9.

Simon, Busch und Cindy saßen in einem kleinen Straßencafé in der Nähe des Four Seasons Istanbul und hatten sich gerade ein Frühstück genehmigt.

»Wie lange kennt ihr KC schon?«, wollte Cindy von Busch und Simon wissen. Die Sonne des Spätvormittags blitzte in ihrem kastanienbraunen Haar.

»Oh, das müssen jetzt schon bald dreißig Tage sein«, witzelte Busch und trank dabei seinen zweiten starken Mokka.

»Hör am besten gar nicht auf ihn«, sagte Simon mit seinem italienischen Akzent. »Er kann nichts dafür. KC und ich sind seit fünf Jahren befreundet. Wir sind uns begegnet, als wir beide in Österreich Urlaub gemacht haben. Du warst damals in Oxford.«

»So gut kennst du mich?«

»KC spricht viel von dir, sie ist sehr stolz auf dich. Im Grunde bist du das Einzige, worüber sie redet.«

»Übrigens, dein neuer Job, Finanzchefin, klingt aufregend – meinen Glückwunsch«, sagte Simon.

»Danke«, erwiderte Cindy.

Simon hatte KC fünf Jahre zuvor kennengelernt. Beide hatten ein kleines Auktionshaus im österreichischen Bristeldorf besucht. Simon war dort, weil er hoffte, »Die Geburt« zurückerwerben zu können – ein Gemälde, das man der Katholischen Kirche während des Zweiten Weltkrieges in Berlin gestohlen hatte –, während KC behauptete, sie sei lediglich eine Touristin auf der Durchreise.

Gemeinsam hatten sie vor dem Renaissance-Werk gestanden, das die Krippenszene zeigte, und das Gemälde bewundert. Das Bild, das der gefeierte Künstler Isidore de Maria gemalt hatte, war kürzlich von Reiner Matis zur Auktion angeboten worden, einem wohlhabenden Industriellen, der inzwischen alt und gesundheitlich angeschlagen war. Bis 1945 hatte man Matis unter einem anderen Namen gekannt: Hauptmann Heinrich Hund. Er war Gesandtschaftsrat von Hermann Göring gewesen und der Offizier, der für Görings Kunstsammlung verantwortlich gewesen war – eine Sammlung, die sich aus Stücken zusammensetzte, die aus Privathäusern, Kirchen und Museen stammten, die von der Nazi-Kriegsmaschine niedergewalzt worden waren.

Als der Krieg endete und Göring Selbstmord beging, war Hund wie vom Erdboden verschluckt – und mit ihm mehrere Kunstwerke. Heinrich Hunds wahre Identität und Vergangenheit kannten nur zwei Menschen: seine Ehefrau und der hochgewachsene, dunkelhaarige Italiener, der vor dem Gemälde stand.

Simon und KC hatten sich über das Werk unterhalten, das im Auftrag des Vatikans gemalt worden war. Stundenlang sprachen sie über die lange Reise, die das Gemälde hinter sich hatte, über den Krieg, die Kirche und das Leben. Simon erklärte, er sei hergekommen, um Hund alias Matis daran zu hindern, sich durch einen Verkauf des gestohlenen Kunstwerks finanziell zu bereichern, doch er hatte das Auktionshaus nicht dazu bringen können, die Versteigerung abzusagen, da das Haus fünf Prozent des Mindestgebots von 25 Millionen Dollar für sich einstrich.

In jener Nacht geschah etwas, was Simon sehr erstaunte: Das Werk, das man »Die Geburt« nannte, verschwand. Über den Diebstahl wurde niemals in den Medien berichtet; er wurde in keiner Zeitung erwähnt. Matis hatte sechzig Jahre überlebt, ohne dass seine wahre Identität aufgeflogen war; er hatte nicht die Absicht, sich jetzt wegen eines Kunstwerks bloßstellen zu lassen, das ihm nie wirklich etwas bedeutet hatte.

Am nächsten Tag kehrte Simon in sein Büro im Vatikan zurück und entdeckte dort eine Transportrolle, wie man sie für den Versand von Bildern und Kunstdrucken benutzte, sowie eine schlichte Notiz:

Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt.

Mit herzlichen Grüßen, KC

So wurde aus einer selbstlos begangenen kriminellen Handlung eine unkonventionelle Freundschaft, die sich über die Jahre hinweg in eine Beziehung verwandelte, die so eng war wie Familienbande. KC hatte sich offen über ihr Leben geäußert, über ihre Schwester, über ihre Vergangenheit und über ihre Verfehlungen. Simon wusste nicht, ob sie ihm diese Dinge erzählte, um auf diesem Weg zu beichten, sodass sie rein vertraulich waren, oder weil sie Freunde waren. Er verurteilte sie und ihr Tun zu keinem Zeitpunkt und begriff, dass ihr der Weg, den ihr Leben genommen hatte, vom Schicksal auferlegt worden war. Er äußerte sich nie darüber, wie er persönlich dazu stand, und hielt ihr weder Predigten noch Strafpredigten. Er hörte ihr einfach nur zu und beantwortete ihr ihre Fragen über das Leben.

»Wenn du alles über mich weißt«, meinte Cindy und nippte an ihrem Kaffee, »musst du ja auch alles über KC wissen.«

»Die wichtigen Dinge.«

»Zum Beispiel, warum sie mit dir im Gefängnis gelandet ist?«, fragte Cindy und lächelte.

»Nun«, erwiderte Simon mit einem Grinsen, »ich bin ihr Freund. Und dafür bin ich ein zu guter Freund.«

»Sie macht gern um alles Mögliche schrecklich viele Geheimnisse«, klagte Cindy.

»Was hat sie denn außer ihren Geheimnissen?«

»Was meinst du damit?«

»Nun, wir haben alle unsere Geheimnisse – Dinge, die wir aus Scham, Stolz oder Angst lieber für uns behalten. Und manchmal bewahren wir Geheimnisse, um andere zu schützen. Um diejenigen zu schützen, die wir lieben. Also, was hat KC außer ihren Geheimnissen?«

»Was meinst du damit?«

»Gehst du schon mal aus? Mit einem Mann?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Cindy.

»Deine Karriere bedeutet dir sehr viel«, fügte Simon hinzu. »Du hast ein erfülltes Leben. Was hat KC, wenn man von dir absieht?«

»Ich weiß, was du damit sagen willst«, erwiderte Cindy. »Aber sie schien niemals irgendwelche Lebensziele zu haben.«

Simon beugte sich vor und legte die Arme auf die Tischplatte.

»Oje«, meinte Busch und rutschte mit seinem großen schweren Körper auf dem kleinen schmiedeeisernen Stuhl herum. »Jetzt geht sie ab, die Post.«

Simon blickte seinen Freund zornig an und wandte sich dann wieder Cindy zu.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte er.

Cindy antwortete nicht.

»Sie hat ihr Lebensziel bereits erreicht, Cindy.« Simon lächelte. »Das warst du. Dich großzuziehen, zu erleben, dass du eine Ausbildung bekommst und eine erwachsene Frau wirst, die sich in der Welt behaupten kann. Sie platzt beinahe vor Stolz, wenn sie über dich spricht. Ich bin überzeugt, wenn sie erst einmal verstanden hat, worum es in deinem neuen Job geht, wird sie auch damit prahlen.«

»Du hast sie sehr gern, nicht wahr?«, sagte Cindy und ließ sich seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. »Mir war nie bewusst, dass sie einen so guten Freund hatte. Warum seid ihr nie ein Paar geworden?«

Busch lachte auf.

»Sie passt besser zu Michael.«

»Das ist der eine Grund. Der andere ist, dass Simon ein Gelübde einhalten muss.« Wieder musste Busch lachen.

Cindy blickte den großen, attraktiven Italiener an, und es dauerte einen Moment, bis sie Buschs Worte verstand und der Groschen bei ihr fiel. »Du bist Priester?«