasserflecken verunziert war. Busch öffnete die Klappe und die innere Verriegelung. Dann blickte er Michael an. »Nichts.«
»Das wäre auch zu einfach gewesen«, erwiderte Michael. »Er hat sie entweder in einen Safe gelegt oder trägt sie mit sich.«
Michael entdeckte eine breite Treppe, die ins Untergeschoss führte. Auf dem Weg nach unten hielten beide Männer ihre Waffen im Anschlag, stets auf das Unerwartete gefasst.
Sie durchquerten das Untergeschoss, öffneten vorsichtig mehrerer Türen und spähten in die Zimmer dahinter. Es gab ein privates Kino, einen verglasten Fitnessraum, einen gut bestückten Weinkeller, ein leerstehendes Schlafzimmer. Sie stießen auch auf einen großen Spielraum, in dem ein Pooltisch, ein Kartentisch und eine Mahagoni-Bar standen. Gegenüber von einem großen Sofa war ein Flachbildfernseher an die Wand montiert.
»Und du bist sicher, dass du sie auf dem Bildschirm gesehen hast?«, fragte Busch.
»Absolut. Der Bildschirm war mit ›Untergeschoss‹ gekennzeichnet.«
»Sie sind aber nicht hier unten«, sagte Busch.
Michael schaute sich noch einmal um, fuhr mit den Fingerspitzen über die Wände und klopfte auf der Suche nach Hohlräumen auf den Fußboden.
»Vergiss es. Sie sind irgendwo anders«, meinte Busch. »Warum sollte Iblis einen Ort kennzeichnen, an dem er Leute gefangen hält, die er entführt hat?«
Michael schüttelte den Kopf. »Sie sind hier.«
»Diese Etage ist genauso angelegt wie die über uns«, entgegnete Bush. »Es gibt nicht genug Platz, um einen ganzen Raum zu verstecken.«
»Iblis ist ein Dieb«, hielt Michael dagegen. »Er hat seine Trophäen, seine Souvenirs. Er ist hochmütig. Es kann nicht sein, dass er in diesem sterilen Umfeld lebt.«
»Vielleicht wohnt er ja in dem Poolhäuschen«, meinte Busch halb im Scherz.
Michael ging zur Bar. Die Holztäfelung, die vom Boden bis zur Decke reichte, war aus dunklem afrikanischem Mahagoni, das mit Messing beschlagen war. Kunstvolle Messingleuchten standen zu beiden Seiten; die Glühbirnen waren heruntergedimmt und tauchten alles in einen warmen Schimmer. Die Eismaschine war voll, die Bar bestens bestückt mit Hunderten von Flaschen – von Ingwerwein bis Rum, von Absinth bis Tequila, Wodka, Whiskey, Frangelico und Grand Marnier, bis hin zu zweifach destilliertem türkischem Raki mit Anisgeschmack.
Michael untersuchte alles mit Bedacht. Die Rückwand war verkleidet mit unterteilten Schränken und Bar-Caddys, die ebenfalls aus dem dunklen afrikanischen Mahagoni gefertigt waren. Er strich mit den Fingerspitzen über die Vernahtungen, griff unter den Rand der Bar und öffnete die darunter liegenden Schubladen und Türen. Er lugte hinter die Bar. Obwohl sie an die Rückwand grenzte, konnte er immer noch sehen, wonach er suchte.
»Ich glaube nicht, dass er im Poolhäuschen wohnt, aber vielleicht …« Michael zog die kunstvolle Messingleuchte weg, die auf der rechten Seite der Bar stand. »Vielleicht wohnt er unter dem Poolhäuschen.«
Die linke Seite der Bar schwang auf leisen Scharnieren auf, und sie blickten auf eine große Metalltür.
Es war eine Tresortür, zweieinhalb mal einen Meter groß, die weder über einen sichtbaren Türgriff verfügte, noch über ein Schloss, ein Schlüsselloch oder ein Zahlenschloss, das sich drehen ließ. Michael untersuchte die Tür, fuhr mit den Händen über den Stahlrahmen und tastete mit den Fingerspitzen über die nur haarbreiten Türritzen.
Hergestellt von der Firma Matrix, war sie ein Bestseller dieses amerikanischen Unternehmens, siebeneinhalb Zentimeter dick, mit vier vorstehenden Bolzenschlössern auf jeder Seite, die in einem Stahlrahmen und einer Schwellenplatte mit Magna-Verschluss verankert waren. Es war eines der edelsten Stücke, die derzeit auf dem Markt waren. Es gab keinen Schlüssel, kein traditionelles Einstellrad, für das man eine Zahlenkombination brauchte. Vielmehr bediente man die Tür mit einem elektronischen Keypad, das man in sicherer Entfernung des Tresors aufbewahren konnte, was eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme gegen Diebe darstellte.
Michael drehte sich um und ließ noch einmal den Blick schweifen.
»Wonach suchen wir?«, fragte Busch.
»Nach einem Keypad. Es ist wahrscheinlich hinter einer Holztäfelung oder irgendeinem Gemälde versteckt.«
Michael und Busch zogen jede Schublade auf, schauten hinter die Bar und hinter jeden der billigen Rahmen, in denen Filmplakate von »Casablanca«, »Der Unsichtbare Dritte« und »Spartakus« hingen, mit denen die Wände geschmückt waren.
Busch schnappte sich den Unterrand des an die Wand montierten Plasmafernsehers und hob ihn auf den Scharnieren nach oben. Es ließ sich nur ein paar Zentimeter bewegen und war so installiert, dass jeder, der an der Bar saß, den Bildschirm sehen konnte.
»Ich hasse das«, schimpfte Busch.
»Was?«, fragte Michael, der hinter der Bar hockte und gerade ein Dutzend Kristallgläser zur Seite schob.
»Die kaufen diese Dinge nur, um damit zu prahlen. Was für eine Verschwendung.«
Michael stand auf und legte fragend den Kopf zur Seite.
»Würdest du dreißigtausend für einen Zwei-Meter-Plasmafernseher hinblättern und dir dann nicht die Mühe machen, das Ding anzuschließen?«
Michael hockte sich wieder auf den Boden und schob weiter Gläser von der einen Seite auf die andere. Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er sprang auf. Suchend huschte sein Blick durch das Zimmer. »Verdammt. Er hat es nicht versteckt. Es liegt offen da!«
»Was?«
Michael schnappte sich die Fernbedienung, die auf der Theke lag, und nahm sie in Augenschein. Sie sah wie die ganz normale Fernbedienung eines Fernsehers aus und trug sogar das Markenzeichen des Herstellers. Es gab farbige Knöpfe, um den Apparat ein- und auszuschalten, es gab Bedienungsknöpfe für Video- und DVD-Recorder. Vor allem aber verfügte das Teil über eine Zahlentastatur.
»Er öffnet die Tür per Fernbedienung?«, fragte Busch.
»Ja. Du kannst sie offen liegen lassen, kannst sie sogar mit dir herumtragen, wenn du möchtest. Das bemerkt niemand.«
»Wie lang ist die Zahlenkombination?«
»Neun Ziffern.«
»Neun Ziffern? Das sind über eine Million Möglichkeiten!«, entfuhr es Busch.
»Dreihundertachtzig Millionen, um genau zu sein«, erwiderte Michael und öffnete die Rückverkleidung der Fernbedienung. Er zog einen Satz Miniaturschraubenzieher aus seiner Ledertasche und nahm die Abdeckplatte herunter. Dann schaute er sich im Zimmer um. Rasch fiel sein Blick auf einen kleinen dunkelroten Sensor über der Bar. Er kletterte auf einen der Mahagonischränke, entfernte die Abdeckplatte des Infrarotempfängers, zog die dunkelrote Dose aus der Wand und ließ sie an ihren drei Drähten hängen.
Dann sprang er zurück auf den Boden und schaute sich erneut im Raum um, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Die Sofas, die Bar, der Tisch. Schließlich blieb sein Blick auf dem schwarzen Audio-Videoschrank haften, der genau unter dem Plasmafernseher stand. Er ging hinüber, schaute hinter das Gerät und entdeckte ein Bündel Drähte und Kabel, die aus der Wand herauskamen, bevor sie in der Rückseite des schwarzen Schranks verschwanden.
»Und was nun?«, fragte Busch. »Kannst du die Kombination knacken? Sind ja schließlich nur dreihundertachtzig Millionen Möglichkeiten.«
Michael ignorierte seinen Freund. »Man steckt den Kontrollcomputer für einen elektronischen Tresor niemals in den Safe. Wenn der Computer versagt, bist du auf die übelste Weise ausgesperrt, ohne die Möglichkeit, das System neu einzustellen.«
Michael öffnete den Videoschrank und fand die Anlage: Da standen DVD-Player, DVD-Recorder, Videorecorder und Verstärker. Auf einem separaten Regal hinter einer Rauchglasscheibe standen ein Computer und ein Flachbildschirm. Auf dem Monitor stand »Central Station«. Michael entfernte die Glasscheibe und sah sich den Computer genauer an. »Einen Zwanzig-Tausend-Dollar-Computer benutzt du nicht für iTunes.«
»Für was dann?«
Michael zog den schwarzen Computer aus dem Schrank und entfernte die rückwärtige Abdeckplatte. »Damit kontrollierst du deinen Tresor.«
Er zog eine Taschenlampe aus der Tasche, untersuchte das Innenleben des Computers und entfernte eine kleine Batterie aus Nickel-Kadmium. »Alle Computer haben eine kleine Batterie, die das Gerät selbst dann mit bestimmten Memory-Funktionen versorgt, wenn das System abgeschaltet ist.« Er untersuchte das Motherboard und entfernte einen schwarzen Chip, den er Busch hinhielt, damit er ihn sich ansehen konnte. »MRAM ist eine Speichertechnik, bei der kein Strom benötigt wird, um die gespeicherten Daten zu erhalten. Das ist die Stelle, an der die Alarmmemory dieses Systems und der Tresortür gespeichert ist, sodass man bei Stromverlust und anderen Notfällen immer noch an den Tresor herankommt. Aber wenn wir das Teil herausnehmen, zusammen mit dem Batterie-Backup für das BIOS, ist das System wie jungfräulich, und wir können ein ganz neues Passwort eingeben.«
Michael schaltete den Computer ab, wartete dreißig Sekunden und schaltete ihn dann wieder ein. Der Bildschirm erstrahlte grün. Darauf stand: »System Initialization. Reset System. Reset Password.«
Michael tippte schnell, und das System wurde neu gestartet. Nachdem ihm voller Zugriff gewährt war, bearbeitete er den Computer etwa dreißig Sekunden lang und drückte dann wie unter einem Fanfarenstoß auf die Enter-Taste.
Ein lautes Zischen ertönte, dem ein Klicken folgte, das aus dem Innern der Tresortür drang.
Die siebeneinhalb Zentimeter dicke Tür öffnete sich nach außen. Dahinter tat sich ein im Dunkel liegender Korridor auf. Als die Tür sich ganz geöffnet hatte, schalteten sich automatisch die Lichter ein, erleuchteten nacheinander den gesamten Korridor und zeigten eine andere Welt, eine edle Welt voller Eleganz und Stil, voller Trophäen und Geheimnisse.
Michael und Busch betraten den Korridor und stellten fest, dass er mit dunklem Mahagoni getäfelt war, in das Regale eingelassen waren. Auf den kostbaren Holzfußböden lagen dicke blaue und grüne Perserteppiche. Gemälde, die von Kunstleuchten angestrahlt wurden, hingen zwischen Skulpturen und Regalen mit antiken Büchern. Als sie den Korridor hinuntergingen, erkannte Michael das erste Kunstwerk als Pablo Picassos »Nature morte à la charlotte«. Es war 2004 in Paris aus einem Restaurationsstudio gestohlen worden, ohne dass der Dieb irgendwelche Spuren hinterlassen hatte, und es gab weder Zeugen noch Hinweise. Michael schüttelte den Kopf, als er jetzt darauf zulief, blieb dann aber stehen und starrte auf ein wundervolles Gemälde auf Holz, das die Jungfrau Maria zeigte, die das Jesuskind hielt. Die dunklen Farben, die von Stolz erfüllten Augen wirkten wie lebendig, und das Ganze war so detailgetreu, dass es herzergreifend war. Dieses Werk, das man 2003 dem Herzog von Buccleuch gestohlen hatte, war Leonardo da Vincis legendäre »Madonna mit der Spindel«. Das Gemälde war mehr als hundert Millionen Dollar wert.
»Hübsch«, meinte Busch, der keine Ahnung hatte, was er sich da anschaute.
Michael erwiderte nichts. Sie gelangten zu einer schweren Mahagonitür und öffneten sie. Der Raum dahinter war sanft beleuchtet; in der Mitte stand ein einzelner Stuhl. Was Michael vor sich sah, war mit dem Verstand kaum zu erfassen. An den Wänden hingen drei Gemälde von Rembrandt, eines von Johannes Vermeer, ein Edouard Manet und fünf Arbeiten von Degas. Michael blickte fassungslos auf die Beute eines Kunstraubes in Boston, der über fünfzehn Jahre zurücklag und der als einer der bekanntesten ungelösten Kunstdiebstähle der Moderne galt. Allein dieser Raum hatte einen Wert von über vierhundert Millionen Dollar.
»He«, rief Busch und tippte dabei auf seine Armbanduhr.
Michael schloss die Tür, und sie liefen den Korridor hinunter.
Iblis war ein Dieb, dem niemand das Wasser reichen konnte. Die Kunstgegenstände in diesem Keller mussten einen Gesamtwert von mehr als einer Milliarde Dollar haben, und er hatte beschlossen, kein einziges davon zu verkaufen. Er betrachtete sie als seine Trophäen – Erfolge, die er mit niemandem teilen konnte. Iblis war kein Prahler; er brauchte es nicht, dass man ihm gratulierte und anerkennend auf die Schulter klopfte.
Der Korridor führte an einem kleinen offenen Wohnbereich vorüber, in dem ein Sofa und zwei Stühle standen; er wurde beherrscht von einem einzelnen Gemälde, das von drei Kunstleuchten unter der Decke angestrahlt wurde. Das Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert hing an der Rückwand des Raumes und war das Herzstück von Iblis’ Sammlung. Es stand außer Frage, dass er dieses Bild für seine allergrößte Errungenschaft hielt.
Als Michaels Blick auf das »Concerto de Oberion« fiel, ein Meisterwerk von Govier, löste sich die berufliche Bewunderung, die er gerade noch für Iblis empfunden hatte, ganz schnell auf.
Vier Menschen waren ums Leben gekommen bei dem Einbruch in das Museum in Berlin: zwei junge Doktoranden waren durch Kopfschüsse ermordet worden, und einer zwanzigjährigen Sekretärin hatte man die Kehle durchgeschnitten. Doch es war vor allem der grausame Tod des Museumsdirektors gewesen, der die Kunstwelt erschüttert hatte. Man hatte Hans Grunewald die Ohren abgeschnitten, die Haut vom Gesicht geschält und ihm Kalilauge in die Augen geschüttet – und das alles, als er noch am Leben gewesen war. Man hatte den Mann gefoltert, damit er die Sicherheitskombinationen des Museums verriet. Zehn Tage lang hatte er sich noch gequält, bis er starb, konnte sich aber nicht mehr an den Dieb erinnern.
Michael drehte sich der Magen um, als er sich vorstellte, wie Iblis das Govier-Gemälde zum ersten Mal hier aufgehängt hatte, wie er sich jedes Mal selbst applaudierte und gratulierte, wenn er vor diesem Kunstwerk saß, das er durch den Tod von vier unschuldigen Menschen an sich gebracht hatte.
Michael wandte sich angewidert ab. Was er als Nächstes erblickte, riss ihm beinahe das Herz aus der Brust. Er schaute auf einen Bücherschrank aus Mahagoni, der direkt neben dem Govier an der Wand stand. Der Schrank war voller Bücher und Erinnerungsstücke, Souvenirs und Fotografien. Es waren die Fotos, die Michael so verstörten – weit mehr noch, als der Govier es getan hatte, weit mehr als irgendetwas, was er sich hätte vorstellen können. Jedes Foto befand sich in einem Rahmen von Tiffany’s, und alle zeigten ein und denselben Menschen in seiner Teenagerzeit und in den frühen Zwanzigern. Das neueste Bild schien erst wenige Tage alt zu sein, denn es war heimlich hier in Istanbul aufgenommen worden, auf dem Gelände des Topkapi-Palasts. Die Person, die fotografiert worden war, hatte nichts davon bemerkt. Jedes Foto war mit akribischer Hingabe gerahmt und mit Liebe aufgestellt worden, ganz so, als sei die abgebildete Person das kostbarste Stück in Iblis’ Sammlung. Es gab nicht den geringsten Zweifel an den Gefühlen, die Iblis für diesen Menschen hegte. Wahrscheinlich schaute er sich die Fotos jede Nacht an, blickte gebannt in die grünen Augen und auf das lange blonde Haar.
Für Michael stand fest, dass Iblis KC liebte.
Ohne nur noch eine Sekunde länger nachzudenken, trat Michael aus dem Wohnbereich heraus und ging zum Ende des Korridors, wo Busch stand und ihn anstarrte.
»Hast du da hinten ein Gespenst gesehen?«, fragte Busch.
»Lass uns beten, dass Cindy und Simon hier unten sind, damit wir aus dieser Hölle rauskommen.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass ich die beiden gefunden habe«, sagte Busch und trat zur Seite, wodurch eine weitere Tresortür sichtbar wurde. Sie hatte ein normales Kombinationsschloss. Der gebürstete Stahl wirkte durch die warmen dunklen Holzwände und die persischen Teppiche noch kälter und härter. Für diesen Tresor wurden keine Computer gebraucht; hier verließ man sich nicht auf moderne Elektronik. Die Tür war eine Sands-Meanne, eine altmodische mechanische Tür, die aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts stammte.
Michael schlug gegen den Stahl, so fest er konnte.
Er wartete einen Moment und schlug dann noch einmal dagegen. »Cindy? Kannst du mich hören?«
Michael und Busch warteten. Der Augenblick zog sich schier endlos dahin.
»Michael.« Cindys Stimme war durch die dicke Metalltür kaum zu hören.
»Ist Simon bei dir?«
»Es geht ihm schlecht, Michael, du musst dich beeilen.«