5.

Katherine Colleen Ryan war fünfzehn Jahre alt, als sie ihren ersten Diebstahl beging. Ihr Opfer war ein unverheirateter Mann in den Vierzigern, der allein in einem Londoner Stadthaus in der Nähe des Trafalgar Square lebte. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen sah sie ihn in der billigen Spielhalle auf dem gleichen Stuhl sitzen und beobachtete, wie er den jungen Mädchen, die kamen und gingen, anzügliche Blicke zuwarf.

Dann kam der Donnerstagnachmittag, der ihr ganzes Leben veränderte. Sie war mit zwei Freundinnen, Lindsey und Bonnie, in die Whistle Down Arcade gekommen. Jedes der Mädchen kaufte sich eine Flasche Sprudelwasser. Sie wollten sich gerade auf den Weg in die Halle mit den Flipperautomaten machen, als der Mann Bonnie ansprach. KC war es gewohnt, dass die Männer sie anstarrten. Aufgrund ihrer Größe und ihres Erscheinungsbildes wirkte sie eher wie eine Achtzehn- oder Zwanzigjährige. Bonnie hingegen sah genau so alt aus, wie sie war, und wirkte unschuldig mit ihrem kurzen dunklen Haar und den Sommersprossen, sodass KC die Galle hochstieg, als sie sah, dass der Mann sich an sie heranmachte. KC zog Bonnie zur Seite und fragte sie, was sie da treibe, doch Bonnie riss sich los und sagte ihr, sie solle sich um ihren eigenen Kram kümmern. KC und Lindsey beobachteten, dass sie sich mit dem Mann an einen Tisch in die Ecke setzte, und überließen sie wütend ihrer Starrköpfigkeit, ihrer Dummheit und ihrem Schicksal.

KC und Lindsey vertrieben sich den Nachmittag mit typischen Teenagervergnügungen: Sie flirteten, lachten und ließen sich treiben. Gegen siebzehn Uhr dreißig stellten sie fest, dass Bonnie bereits ohne sie gegangen war, und machten sich auf den Heimweg.

Kaum öffnete KC die Tür ihrer kleinen Wohnung in Kentshire, stieg ihr der Geruch von aufgewärmtem Rindereintopf in die Nase. Ihre neunjährige Schwester Cindy saß auf dem Bett und machte ihre Hausaufgaben; der Essensteller stand neben ihr auf dem Nachttisch. Beide Mädchen hatten schon früh gelernt, selbstständig zu sein. Ihre Mutter Jennifer Ryan arbeitete nachts für eine Reinigungsfirma in Langate, wischte Fußböden und putzte Toilettentöpfe. Tagsüber verdingte sie sich als Schneiderin in einer chemischen Reinigung am Piccadilly Circus. Seit KC zurückdenken konnte, hatte ihre Mutter immer zwei Jobs gehabt und ihre Tage und Nächte geopfert, um ihre beiden Mädchen großziehen zu können. Und sie hatte es ganz allein getan, denn der Vater der Mädchen war acht Jahre zuvor gestorben.

Es war eine von KCs ersten Erinnerungen. Nicht wie die verschwommenen, bruchstückhaften Erinnerungen, die man aus der Zeit als kleines Kind hat, nein: Es war eine der ersten Erinnerungen, bei denen alles ganz klar ist: die Farben, die Gerüche, die Menschen – und vor allem die Gefühle. Der Winterwind heulte über das zugefrorene Gelände des St.-Thomas-Friedhofs im englischen Shrewsbury, und die umherwirbelnden Schneeflocken, die ihr ins Gesicht fegten, fühlten sich so scharf an wie Glasscherben. Sie stand da und hielt die rechte Hand ihrer Mutter, Cindy hielt ihre linke. KC war gerade sieben Jahre alt geworden. Am lebhaftesten erinnerte sie sich an das Gefühl, besser gesagt, an das Fehlen jedweden Gefühls. Man hatte ihr gesagt, Beerdigungen seien etwas Trauriges, Anlässe, bei denen man Abschied nahm von geliebten Menschen. Doch als KC zu ihrer Mutter aufblickte, sah sie keine Tränen und keinen Schmerz. Und obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, wusste sie, dass etwas nicht stimmte.

Sie hatte den Mann immer nur durch eine zweieinhalb Zentimeter dicke Glasscheibe gesehen, wenn ihre Mutter ihn im Gefängnis besuchte; aber das war nur selten vorgekommen, und die Abstände zwischen den Besuchen waren lang gewesen. Cindy, die das Ergebnis eines Gefängnisbesuchs war, bei dem man den Eheleuten gestattet hatte, ein paar Stunden allein zu verbringen, hatte er nie zu Gesicht bekommen.

Er starb zwei Stunden, nachdem er aus dem Gefängnis geflohen war. Der Mann, nach dem sofort landesweit gefahndet wurde, war nicht einmal einen Kilometer vom Zuchthaus entfernt, als man ihn tötete. Doch er wurde nicht von der Polizei oder Gefängniswärtern erschossen, sondern von Mickey Franks – der Mann, mit dem er geflohen und der sein Zellengenosse gewesen war. Es kam zu einem Streit zwischen beiden Männern, und ihr Vater zog den Kürzeren: Ihm wurde ein Klappmesser in die Eingeweide gerammt. Anschließend übergoss man ihn mit Benzin und zündete ihn an.

Jahre später erklärte KCs Mutter, sie habe mit eigenen Augen sehen wollen, dass der Mann beerdigt wurde. Sie habe sich davon überzeugen wollen, dass er wirklich tot und unter zwei Metern Erde begraben war. KC sah in den Augen ihrer Mutter erbitterten Hass und unbändige Wut auf den Mann, der ihr Vater gewesen war, der aber nichts getaugt hatte.

***

Um zwanzig Uhr an jenem Abend stand KCs Freundin Bonnie plötzlich vor ihrer Wohnungstür. Sie schluchzte, ihre Bluse war zerrissen, und ihr Rock hing in Fetzen. KC nahm sie in die Arme und hielt sie fest, während Bonnie ihr erzählte, was der Mann ihr angetan hatte. Sie hatte Angst, es ihrer Mutter zu erzählen oder zur Polizei zu gehen. Keiner würde einem armen jungen Mädchen glauben; mit seinem Geld würde der Mann sich die Möglichkeit erkaufen, zu lügen, und sie damit zu dem Ruf verurteilen, eine geldgierige Schlampe zu sein, die darauf aus war, die Reichen auszubeuten. Sie hatten es beide schon zu häufig erlebt – die Kids, die »hatten«, schienen immer aus jenen misslichen Situationen herauszukommen, für die man Kids, die »nicht hatten«, bestrafte. KC war überzeugt, dass Bonnie nicht das erste Opfer dieses wohlhabenden Mannes war, nur konnten sie es nicht beweisen.

KC trocknete Bonnies Tränen und brachte sie nach Hause. Sie bat um die Adresse des Mannes, aber Bonnie zögerte zunächst; sie kannte ihre Freundin und wollte nicht, dass KC irgendeine Dummheit beging. Doch besaß KC die Fähigkeit, Menschen von ihrem Standpunkt zu überzeugen und gefügig zu machen, gleichgültig, ob sie im Recht oder im Unrecht war und ob sie sich gefügig machen lassen wollten oder nicht.

Das Stadthaus war aus Granit und so breit wie zwei normale Wohnhäuser. Efeu hing von der Balustrade der Dachterrasse im fünften Stock und umrankte die gesamte Fassade. Die Haustür schmückten Geländer aus poliertem Messing und ein Türklopfer, der die Form eines Löwen besaß.

KC drang durch die nicht verschlossene Hintertür ein und schlich durch die Küche. Dabei schlug ihr Herz so wild, als wollte es jeden Moment zerspringen. Es war das erste Mal, dass sie die Luft schmecken konnte, die Farben intensiver wurden, die Furcht und das Adrenalin ihre Wahrnehmungsfähigkeit verstärkten … und es gefiel ihr.

Doch als sie erst einmal im Haus war, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie hatte keinen Plan, kein Ziel vor Augen. Sie war gerade erst fünfzehn und voller Zorn. Sie ließ ihre Blicke über diese Zurschaustellung von Wohlstand schweifen, über die Gemälde und Skulpturen, das Silber und das Kristall. Nie hätte sie gedacht, dass Menschen in solchem Luxus schwelgten, und die Tatsache, dass ausgerechnet der Perverse, der Bonnie vergewaltigt hatte, so lebte, machte sie regelrecht krank.

Sie wollte ihm ebenso wehtun, wie er ihrer Freundin wehgetan hatte, aber sie wusste nicht, wie. Sie dachte daran, das Haus zu verwüsten, brachte es aber nicht fertig, sich der Zerstörungswut zu überlassen. Brandstiftung kam auch nicht infrage. Und darüber, dem Mann körperliches Leid zuzufügen, konnte sie nicht einmal nachdenken. Trotzdem wollte sie ihm wehtun.

Als sie durch das verlassene Haus schlich und sich anschaute, wie die Leute lebten, die Geld hatten, kam ihr plötzlich eine Idee. Dieser Mann hier liebte seine Reichtümer, seine Kunstgegenstände, seine Juwelen … und junge Mädchen. Er liebte es, Dinge zu besitzen, sogar Menschen, und Bonnie war nur ein weiteres »Stück« gewesen, mit dem er seine Lust befriedigt und seinen Machtrausch ausgelebt hatte.

KC wusste auf einmal, wie sie den Mann verletzen konnte.

Sie schnappte sich einen Kissenbezug und stopfte ihn voll mit Armbanduhren und Silber, mit goldenen Armbändern und Manschettenknöpfen. Sie konzentrierte sich auf kleine, sichtbar wertvolle Stücke.

KC war schon wieder auf dem Weg zur Hintertür, als ihr das Gemälde ins Auge stach, das an der Wand hing. Es zeigte zwei Schwestern, die an einem Teich saßen. Sie wusste nicht, um welche Art von Gemälde es sich handelte, und hatte noch nie von Monet gehört, aber aus irgendeinem Grund berührte es ihre Seele. Es war nicht groß, höchstens sechzig mal sechzig Zentimeter. Sie schaute auf ihre Tasche und dann wieder auf das Bild. Und ohne nur eine Sekunde nachzudenken, nahm sie es von der Wand.

Und die Hölle brach los. Der Alarm schrillte, und die Bolzenschlösser verriegelten sämtliche Türen im Haus. KC rannte zu den Fenstern, musste allerdings feststellen, dass auch sie verriegelt waren, sodass man sie nicht aufbrechen konnte. Plötzlich saß sie in der Falle. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das eine Tasche mit Diebesgut in der Hand hielt. Sie würde mit keiner Erklärung aufwarten können und keine Möglichkeit haben, sich aus der Sache herauszureden. Wahrscheinlich würde sie in einem Erziehungsheim enden oder, schlimmer noch, im Gefängnis.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie versuchte, jede Tür zu öffnen, jedes Fenster, aber es war vergebens. Bald schon hörte sie die Polizeisirenen, und Augenblicke später wurde gegen die Tür gehämmert. Bonnie sank auf den Fußboden, zitternd und in heller Panik. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Was würde ihre Mutter sagen?

Und da fiel es ihr auf einmal wie Schuppen von den Augen. Sie hätte nicht sagen können, woher der Gedanke so plötzlich kam, aber mit einem Mal war sie konzentriert und zu allem entschlossen.

Sie zerriss sich ihre Bluse und fing an zu schreien, so laut sie konnte. Die Tasche mit dem Diebesgut warf sie rasch in einen Schrank, und das Gemälde hängte sie zurück an die Wand.

Wieder hämmerte die Polizei gegen die Haustür. KC antwortete, indem sie erneut schrie.

Dann wurde die Tür aufgebrochen. Zwei Polizeibeamte stürzten in den Raum, in dem sie KC weinend auf dem Boden kauern sahen. Sie schluchzte noch lauter, als die Polizeibeamtin sich zu ihr niederbeugte und sie fragte, wer sie sei, worauf sie antwortete: »Ich könnte die Dinge, die er von mir verlangt hat, niemals tun.«

»Was für Dinge?«, fragte die Polizistin.

KC erwiderte: »Fragen Sie Bonnie.«

Am Tag darauf wurde der Mann verhaftet. Er hatte sich an zahlreichen Teenagern vergangen, und in seinem Kleiderschrank fand man ein geheimes Lager an Kinderpornographie. Nun war es egal, wie viel Geld er besaß. Es würde niemals reichen, um den Kinderschänder aus dem Gefängnis herauszukaufen.

Als KC an jenem Abend wieder nach Hause in ihre Wohnung kam, saß ihre Schwester neben einer grauhaarigen Frau mittleren Alters. Cindy blickte auf. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Im nächsten Moment warf sie sich an KCs Brust und begann zu schluchzen, dass ihr kleiner, neunjähriger Körper bebte. KC hielt sie ganz fest und strich ihr mit der Hand über den Rücken, um sie zu beruhigen; schließlich kauerte sie sich vor Cindy und drückte sie fest an sich.

»He, Kleines«, sagte KC. »Alles in Ordnung. Was ist passiert?«

Doch als KC ihrer Schwester das kastanienbraune Haar aus der Stirn strich und ihr die Tränen von den Wangen wischte, konnte sie endlich in ihre blauen Augen sehen. Und da sah sie den Schmerz und das Leid, das keine Neunjährige jemals erfahren dürfte.

KCs Welt drohte aus den Angeln zu brechen. Sie wusste, was geschehen war, bevor die grauhaarige Frau auch nur ein Wort sagte. Ihre Mutter war tot. Jennifer Ryan war vom Langate Tower »gefallen«.

Ihr ganzes Leben, vierunddreißig Jahre lang, hatte ihre Mutter an Depressionen gelitten, aber im Verlauf der letzten zwölf Monate waren sie zusehends schlimmer geworden. Jennifer Ryan hatte sich angewöhnt, ein Lächeln aufzusetzen, doch erzählten ihre Augen eine andere Geschichte, und ihre Unterhaltungen mit ihren Kindern waren immer seltsamer geworden. Als wären sie Fremde. Und jeden Abend hatte KC ihre Mutter leise schluchzen hören, wenn sie im Bett lag und sich an der Bibel festhielt. Sie war eine gottesfürchtige Frau, die niemals die Sonntagsmesse versäumte, die ihr Leben nach der Heiligen Schrift lebte und niemals wissentlich ihre Seele der Verdammnis preisgegeben hätte, indem sie Selbstmord beging. Jetzt, da sie und Cindy dasaßen, zwei Schwestern, die plötzlich ganz allein waren auf der Welt, wusste KC, dass ihre Mutter am Ende den Verstand verloren hatte.

KC hockte auf dem Boden und wiegte Cindy in den Armen.

»Ihre Schwester wird mit uns kommen müssen«, sagte die Frau. »Wir werden sie bei einer Familie unterbringen.«

»Aber ich bin ihre Familie«, entgegnete KC unter Tränen. »Ihre einzige Familie.«

»Ich weiß, dass es hart ist …«

»Wissen Sie das wirklich?«, fuhr KC sie an. »Oder ist das nur so ein Spruch, den man Ihnen bei der Fürsorge beigebracht hat?«

KC zwang sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten. Sie hielt Cindy fest umschlungen und blickte die ältere Frau an. »Stellen Sie sich vor, dass jemand, den Sie lieben, plötzlich stirbt und dass man Sie dann wegreißt von dem einzigen anderen Menschen auf der Welt, der Sie liebt, und dass Sie an Fremde abgeschoben werden, die sich nicht um Sie kümmern.«

»Wie alt sind Sie, Mädchen?«

»Neunzehn. Ich arbeite und kann für sie aufkommen«, log KC überzeugend. Was das Lügen anging, hatte sie den Bogen heraus.

Die Frau blickte auf die beiden Schwestern, die sich aneinander festhielten. Sie schaute sich in der kleinen Wohnung um, betrachtete das spärliche Mobiliar. Drei Menschen waren in diesem Zimmer, und allen dreien brach das Herz. »Habt ihr sonst niemanden? Wo ist euer Vater?«

KC und Cindy sahen einander an. »Er ist tot«, flüsterte Cindy beschämt.

»Bitte, nehmen Sie sie mir nicht weg«, hauchte KC. »Ich bin alles, was sie noch hat.«

»Ich will euch nicht allein lassen, Mädchen.«

KC hielt Cindy nur noch fester. »Wir sind nicht allein.«

Die Frau packte ihre Sachen in die Handtasche, erhob sich, atmete tief durch und schenkte KC einen mitfühlenden Blick. »Lassen Sie mich mal überlegen, ob ich etwas arrangieren kann.«

KC stand auf, begleitete die Frau zur Tür und sperrte hinter ihr zu. Sie drehte sich wieder zu ihrer Schwester, nahm sie fest in die Arme, und ihrer beider Tränen verschmolzen zu einem Strom. Niemand würde sie trennen. Niemand würde ihr Cindy wegnehmen.

Aber als KC so dastand, bekam sie plötzlich Angst. Sie hatte keine beruflichen Qualifikationen, denn sie war ja selbst noch ein Kind, und sie verfügten über keinerlei finanzielle Mittel, um sich über Wasser zu halten. Was sie der Frau gesagt hatte, war nur ein verzweifeltes, naives Flehen gewesen. Denn so sehr Cindy KC auch brauchte: KC brauchte Cindy ebenfalls. Sie liebte ihre Schwester. Obwohl sie sechs Jahre jünger war, waren sie einander innerlich verbunden wie eineiige Zwillinge. KC gelangte zu dem Schluss, dass sie einen Weg finden würde. Sie würde ihre eigenen Wünsche zurückstellen und für ihre Schwester da sein.

Es war das letzte Mal, dass sie weinte.

***

In der nächsten Nacht war KC wieder in dem Haus am Trafalgar Square. Dieses Mal wusste sie es besser. Sie holte sich den Kissenbezug aus dem Schrank, der immer noch mit den Wertgegenständen vollgestopft war. Wieder schaute sie auf das Gemälde von Monet, auf die beiden Schwestern, die einander bei der Hand hielten. Dann ging sie in die Küche, kam mit einem Messer zurück und schnitt das Bild aus dem Rahmen. Sie rollte es zusammen, steckte es in die Tasche und huschte aus der Hintertür nach draußen.

KC ging in das Pfandhaus am Piccadilly Circus. Der alte Rist, in dieser heruntergekommenen Gegend eine Art Kultikone, stand vornübergebeugt hinter der Ladentheke. KC kannte ihn von der Kirche, oder besser, er kannte ihre Mutter.

»Herzliches Beileid, Mädchen«, sagte der Mann, und sein altes, faltiges Gesicht zeigte ehrliches Mitgefühl.

KC nickte und stellte einen Silberkelch auf die Theke.

Er sah sie an mit seinen traurig dreinblickenden Augen.

»Der hat meiner Mutter gehört. Meine Schwester und ich, wir brauchen das Geld.«

Rist hatte KCs Mutter wirklich gut gekannt, und er wusste, dass sie niemals über die Mittel verfügt hatte, ein solches Stück zu erwerben. Als er auf den Kelch blickte und dann in KCs Augen, brach es ihm das Herz, denn er wusste, was KC hier aufführte. Er gab ihr tausend Pfund für den Kelch, beinahe das, was er tatsächlich wert war. Ein mutterloses Kind konnte er nicht betrügen.

Und so ging es die nächsten drei Monate weiter. Wann immer sie Geld für Lebensmittel oder für die Miete benötigten, ging KC los und verkaufte Rist ein weiteres Stück aus dem Haus am Trafalgar Square. Doch zog sie in all der Zeit kein einziges Mal in Erwägung, das Gemälde zu verkaufen. Sie hängte es in Cindys Zimmer an die Wand, genau über das Bett, als Erinnerung daran, dass sie eine Familie waren, dass sie die Schwestern waren, die einander immer zur Seite stehen würden.

KC kümmerte sich um Cindy, als wäre sie nicht ihre Schwester, sondern ihre Tochter. Praktisch über Nacht wurde KC erwachsen, half Cindy bei den Hausaufgaben, kochte für sie, putzte und wusch für sie. Sie hatten einander, und keine von beiden würde zulassen, dass der anderen ein Leid widerfuhr.

Doch nach drei Monaten war der Kissenbezug leer; alles war weg, außer einem einzigen Stück. KC befürchtete, ihrer beider Illusion von einer sicheren Existenz würde platzen wie eine Seifenblase. Es war nichts mehr da, was sich noch verkaufen ließ. KC drang noch einmal in das Haus am Trafalgar Square ein, doch war es leer; ausgeräumt und besenrein stand es zum Verkauf.

Wieder erfasste sie Panik. Sie brauchte Geld, schon bis zum Ende der Woche. Jeden Abend saß sie da und starrte auf das Gemälde, das über dem Bett ihrer Schwester hing, und überlegte, wie viel es wert sein mochte, doch hatte sie sich geschworen, es niemals zu verkaufen. Sie fürchtete, dass ihrer beider Leben keine Zukunft mehr hatte, wenn sie es je versuchte.

KC ging zum Piccadilly Circus und verkaufte Rist das letzte Stück, die Armbanduhr des Mannes. Dreitausend Pfund. Das reichte gerade für einen weiteren Monat.

Und als sie aus der Tür trat, stand er plötzlich da. Er war kleiner als sie, vielleicht eins siebzig groß und nur ein Strich in der Landschaft. Sein Haar war pechschwarz und perfekt geschnitten, und seine leicht gebräunte Haut betonte seine blassblauen Augen. Obwohl sein Gesicht einen auffallend kindlichen, unschuldigen Ausdruck hatte, machte er ihr Angst. Aber dann lächelte er. Es war ein herzliches Lächeln, das auch aus seinen Augen strahlte, und es vertrieb ihre Angst und ihre Bedenken.

Er nickte ihr zu. »Hi.«

Sie sah ihn an und lächelte.

»Mr. Rist ist ein anständiger Kerl. Er würde dich niemals anzeigen.«

KC wurde bang ums Herz. »Was meinst du damit?«

»Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Ich meinte damit nur, dass er dich gern hat.« Der Mann hatte einen Südstaatenakzent, der seiner Stimme einen melodischen, beruhigenden Klang verlieh.

KC war sprachlos. Dieser Mann wusste, was sie getan hatte, was sie die ganze Zeit verkauft hatte?

»Keine Angst, ich will dir nichts Böses. Ich heiße Iblis, und ich habe deine Mutter gekannt. Ich weiß, was ihr hinter euch habt. Ich weiß, dass du deine Schwester großziehst. Was du leistest, ist unglaublich.« Der Mann ging langsam die Straße hinunter. KC lief neben ihm her. »Aber zu glauben, dass du stehlen kannst, um ihr Auskommen zu sichern? Du bist fünfzehn, KC. Du begibst dich damit in eine tödliche Welt.«

KC wandte sich ab und wollte gehen. Sie wusste nicht, ob sie vor diesem Mann davonlief oder vor der Lage, in der sie sich befand.

»Warte, KC. Ich will doch nur helfen.«

KC drehte sich wieder um und blickte ihn an. Die Wärme seiner Stimme war verlockend und gab ihr ein Gefühl von Trost, das sie seit drei Monaten nicht mehr verspürt hatte. Und er hatte ein anziehendes Gesicht: Seine Haut war makellos, ohne jeden Schönheitsfehler, fast wie die eines Kindes, und das verlieh ihm einen unschuldigen Ausdruck und weckte Vertrauen. Doch seine Augen … sie hatte noch niemals so hellblaue Augen gesehen. Sie kamen ihr unnatürlich vor und machten ihr Angst.

»Und wie wollen Sie mir helfen?«, fragte KC skeptisch.

»Ich will dir etwas beibringen.«

Und das tat er. Er brachte ihr alles über Vorhänge- und Zylinderschlösser bei, über Alarmanlagen und Tresore. Er brachte ihr bei, nach welchen Kriterien man sich ein Haus aussuchte. Er brachte ihr bei, was man stahl und was nicht. Er erklärte ihr, wie die Polizei arbeitete, und führte sie in die Feinheiten der Rechtswissenschaft ein. Er zeigte ihr, wie man Diebesgut verhökerte und wie ungerecht es dabei zuging, dass gestohlene Gegenstände nur einen Bruchteil ihres eigentlichen Wertes einbrachten. Er lehrte sie, dass sie von einem gut geplanten Raubzug fünf oder zehn Jahre leben konnte, vielleicht sogar bis ans Ende ihrer Tage. Alles hing von der Planung ab. Die Ausführung war zwar von entscheidender Bedeutung, doch alles war von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn man bei der Planung nicht gründlich vorging.

Er hielt sich selbst weder für einen Gangster noch für einen Verbrecher. Sein Handwerk war für seine Begriffe eine Kunst, ein Beruf, den er studiert hatte und der bereits seit Anbeginn der Zeit existierte. Die wahre Kunst bestand darin, sich nicht erwischen zu lassen. Die Gefängnisse waren voll von den Dummköpfen, den Pechvögeln, den Verzweifelten und Gierigen. Ein Meister seines Fachs würde sich vor diesem Untergang niemals fürchten müssen, solange er sorgfältig plante und das oberste Gebot der Diebe befolgte: Traue niemals jemandem, nicht einmal deiner eigenen Familie.

KC verstand ihn. Was ihr aber ihre Menschlichkeit bewahrte, war ihre Schwester. KC liebte sie. Cindy war der einzige Mensch, dem sie je vertrauen würde.

KC und Iblis saßen in einer großen Wohnung. Auf den Tischen stapelten sich Baupläne und Zeichnungen, Bücher und anderes Recherchematerial. KC saugte alles in sich auf, verschlang das verbotene Wissen geradezu, das ihr erlauben würde, sich selbst und ihrer Schwester die Existenz zu sichern. Während der ganzen Zeit ihrer Ausbildung hatte Iblis ihnen Geld gegeben, hatte dafür gesorgt, dass sie immer ihre Rechnungen bezahlen konnten. Er kam häufig bei ihnen zu Hause vorbei, freundete sich mit Cindy an und brachte jedes Mal taschenweise Lebensmittel mit. Iblis war wie der große Bruder, den KC nie gehabt hatte. Nachdem sie drei Monate lang für alles gesorgt hatte, fühlte es sich gut an, jemanden zu haben, der für sie sorgte.

»Warum tust du das alles?«, fragte KC, drehte sich dabei auf ihrem Stuhl herum und blickte Iblis an, der an seinem Computer saß.

»Als ich noch jung war, habe ich um Hilfe gefleht, habe zu Gott gebetet, er möge mir Geld geben, einen Job, eine Chance. Weißt du, was ich herausgefunden habe? All diese Beterei hat mir bloß falsche Hoffnung geschenkt. Und dann ist mir eines Tages aufgegangen, dass es viel einfacher war zu stehlen, was ich brauchte, und hinterher zu beten und um Vergebung zu bitten.« Iblis hielt einen Moment inne. »Im entscheidenden Moment wird kein Gebet der Welt verhindern können, dass man dich schnappt«, sagte er dann. »Aber was ich dir beibringen kann, wird eine kleine Antwort auf deine Gebete sein, wenn du bei der Arbeit bist.«

»Aber warum tust du das?«, fragte KC noch einmal.

»Um mein Gewissen zu erleichtern. Ich bin ein Mann, der viel Böses auf sich geladen hat, denn ich habe schlimme Dinge getan, sehr schlimme Dinge.« Iblis stockte. KC konnte Reue in seinen hellblauen Augen sehen. »Aber egal, wie schlecht wir auch sind – jeder von uns ist hin und wieder in der Lage, auch einmal etwas Gutes zu tun.«

***

KCs erster wirklicher Raubzug fand in einem Privathaus statt. General Hobi Mobatu war ein Immigrant aus Afrika, der sich seinen Reichtum erworben hatte, indem er die humanitären Hilfsgelder einstrich, die für die kranken und sterbenden Bürger seines Landes bestimmt gewesen waren. Er trug seinen Reichtum nach England, wo er auf großem Fuß lebte in seiner falschen Generalsuniform, die mit Orden geschmückt war, die er sich selbst verliehen und selbstverständlich auch selbst angesteckt hatte.

KC hatte genauestens recherchiert, was Mobatu sich alles angeschafft hatte. Töricht, wie er war, machte er jedes Mal viel Trara darum, wenn er sich ein Kunstwerk kaufte, denn er streichelte sein Ego mit der damit verbundenen Publicity. KC ging seine Bestände zusammen mit Iblis durch, der ihr dabei half, sich für »Das Leiden« von Goetia zu entscheiden. Gemalt worden war es im Jahre 1762, als der Künstler auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand. Es zeigte eine Mutter, die ihr krankes Kind in den Armen hielt, während über ihnen in den Himmeln der Krieg tobte.

KC wartete bis zu dem Abend, an dem der General eine Auszeichnung für seine Verdienste um die Menschenrechte erhalten sollte, eine Auszeichnung, die er selbst ins Leben gerufen und finanziert hatte. Er verließ seine Villa um achtzehn Uhr; eine Minute später hatte KC das Schloss an der Hintertür bereits geknackt und die Alarmanlage deaktiviert. Sie verschwendete keine Zeit und eilte sofort ins Wohnzimmer, wo »Das Leiden« gegenüber der Eingangstür an der Wand hing. Sie schaltete den Alarm ab, mit dem der Bilderrahmen gesichert war, nahm das Gemälde heraus, ersetzte es durch eine Fälschung und hatte das Haus um 18.10 Uhr bereits wieder verlassen.

Es dauerte einen ganzen Monat, bis das Bild als gestohlen gemeldet wurde, weil Mobatu selbst nicht wusste, was genau er alles besaß. Die Polizei und die Privatdetektive hörten sich in der Gegend um und befragten die anderen Anwohner, ob sie an jenem warmen Frühlingsabend irgendetwas gesehen hätten. Aber keiner konnte sich erinnern, abgesehen von einer alten Frau, die ein groß gewachsenes Mädchen gesehen haben wollte, das in einer Schuluniform und mit einem Rucksack auf dem Nachhauseweg gewesen war. Die alte Dame versuchte, die Unterhaltung weiterzuführen, weil sie gern ein wenig Gesellschaft hatte, aber die Polizei tat ab, was sie zu sagen hatte, und zog ein Haus weiter.

In den Zeitungen und in der Kunstwelt kursierten wochenlang Neuigkeiten über den Diebstahl, doch fand man nie eine Spur von »Das Leiden«. Das Gemälde war längst an einen reichen Europäer verkauft worden, der es in seiner Privatsammlung aufbewahrte. Iblis hatte KC gezeigt, wie man so ein Stück loswurde, ohne Spuren zu hinterlassen, und wie man seine illegal erworbenen Gelder benutzte, ohne Verdacht zu erregen.

Der Einbruch war wie ihre Doktorarbeit, der krönende Abschluss und die Demonstration all dessen, was sie von Iblis gelernt hatte. Er hatte sie nie um irgendeine Gegenleistung gebeten, was sie von jeher mit Skepsis erfüllt hatte, doch war es ihm mit seiner Offenheit stets gelungen, ihre Nerven zu beruhigen. Und so geschah es: Die Sache war erledigt, das Geld war auf der Bank, und er verabschiedete sich von ihr.

KC sorgte dafür, dass Iblis das ganze Geld zurückbekam, das er ihr gegeben hatte; sie wollte niemals irgendeinem Menschen etwas schulden. Obwohl er sich zuerst entschieden dagegen wehrte, nahm er das Geld schließlich widerwillig an, da er den Stolz und die Entschlossenheit in ihren Augen sah.

Sie war seine beste und einzige Schülerin.

***

Mit achtzehn war KC ein Vollprofi. Sie stahl lieber Kunstgegenstände als Juwelen. Sie bestahl nur Menschen, die gut versichert waren. Sie stellte sorgfältige Recherchen über ihre Opfer an und wusste immer, dass sie eine Strafe verdient hatten: der gierige Geschäftsmann, der seine Angestellten übers Ohr haute; der Rock-Star, der sich sexuell an jungen Mädchen und Knaben verging und den Eltern Schweigegeld zahlte, damit sie ihn nicht anzeigten: Menschen, die so viel Macht besaßen, dass ihre Missetaten niemals vor Gericht kamen und die gar nicht wussten, was Worte wie Schuld, Reue oder Mitgefühl bedeuteten. KC verübte selten mehr als zwei Diebstähle im Jahr, doch diese waren stets minutiös geplant und gut ausgeführt, und niemals hinterließ sie eine Spur.

***

KC machte nie ihren Schulabschluss und opferte ihr eigenes Leben ihrer Schwester. Nur so konnten sie beide zusammenbleiben; nur so konnte sie das Geld verdienen, das sie beide zum Überleben brauchten. Während der ganzen Zeit empfand sie riesige Schuldgefühle im Hinblick auf das, was sie tat. Sie hatte nie die Absicht gehabt, eine Kriminelle zu werden. Es zerriss sie innerlich, dass sie wie der Vater war, den sie niemals gekannt hatte und der als Verbrecher gestorben war. Hatte er auch so angefangen wie sie und war am Ende zu diesem Ungeheuer geworden, das seine Frau und seine beiden Töchter den Launen des Lebens überlassen hatte? Hatte es bei ihm ebenso unschuldig begonnen wie bei ihr? War er von Gier getrieben gewesen, oder hatte er lediglich falsche Entscheidungen getroffen?

Und was würde mit der Zeit aus ihr werden? Würde sie enden wie er? Würde sie in einem gottverlassenen Gefängnis sterben oder in einer finsteren Seitengasse mit einem Messer im Bauch?

Jede Nacht betete sie um Vergebung und dass Gott verstehen möge, warum sie ihre Verbrechen beging.

Cindy hatte nicht die geringste Ahnung, was ihre Schwester tat. Sie war zu jung gewesen, als alles seinen Anfang nahm. Damals dachte sie, dass Geld etwas sei, was einfach da war. Als Cindy älter wurde, erfand KC ein anderes Leben für sich; angeblich arbeitete sie als Beraterin für die EU und begleitete Reisegruppen.

KCs Bemühungen zahlten sich aus. Cindy blühte und gedieh. Sie wuchs in einem liebenden Zuhause auf und war ein hervorragende Schülerin. Als sie in ein hübsches kleines Haus außerhalb von London zogen, war ihr Glück perfekt. Nach dem Schulabschluss ging Cindy nach Oxford, und KC finanzierte ihr das Studium. Sie war mächtig stolz auf ihre kleine Schwester.

So vergingen die Jahre. Als Cindy dreiundzwanzig war, zog sie aus, um auf eigenen Beinen zu stehen und sich eine Karriere in der Finanzwelt aufzubauen, und plötzlich war KC allein. Das Haus war leer, sie selbst hatte keine Ausbildung, hatte keinen Mann in ihrem Leben – sie hatte alles für ihre Schwester geopfert und keine Möglichkeit, irgendwo Karriere zu machen.

Aber sie bereute nichts. Sie hatte es seinerzeit übernommen, ihre Schwester großzuziehen und sie beide zusammenzuhalten – ein Meisterstück, das damals unmöglich erschien, doch die Liebe konnte einen Menschen motivieren und ihm den notwendigen Elan geben, um am Ende den Sieg davonzutragen. KC war eine Diebin geworden, eine Meisterdiebin, leise wie das Flüstern des Windes, ein Geistwesen, von dem Scotland Yard und Interpol nicht die geringste Vorstellung hatten.

KC war dankbar für Cindys Erfolg, für das Leben, das sie ihnen beiden geschaffen hatte und dafür, dass man sie niemals geschnappt hatte. Vor allem aber war sie dankbar, dass Cindy nie herausgefunden hatte, dass ihre Schwester eine Diebin war.