46.
Michael blickte auf einen gewaltigen Innenhof hinunter, der vielleicht doppelt so groß war wie ein Fußballfeld. Der Boden war üppig bewachsen – ein schroffer Kontrast zu der von Frost und Eis gegeißelten Welt auf der anderen Seite des Tunnels hinter ihm. Sanft fiel der Schnee und schmolz, sobald er den warmen Boden berührte. Es war eine Welt, die mit nichts zu vergleichen war, was Michael je zuvor gesehen hatte. Ein Fluss plätscherte durchs Gelände, und das Rauschen des Wassers hallte von den Felswänden wider, die das Tal umarmten. Warme Nebel hoben sich und bildeten Schwaden über dem fließenden Wasser, schwebten davon und benetzten die grünen Ufer. Über den Fluss führte eine von der Natur geschaffene Brücke, die unter der Felswand auf der anderen Seite verschwand. Das Gelände war eingekeilt zwischen dem felsigen Gestein. Es sah aus wie eine eigene Welt auf dem Grund einer Quelle. Michael blickte hinauf zu den tanzenden Schneeflocken, die von den aufsteigenden Luftströmungen in die Höhe getragen wurden.
Neben ihnen, vor der Felswand, blubberten zwei kleine Geysire. Aus ihren klaren Wassern stieg Dampf.
Michael fuhr mit der Hand durch das Gras, über die Felsen und an der Granitwand entlang; sie war warm.
»Das ist unglaublich«, sagte Busch. »Das kann nicht sein.«
»Es hat mit Geothermie zu tun – wie die Quellen, die Banyo uns gezeigt hat«, erklärte Michael. »Wasser läuft am Gestein tief in die Erde, wo es sich in Dampf verwandelt. Durch Risse im Granit steigt der heiße Dampf dann nach oben und sorgt für Wärme. Und die Wärme des Felsgesteins erhitzt den Boden und hält die untere Luftschicht auf einer gemäßigten Temperatur.«
Ein kleiner Schwarm gelber Vögel schwirrte umher; mit weit gespreizten Flügeln ließen sie sich von den Aufwinden in die Höhe tragen, um dann plötzlich wieder in die Tiefe hinabzuschießen, damit die eisige Kälte der Bergluft sie nicht erfrieren ließ.
Auf der anderen Seite des Geländes stand ein großer Tempel. Er erhob sich auf einem kleinen Hügel und schien aus dem Felsgestein herausgewachsen zu sein. Er war aus dunklen, glänzenden Blöcken errichtet worden und hatte ein schräges Dach, das mit schweren Ziegeln gedeckt war. Eine breite überdachte Veranda zog sich um das gesamte Gebäude herum, und dunkelrote, filigrane Holzverzierungen schmückten die Untermauerung des Daches und die Ecken, Fenster und Säulen des gewaltigen Bauwerks. Eine lange Treppenflucht führte zu einer großen geschnitzten Tür, deren Farbe schwärzer war als die Nacht. Das Gebäude schien im orientalischen Stil errichtet worden zu sein, war aber trotzdem einzigartig, wie aus einem uralten Märchen.
In dem gepflegten Steingarten, der sich zu beiden Seiten der Treppenflucht erstreckte, wuchsen farbenprächtige Begonien, Orchideen und Ringelblumen. Rhododendron kletterte mit dicken, grünen, wachsigen Blättern an den Felswänden empor, und auf dem Grund wuchsen Wachholdersträucher, deren Zweige schwer und alt waren; einige versuchten verzweifelt, die kargen Felswände zu erklimmen.
Jeder Fels, jede Pflanze stand in perfekter Harmonie zueinander, als wäre dies alles von einem göttlichen Architekten angelegt und mit der Präzision eines Bonsai-Gärtners beschnitten worden.
»He«, meinte Busch und schnippte mit dem Finger. »Das ist ja ganz hübsch, aber …«
»Ich weiß«, erwiderte Michael und machte seinen Tagträumereien ein Ende.
»Meinst du, die wissen, dass wir hier sind?«
»Ich kann mir nicht denken, dass sie hier oben groß auf Videokameras oder Strom stehen. Aber es gibt nur diesen einen Weg hinein, und wir haben etwa hundert Meter offenes Gelände vor der Brust, um zur Haustür zu gelangen.«
»Weißt du«, meinte Busch, »wenn das hier dieser Ort ist, an dem all das Gold ist, all die Juwelen …«
»Ja, und noch etwas anderes«, unterbrach Michael ihn. »Und dieses andere ist es, was mir Angst macht.«
***
Michael lief über einen von der Natur geschaffenen steinernen Gehweg und hielt die Hände dabei sichtbar an den Seiten; seine Sig Sauer steckte in seinem Gürtel im Kreuz, und über der Schulter trug er einen schwarzen Rucksack, der den schimmernden Pistolengriff verdeckte. Busch lag im Höhleneingang flach auf dem Bauch, das Scharfschützengewehr fest gegen die Schulter geklemmt. Dieses Mal war die Waffe geladen.
***
Michael lief vorüber an den heißen Quellen und spürte die Hitze, die sie verströmten. Er warf einen genauen Blick auf die Bäume, die alle frisch beschnitten waren. Als Simon ihm erzählt hatte, was sich hoch oben auf dem Kangchendzönga befand, hatte er mehr als nur Zweifel gehabt; jetzt aber lief er im wahrsten Sinne des Wortes hinein in das Herz einer Legende und in eine Welt, über die man nur im Flüsterton sprach und die man für ein Märchen hielt.
Michael spürte beim Laufen einen leichten, kühlen Regen auf der Haut. Ihm fiel auf, dass der Schneefall nachgelassen hatte, sodass sich das, was jetzt noch auf die Talsenke niederging, in Nieselregen verwandelte, bevor es den Erdboden erreichte.
Michael gelangte zu der gewaltigen Treppenflucht, die zum Eingang des Tempels führte. Sie war ungefähr sieben Meter breit und hatte niedrige, jeweils einen Meter tiefe Stufen, die bei Michael den Eindruck erweckten, als schwebe er beim Hinaufsteigen. Zu beiden Seiten der Stufen befanden sich dicke Holzgeländer, deren Oberfläche von jahrhundertelanger Benutzung spiegelglatt war.
Michael sah sich unablässig um, schaute immer wieder nach links und rechts, um zu festzustellen, ob sich irgendwo etwas regte. Auf den Treppenstufen waren keine Fußabdrücke; Gleiches galt für den Treppenabsatz, auf dem er kurz darauf stand. Die Veranda war breit und tief, und das schwere, glänzende Holz des Daches gab einem das Gefühl, in einem Kirchenschiff zu stehen.
Die Flügeltür, vor der Michael stand, war über fünf Meter hoch und ebenso breit und bestand aus gebeiztem, gemasertem Holz, sodass es den Eindruck vermittelte, als blickten Hunderte von Augenpaaren hinaus in die Welt. Die Türgriffe waren aus Eisenringen geformt.
Michael hielt den Atem an, als er nach einem der Ringe griff. Er wusste, dass es jetzt nur noch Sekunden dauerte, bis er sich nicht mehr auf Buschs Feuerschutz verlassen konnte, und dass er möglicherweise ein Tor öffnete, hinter dem der Tod auf ihn lauerte.
Behutsam zog er an der Tür. Ohne jeden Widerstand schwang sie auf.