47.

KC stand in einem Raum, in dessen Steinwänden sich Einbuchtungen befanden, auf denen Hunderte kleiner Teelichter standen, die den etwa zehn mal zehn Meter großen Raum in orangefarbenes Licht tauchten. Venue und Cindy standen neben ihr und flüsterten miteinander.

Hinten an der Wand saßen nebeneinander vierzig Mönche im Lotussitz. Mönche, die ganz anders aussahen, als KC erwartet hatte. Sie trugen alle knöchellange Gewänder, jedoch von unterschiedlicher Farbe: Einige waren weiß, andere dunkelrot, manche waren blau, manche safrangelb. Aber es waren auch vom Schnitt her nicht die gleichen Gewänder; jedes sah anders aus.

Auch ihr Haar trugen sie auf unterschiedliche Weise; nicht alle waren kahlköpfig, wie man es in einem asiatischen Kloster eigentlich erwarten würde. Obwohl einige geschorene Schädel hatten, trugen andere ihr Haar lang; wieder andere trugen moderne Frisuren.

Doch nicht nur Kleidung und Frisuren strahlten Individualität aus, auch die Nationalitäten. Die meisten Mönche waren Asiaten – Japaner, Inder, Tibeter, Chinesen, Vietnamesen –, aber es waren auch Afrikaner darunter, Männer aus dem Mittleren Osten und Hispanos. Es war eine repräsentativer Querschnitt der Weltbevölkerung.

Noch seltsamer war der Schmuck, den sie um den Hals und um die Lenden trugen. Es gab kein vereinigendes Zeichen. KC sah die Symbole der Weltreligionen: das Kruzifix des Katholizismus, das Kreuz des Christentums, den jüdischen Davidstern, den islamischen Halbmond. Es gab buddhistische Gebetskugeln und das Rad des Dharma, das hinduistische Om und mehrere Symbole, die KC nicht erkannte.

Die Mönche hatten im Tempel und auf dem Tempelgelände gearbeitet, als KC mit Venue und seinem Gefolge aus der Höhle heraus und in dieses Paradies gekommen waren. Einige Mönche hatten Gartenarbeiten verrichtet, manche hatten im Altarbereich gekniet, andere in kleinen Vorräumen meditiert. Keiner von ihnen leistete Widerstand, als Iblis’ Männer mit gezogenen Waffen auf sie zuliefen; ihre Gesichter verrieten keinerlei Erstaunen beim Anblick der gewalttätigen Meute, und es lag keine Furcht in ihren Augen, als man sie in den Tempel schob und in den Raum pferchte, in dem sie nun verharrten.

Während der ganzen Zeit sprach keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort. Lediglich der eine Mönch, dem sie im Altarraum begegneten, sagte etwas. Er schien Tibeter zu sein, war von mittelgroßem Wuchs und hatte dunkles, bürstenkurzes Haar. Er trug ein grünes Seidengewand; die Ärmel und der Kragen waren mit Gold besetzt. Abgesehen von einer Narbe auf der rechten Wange war die Haut des Mannes makellos. Er stand vor dem Altar. Seine Fingerspitzen berührten einander, und er war friedlich im Gebet versunken.

Als Venue und seine Männer durch die breiten Türen kamen, blickte er auf. Seine Augen lächelten, und er legte den Kopf zur Seite. Lange starrte er Venue an; dabei lag etwas in der Luft, was darauf schließen ließ, dass gleich etwas passieren würde. Schließlich ergriff der Mönch das Wort und sagte: »Sie begehen den schwersten Fehler, den ein Mensch begehen kann.«

Iblis erschoss ihn mit einer einzigen Kugel, die den Tibeter mitten ins rechte Auge traf.

KC zeigte keine Regung angesichts der Gewalt, aber Cindy stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Sie hatte bisher noch nicht erlebt, wie unmenschlich Iblis sein konnte. Sah man von ihrer Entführung ab, hatte sie bislang ein behütetes Leben geführt, hatte in ihrer eigenen kleinen Welt gelebt und nichts von der Grausamkeit gewusst, die in den Herzen mancher Menschen wohnte.

Obwohl KCs Miene ruhig blieb, war sie zutiefst schockiert. Es war nicht der Schock über den Mord oder die Gefühllosigkeit, die Iblis einmal mehr an den Tag gelegt hatte, es war vielmehr der Schock über das, was der Mönch gesagt hatte, und wie er es gesagt hatte. Der Mann schien zu wissen, warum sie hier waren; er schien sogar gewusst zu haben, dass sie kommen würden. Außerdem hatte er sie in perfektem Englisch angesprochen.

KC blickte durch den Raum aus Stein und auf jeden der Mönche, die schweigend und ruhig dasaßen und beteten, als würden sie die Gewehrläufe, die nach wie vor auf sie gerichtet waren, gar nicht bemerken.

Iblis erschien im Türrahmen. Sein plötzliches Auftauchen riss KC in die Gegenwart zurück. Er und Venue wechselten einen vielsagenden Blick. »Wir haben es gefunden.«

»Los, Mädchen«, sagte Venue, ohne KC oder Cindy dabei anzublicken.

Geschlossen verließen sie den Raum und folgten Iblis durch einen langen Steinkorridor, der in den Granit gemeißelt worden war und alle paar Meter von Fackeln erhellt wurde, die sie daran erinnerten, dass sie sich nicht mehr in der modernen Welt befanden. Der Korridor schlängelte sich mal nach links, mal nach rechts und führte immer tiefer hinein in den Berg, bis sie in ein großes Vestibül gelangten. Dort brannten helle Fackeln und drängten die Dunkelheit zurück, die aus allen Richtungen auf sie zukroch. Der kreisrunde Raum war wohl achtzig Quadratmeter groß; seine Wände waren aus glänzendem Stein. Fußboden und Decke waren so aufwendig verziert, wie KC es nie zuvor gesehen hatte. Die mit Gold eingelegten Symbole wirkten abstrakt, andererseits aber so, als hätten sie einen tieferen spirituellen Zweck. Sieben Gänge zweigten von dem runden Raum ab wie Speichen an einem Rad und führten in verschiedene Richtungen.

Iblis zeigte in einen der Gänge, an dessen Ende sich eine Wendeltreppe befand, die hinab in die Finsternis führte. Sie stiegen die Treppe hinunter und wurden bald von Schwärze eingehüllt, sodass sie sich mit den Händen an der Wand entlangtasten mussten, um sich zu orientieren. Sie erreichten einen kleinen Vorraum, wo vier von Iblis’ Männern, die Waffen im Anschlag, vor einer Türfüllung standen. Sie stoben sofort auseinander, als sie ihren Boss erblickten, und eine große schwarze Tür wurde sichtbar.

Die Tür sah aus, als wäre sie geradewegs einem Albtraum entsprungen. Sie war aus dickem Ebenholz und beschnitzt mit den Bildnissen der grauenvollsten Kreaturen, Dämonen und Teufeln, die vor Zorn und Furcht die Mäuler aufrissen. Unzählige verlorene Seelen krochen über das schwarze Holz: Männer, Frauen und Kinder, die nach Rettung schrien, die ihnen niemals zuteil werden sollte.

Cindy trat verschreckt zurück, als sie in die Augen der Kinder blickte, die in ihrer Furcht erschreckend lebendig wirkten. KC war zwar schockiert, ließ es sich aber nicht anmerken. Sie starrte auf das Mittelstück der Tür, auf die ausgehöhlte Ausbuchtung. Sie war lang und schmal, ein Nichts, das auf ein Etwas wartete, das es ausfüllte, ganz so, als hätte jemand das Herz der Tür mit fachmännischer Hand herausgeschnitten.

Als KC auf die Tür blickte, die mit den Bildnissen des Grauens geschmückt war, begriff sie plötzlich, welchen Sinn der Stab hatte, wo er herkam und wohin er gehörte.

Venue trat vor. Seine Männer machten ihm eilig Platz. Er streckte die Hand aus. Iblis reichte ihm die lederne Transportrolle und trat mehrere Schritte zurück, als gehöre dies zur Zeremonie. Venue öffnete die Klappe der Rolle, griff hinein und zog den sechzig Zentimeter langen Stab heraus. Die mit Juwelen besetzte Stange und die Rubinaugen erwachten im Lichterglanz der Fackelfeuer zum Leben.

Venue stellte sich vor die Tür und hielt den Stab, als hielte er ein neugeborenes Kind in den Armen. Im nächsten Moment steckte er ihn ohne zu zögern in die Einbuchtung der Tür. Er passte perfekt. Zwei schwarze Klemmen klappten über dem Stab zu und brachten ihn in die richtige Position.

Venue trat zurück und begutachtete sein Werk. Die Tür war nun wieder komplett; die beiden finsteren Schlangen mit den aufgerissenen Mäulern waren wieder zu Hause. Die Juwelen schienen im Licht des Feuers zu pulsieren, zu pochen wie ein Herz, das zu neuem Leben erwacht. Alle hielten den Atem an, warteten und fragten sich, was nun geschehen würde. In Erwartung des Unbekannten wurde es totenstill im Raum.

Dann erklang ein seltsames Geräusch, sonor und kehlig, als hätte die Erde zu sprechen begonnen. Die Wachhunde erstarrten und umklammerten ihre Waffen noch fester. Cindy rückte näher an die Männer heran, als könnten diese sie beschützen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, und der Stab brach in der Mitte auseinander, rutschte aus seiner Verankerung und fiel in zwei Teilen auf den Boden, sodass sein Innenleben, das aus undurchsichtigem Harz bestand, plötzlich freilag und jedem im Raum offenbarte, dass es sich um eine Fälschung handelte.

Als Iblis sah, dass der Stab eine Imitation war, wurden seine Augen schwarz vor Wut, und sein Körper begann zu beben. Er drehte sich zu KC um. Sein Gesicht war eine hässliche Maske des Zorns. »Was hast du getan? Was …«

Bevor er weitersprechen konnte, stellte Venue sich zwischen sie. Hinter ihm wirkte Iblis, der augenblicklich verstummte, wie ein Zwerg. Venue schaute KC in die Augen; dann blickte er hinunter auf den zerbrochenen Stab und brach zum allgemeinen Erstaunen in schallendes Gelächter aus.

»Was hast du mit dem echten Stab gemacht?«, brüllte Iblis und versuchte, sich an Venue vorbeizudrängen.

»Lasst uns einen Spaziergang machen«, sagte Venue zu KC und Cindy; dann drehte er sich zu Iblis um. »Geh und sieh dir die anderen Räume an. Um diese Tür hier werde ich mich kümmern. Das bringe ich selbst in Ordnung.«

KC und Cindy folgten Venue, und schweigend stiegen sie wieder die dunkle Wendeltreppe hinauf, gingen zurück durch die mit Fackeln erleuchteten Gänge und vorüber an dem Raum, in dem lautlos die Mönche beteten. Sie gelangten zu einer breiten Holztreppe und stiegen hinauf in die zweite Etage des Tempels. Dort betraten sie ein großes Foyer. Die aus Kiefernstämmen gezimmerten Wände waren mit religiösen Ikonen geschmückt: Mandalas und Madonnen, Abraham und Shiva, Mohammed und Shangdi.

Venue betrat einen Korridor, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen. Er öffnete die erste Tür und hielt sie seinen Töchtern auf.

Der kleine Raum war das Privatgemach eines der Mönche. In der Ecke lag eine Futonmatratze; dicke Kissen waren gegen die Wand gelehnt. Es gab ein schlichtes Schreibpult aus Kiefernholz und einen Stuhl. Venue nahm eine Zeitung von dem kleinen Regal über dem Schreibpult und blätterte sie durch, konnte die chinesische Schriftzeichen aber nicht entziffern.

Das Gemach wurde wie alle anderen Räumlichkeiten von kleinen Kerzen erhellt. Mehrere Räucherstäbchen glühten rot; ihr erdbrauner Rauch stieg zur Decke hinauf. Venue setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibpult, lehnte sich zurück und inhalierte den süßen Duft des Kiefernharzes, der Kräuter und der Gewürze, die dem Raum eine beruhigende Atmosphäre verliehen.

Cindy setzte sich auf eines der großen Kissen, während KC stehen blieb.

»Was würde eure Mutter sagen, wenn sie uns hier so sehen könnte?«, fragte Venue und ließ den Blick zwischen KC und Cindy hin und her schweifen. »Ich und meine beiden Mädchen sitzen in einem Tempel, der über viertausend Jahre alt ist.« Er lachte. »Sie würde vor Schreck gleich noch einmal sterben.«

»Wie kannst du es wagen!«, stieß KC hervor. »Wir haben nichts mit dir zu schaffen. Du hast unsere Mutter im Stich gelassen.«

»Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man ins Gefängnis kommt.«

»Und du hast deinen Tod inszeniert.«

»Wir alle müssen sterben.« Venue ließ die leise Drohung in der Luft hängen. »Dieser Knabe, dieser Michael … du scheinst ihm wirklich etwas zu bedeuten.«

»Wage ja nicht, ihn jetzt ins Gespräch zu bringen!«

»Den meisten Kerlen ist nicht zu trauen. Ich schätze, den meisten Frauen auch nicht. Richtig, KC? Manchmal sind die Dinge nicht, was sie zu sein scheinen. Manchmal glauben wir nur, wir wüssten, was um uns herum passiert.«

KC reagierte nicht darauf.

»Die Menschen können schrecklich unberechenbar sein«, fuhr Venue fort und starrte KC dabei an.

»Worüber redet ihr, und was ist da unten gerade passiert?«, brach es aus Cindy heraus. »Was ist hinter dieser Tür?«

Venue sah zwischen den beiden hin und her. »Sollte das nicht besser KC beantworten?«

KC stand schweigend da, starrte Venue an und lieferte sich ein wortloses Gefecht mit ihm. Cindy schien gar nicht anwesend zu sein; die Unterhaltung und das Schachspiel fanden ausschließlich zwischen KC und Venue statt. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie schließlich, denn die Wahrheit wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen.

Lächelnd gab Venue nach. »Dieser Tempel hier ist älter als der Islam, älter als das Christentum, das Judentum, älter als Buddha und die Götter des Hinduismus. Da überlegt man sich schon, wer ihn gebaut haben könnte, wen sie hier angebetet haben und wen sie heute hier anbeten. Was sie bewachen und beschützen.«

»Meinst du nicht, dass diese Mönche Widerstand geleistet hätten, wenn sie hier etwas bewachen oder beschützen würden?«, meldete Cindy sich zu Wort.

»Vielleicht bewachen sie etwas, was keines Schutzes bedarf«, erwiderte KC, sah dabei aber weiterhin Venue an und ließ ihre Worte ein paar Sekunden einwirken. »Oder sie beschützen nichts vor der Welt, sondern beschützen die Welt vor etwas.«

Cindy lachte nervös auf. »Du bist immer so dramatisch.«

Venue starrte KC an, als würde er Cindy gar nicht hören.

»Sehen sie für deine Augen alt aus?«, wollte Venue von KC wissen und drehte sich dabei leicht auf seinem Stuhl.

»Wer?«, fragte Cindy, die jetzt verbissen versuchte, sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

KC schwieg weiter. Sie wusste, worauf Venue mit seiner Frage hinauswollte; er hatte eine Beobachtung gemacht, für die er keine Bestätigung brauchte. Sie hatte das Gleiche gesehen. Obwohl keiner der Mönche jung war, humpelte auch keiner von ihnen altersschwach herum oder lief gebeugt oder vom Leben gebeutelt. Die Weisheit in ihren Gesichtern rührte von Erfahrung her, von den vielen Jahren, die sie bereits gelebt hatten, doch sie alle hatten junge Augen, voller Leben und voller Optimismus und von keinerlei Hoffnungslosigkeit getrübt.

»Es gibt ein paar Dinge an diesem Ort …«

»Was für Dinge?«, fragte Cindy, die zusehends frustrierter wurde.

Schnellen Schrittes kam Iblis zu ihnen. »Wir haben die anderen Räume gefunden.«

»Gut«, erwiderte Venue seelenruhig und blieb sitzen, als hätte es keine Eile.

Verwirrt blickte Iblis ihn an. »Wollen Sie sich die Räume denn nicht ansehen? Sie sind unglaublich.«

»Noch nicht.« Venue rührte sich nicht von der Stelle. »Wir müssen hier erst noch auf jemanden warten.«

»Auf wen?«, fragte Iblis.

Noch immer blickte Venue KC an, schaute ihr fest in die Augen und lächelte. »Auf Michael St. Pierre.«