24.

Im Schutz der Nacht rannte Michael im Schatten der Bäume den Hügel hinauf. Die Neopren-Tasche mit seiner Ausrüstung hatte er sich über die rechte Schulter gehängt; sie schlug ihm bei jedem Schritt gegen den Oberschenkel. An Land hatte er die schwarze Tauchtasche noch nie benutzt, doch war sie doppelt abgedichtet. Deshalb nahm er an, dass seine Handwerkzeuge darin trocken blieben, wenn er in die Zisterne stieg. Um die Hüften trug er einen Gurt, an dem seine Taschenlampe und sein Messer befestigt waren; auf dem Rücken hing die leere Transportrolle aus Leder, in der er die Beute wegschaffen wollte, die er zu machen hoffte.

Knapp fünfzig Meter über Michael erhob sich auf dem Hügelkamm die zehn Meter hohe Mauer hinter dem Topkapi-Palast und warf einen gewaltigen Schatten auf ihn, als wolle sie ihn verhöhnen. Vor fünfhundert Jahren hatte man sie an der strategisch günstigsten Stelle Konstantinopels errichtet, denn sie bot einen freien Blick und damit die Möglichkeit, nicht nur die einzige Wasserstraße zu bewachen, die ins Schwarze Meer führte, sondern auch den asiatischen Kontinent, der am gegenüberliegenden Ufer begann. Feinde, die darauf aus waren, einen Angriff zu starten, konnten frühzeitig erkannt werden.

Doch seit dem Untergang des Reiches, seit dem Ende der Sultane, gab es keine Wachleute mehr, die nach potentiellen Eindringlingen Ausschau hielten. Es gab auch keine Bedrohungen mehr, keine Feinde, die auf eine Gelegenheit warteten, in den Palast einzudringen. Jetzt gab es hier nur noch Touristen.

»In zwei bis drei Stunden sind wir hier fertig«, sprach Michael in das kleine Mikrofon, das mit dem Kopfhörer verbunden war, der in seinem Ohr steckte. »Morgen haben wir deine Schwester und Simon wieder. Alles okay bei dir?«

»Ja. Ich muss gestehen, dass ich so etwas noch nie getan habe.« KCs Stimme war klar und deutlich im Kopfhörer zu vernehmen. Sie klang konzentriert und zuversichtlich.

»Du hast doch behauptet, du würdest so was schon seit Jahren machen«, witzelte Michael.

»Nicht mit der Stimme der Vernunft im Ohr.«

»Lass nicht zu, dass ich dein Gewissen werde.« Michael kletterte weiter den steilen Hügel hinauf.

»Hört sich so an, als wärst du außer Atem«, meinte KC. »So wie damals, als ich dich beim Basketball besiegt habe.«

Busch lachte. »Davon hast du mir gar nichts erzählt!«

»Weil es nicht stimmt.« Michael erreichte den Fuß der zehn Meter hohen Mauer, die sich vor ihm aus der Dunkelheit erhob. »Genug gequatscht.«

»He, du hast mit der Quatscherei angefangen«, schimpfte KC.

»Er verliert nicht gerne«, sagte Busch. »Da ist er empfindlich.«

Michael schaltete sein Walkie-Talkie aus, blickte an der Mauer empor, die vor ihm aufragte, und begann mit der Klettertour.

***

KC, schick gekleidet in einer engen schwarzen Hose und hautengem dunklem Oberteil, lief über einen kopfsteingepflasterten Gehweg, der durch eine weitläufige Parkanlage führte. Um ihren Hals baumelte eine Kamera. Über der Schulter trug sie die blaue Reisetasche und in der linken Hand eine große schwarze Handtasche. Ihr langes blondes Haar fiel ihr offen über den Rücken und schimmerte in der abendlichen Beleuchtung der Anlage. Sie sah genau so aus, wie man sich eine Touristin vorstellte. Hin und wieder blieb sie stehen, um Fotos von der Hagia Sophia zu machen, die sich in unmittelbarer Nähe vor ihr erhob. Da die vier Minarette über Nacht beleuchtet wurden, sah es aus, als wachten sie über den antiken Kuppelbau.

Ein Pärchen, das vermutlich auf der Hochzeitsreise war, saß auf einer Bank und besiegelte mit einem innigen Kuss ihr neues gemeinsames Leben. KC konnte nicht anders und starrte die beiden an, als sie an ihnen vorüberging. Ihr selbst waren Gedanken an Liebe und Ehe fremd; sie glaubte nicht, beides jemals zu erleben. Doch während sie das bisher für die Schuld des Schicksals gehalten hatte, gab sie sich mittlerweile selbst die Verantwortung dafür. Sie hatte sich von Michael getrennt, hatte ihm gesagt, dass sie emotional nicht bereit und nicht in der Lage sei, ihrer beider Beziehung weiterzuführen.

Doch als sie jetzt darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass der wahre Grund die Angst gewesen war, eine Bindung einzugehen, Angst davor, Liebe und Glück zu finden. Diese Angst hatte sie dazu getrieben, Michael gegenüber zu behaupten, die Lücke nicht füllen zu können, die der Tod seiner Ehefrau hinterlassen hatte. Das war der Grund dafür gewesen, dass sie am Nachmittag so ausgerastet war. Sie war auf sich selbst wütend gewesen, auf die Lage, in der sie sich befand, nicht auf Michael.

KC verdrängte ihr Selbstmitleid. Sie und Michael würden sich schon irgendwie zusammenraufen. Ihre Beziehung war noch nicht zu Ende. Sie würden einen Weg finden.

Aber das Wichtigste zuerst.

Die Bewachung der Hagia Sophia war, wenn man überhaupt davon sprechen wollte, minimal. Obwohl das Bauwerk eine große historische Bedeutung hatte, war es im Allgemeinen nur für Touristen interessant. Sämtliches Wachpersonal hatte man auf den Topkapi-Palast konzentriert.

Abgesehen von den küssenden Flitterwöchnern war keine Menschenseele auf dem von Mauern umschlossenen Gelände der Hagia Sophia. Es schien, als wären aller Augen auf den Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite gerichtet, wo die Reichen und Mächtigen zur EU-Party kamen.

Aller Augen – auch die von Iblis. Deren Blick bohrte sich mit solcher Schärfe in KCs Hinterkopf, dass sie es körperlich spüren konnte.

***

Busch beobachtete Iblis durch das Fernglas, während Iblis seinerseits KC im Visier hielt, die auf der anderen Straßenseite soeben durch die Parkanlage der Hagia Sophia lief. Iblis saß ungefähr einhundert Meter entfernt hinter dem Steuer seines gelben Taxis. Die Dachbeleuchtung war wie immer abgestellt. Busch war ihm aus sicherer Entfernung gefolgt, nachdem er ihn vor dem Hotel erspäht hatte. KC war um 20.45 Uhr aus der Hotelhalle gekommen, bepackt mit ihrem Handwerkszeug. Sie war den kurzen Weg zum Moscheenmuseum zu Fuß gegangen. Iblis hatte den Motor angelassen und war ihr gefolgt; ob sie bemerkte, dass er da war, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren … Wie Busch aufging, wollte Iblis sogar, dass KC wusste, dass er sie beobachtete. Damit hielt er sie permanent unter Druck, weil er über jeden ihrer Schritte informiert war.

Iblis kurvte um die Anlage der ehemaligen Moschee herum und fädelte sich schließlich in den gewaltigen Verkehrsstau ein, der sich vor dem Topkapi-Palast gebildet hatte. Es ging nur im Schritttempo voran, was Busch die Arbeit allerdings um ein Vielfaches erleichterte. Die meisten Fahrzeuge auf dem Babı Hümayun Caddesi und dem Kabasakal Caddesi waren Limousinen, sodass Busch in der Masse verschwand und zugleich keine Sorge haben musste, dass der kleine gelbe Flitzer plötzlich ausscherte, im Verkehr untertauchte und sich damit seinem wachsamen Auge entzog.

Busch hatte Michael ein Versprechen gegeben: Er würde KC um jeden Preis beschützen und garantieren, dass Iblis sie zu keinem Zeitpunkt zu fassen bekam. Sollte er sich ihr auch nur nähern, würde Busch diesem Hurensohn den Hals umdrehen, ohne dabei die geringsten Schuldgefühle zu verspüren.

***

Michael huschte über die Dächer. Je weiter er kam, desto lauter wurden die Musik, die Party-Gespräche und das Gelächter. Die Feierlichkeiten der Vertreter der Europäischen Union liefen auf Hochtouren. Die Festlichter erhellten den Himmel über dem zweiten Hof des Topkapi-Palasts, der eine Party dieser Größenordnung seit einem Jahrhundert nicht mehr erlebt hatte. Da einige Türen des Museums mit Alarmanlagen ausgestattet und zudem fest verriegelt waren, war die Angst vor einem Raubüberfall gering. Wer würde so töricht sein, in einer Nacht, in der die Sicherheitsvorkehrungen besonders streng waren, in ein Museum einzubrechen, das noch nie beraubt worden war? Außerdem wusste die Welt überhaupt nicht, was unter den Mauern des herrschaftlichen Palasts versteckt war. Die Sicherheitsvorkehrungen konzentrierten sich auf die Feierlichkeiten oben, auf die Würdenträger und ihren Schutz.

Als Michael den Dachrand erreichte, von dem er auf den dritten Hof schauen konnte, der sich im Dunkel der Nacht still und leer unter ihm erstreckte, ließ er den Blick über das Gelände schweifen und entdeckte die beiden Wachmänner, die in Habachtstellung vor dem Tor der Glückseligkeit standen. Dem dritten Hof hatten sie den Rücken zugewandt, denn sie behielten die Partygäste im zweiten Hof im Auge.

Michael blickte hinunter auf das Bauloch. Die Stelle lag in völliger Dunkelheit, die wegen der Lichter der Party auf der anderen Seite des Tores noch düsterer wirkte.

Michael sprang in den Hof hinunter, zog flink ein Kernmantelseil aus seiner Neoprentasche und schlang das Seil um die Achse des neben ihm stehenden Baggers. Er nahm eine der Arbeitsplanen, drapierte sie über das Seil und legte ein paar Schaufeln und Harken auf die Plane. Dann überprüfte er die Gurte der leeren Transportrolle und zog sie sich fest gegen den Rücken. Schließlich zog er den Reißverschluss seiner wasserdichten Tasche wieder zu, schlang sich das Seil um den Körper, verknotete es und ließ sich in die Dunkelheit gleiten.

Nach etwa fünf Metern erreichte er die Öffnung des Schachts und stoppte. Er hing jetzt ungefähr sieben Meter über dem Wasser in der breiten, offenen Höhle. Er schaltete seine Taschenlampe ein, leuchtete umher und blickte auf den Teil des Baus, der älter war als der Topkapi-Palast. Diesen Bereich hatte man zu einer Zeit konzipiert und erbaut, als es noch keine moderne Technologie gegeben hatte, und doch hatte er Jahrhunderte überdauert und war intakter als so manche Bauten aus der heutigen Zeit, die manchmal nur zwei oder drei Jahrzehnte hielten.

»KC?«, flüsterte Michael in sein Mikrofon.

»Ja?« Ihre Stimme wurde untermalt von atmosphärischen Störungen.

»Wie kommst du voran?«

»Gut.«

»Ich verliere jetzt gleich die Funkverbindung«, sagte Michael. »Behalte die Wachen im Auge.«

Er ließ den Blick durch die Höhle schweifen, schaute auf das dunkle Wasser hinunter und drehte sich dabei am Seil. »Nächstes Mal kriegst du das kalte Wasser und den Sprengstoff, das verspreche ich dir.«

»Klar doch. Sei vorsichtig.«

***

KC rannte quer über den Hof zur Ostseite der Hagia Sophia und hielt sich dabei stets im Dunkeln. Sie hatte sich eine schwarze Mütze aufgesetzt und ihr Haar darunter hochgesteckt. Sie war an der Seite des Gebäudes durch den Personaleingang hereingekommen. Um das Schloss zu knacken, hatte sie keine fünf Sekunden gebraucht.

Obwohl die Hagia Sophia ein Museum war, gab es dort nur wenige Kunstwerke zu besichtigen. Die Attraktionen waren das Gebäude an sich, seine kostbaren Mosaike und die davor errichteten Grabmale. Die Sicherheitsvorkehrungen waren vergleichsweise gering, da es hier nicht viel gab, war man hätte stehlen können. Die Vorsichtsmaßnahmen zielten vor allem darauf ab, Vandalen und Witzbolde fernzuhalten, was zur Folge hatte, dass das Personal alles andere als aufmerksam war und gelangweilt seinen Dienst schob.

Die Welt in den viereinhalb Meter hohen Mauern der heiligen Stätte war still und schlief, was in krassem Kontrast stand zu der betriebsamen Welt draußen, deren Lärm herüberdrang, als wollte sie KC auf diese Weise daran erinnern, dass sie sich trotz allem immer noch in der heutigen Zeit befand. Der Hauptgehweg verlief von der Seitentür des Museums zur Mitte des Hofes, vorüber an den drei Grabmalen, und endete vor dem großen verschlossenen Tor, das auf den Parkplatz führte.

KC ging in der Dunkelheit auf die Knie und hockte sich hinter dem Stamm einer Zypresse mit dem Rücken zur steinernen Wand der Moschee. Sie schaute auf ihre Armbanduhr; die Wachen hatten bisher zweimal einen Rundgang auf dem Gelände gemacht, im Abstand von jeweils zwanzig Minuten. Doch ihre Aufmerksamkeit war lasch, da kaum die Gefahr bestand, dass in eines der drei Mausoleen eingebrochen wurde.

Da KC die Routine des Wachpersonals nun fast eine Stunde lang beobachtet hatte, war ihr viel Zeit zum Nachdenken geblieben. Sie musste sich zwingen, die Konzentration aufrechtzuerhalten, statt sich in Sorge um Cindy und Simon zu ergehen, und an die Gefahr zu denken, in der sie sich befanden. KC wusste, dass sie versagen würde, wenn sie sich ablenken ließ, und wenn das geschah …

Sie verscheuchte diese Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Tür, durch die man in Selims Mausoleum gelangte, das sich auf der anderen Seite des Hofes befand.

***

Michael tauchte in dem Vorraum auf. Das Licht seiner Taschenlampe tanzte auf der Wasseroberfläche. Er sah sich kurz in der kleineren Zisterne um, die sich neben dem höhlenartigen Schacht befand, in den er sich abgeseilt hatte. Das Wasser kam ihm kälter vor. Es fühlte sich an, als würden Messerklingen seine Haut ritzen.

Michael hievte sich auf den östlichen Rand des Wasserbeckens und zog den Reißverschluss seiner Tasche auf. Er griff hinein, nahm eine Hand voll Leuchtstäbe heraus, warf sie auf den Gehweg und illuminierte damit die Höhle aus Stein und Ziegeln. In voller Beleuchtung wirkte sie wie eine verzauberte Grotte. Das orangerote Licht schimmerte auf dem glasklaren Wasser und spiegelte sich an der gewölbten Decke. Die Akustik ließ sein Atmen lauter klingen und verstärkte auch das Platschen der Wassertropfen, die dann und wann von der Decke fielen. Es war leicht, sich vorzustellen, wie fünfhundert Jahre zuvor die Eunuchen und Haremsdamen über diesen Gehweg gehuscht waren. Michael fragte sich, ob das Echo ihrer Stimmen vielleicht immer noch in den Steinwänden hing.

Er stand auf und fuhr mit den Händen über die Mauer. Der Türrahmen war nicht nur versiegelt worden; man hatte eine ganz neue Trennwand aus Stein und Mörtel gebaut. Sie reichte vom Rand des Gehwegs bis zur Decke, war viereinhalb Meter hoch und zwölf Meter breit.

Michael griff in die Tauchtasche und zog die Sprengstoffrollen heraus, die wie Nylonseile aussahen, allerdings aus knetbarem Nitropenta bestanden, das mit weichem Stoff umwickelt war. Dieser Sprengstoff wurde vor allem beim Abriss von Gebäuden benutzt, denn er konnte mit chirurgischer Präzision eingesetzt werden, sodass die Sprengkraft gezielt Fundamente oder Stahlträger zerriss. Michael nahm vier jeweils mannsgroße Stücke und drückte sie in einem Abstand von anderthalb Metern ungefähr einen Meter über dem Boden in die Mörtelfugen. Dann schob er dünne Metallplättchen jeweils in die Mitte der einzelnen Schnurstücke. Jede dieser elektronischen Zündkapseln war mit einem kleinen Empfänger ausgestattet, der auf das Signal des Zünders reagierte.

Dadurch, dass Michael den Sprengstoff verteilte, würde er nur kleine Teile der Wand zerstören und auf diese Weise verhindern, dass die gesamte Fassade einstürzte, was nicht nur seiner Mission, sondern auch seinem Leben ein Ende gesetzt hätte.

Michael lief zur anderen Seite der Zisterne – über die Leuchtstäbe hinweg, die auf dem Gehweg verstreut lagen, – und sprang wieder in das anderthalb Meter tiefe Wasser. In der rechten Hand hielt er einen wasserfesten Funkzünder, der kleiner und praktischer war als die altertümlichen TNT-Kolben. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, legte Michael den Sicherheitshebel um, drückte auf den grünen Knopf und tauchte unter Wasser.

Die fünf Bereiche der Wand explodierten zeitgleich. Der Mörtel und das Felsgestein schossen durch die gesamte Zisterne. Fünf Feuerbälle jagten in die Höhe und züngelten an der gewölbten Decke. Der Sprengstoff leistete präzise Arbeit und schuf mit seiner Kraft drei Nischen, etwa anderthalb mal einen Meter breit, die so exakt über die Gesamtlänge der Wand verteilt waren, wie Michael es beabsichtigt hatte.

Michael tauchte auf und stieg aus dem Wasser. Langsam und vorsichtig arbeitete er sich um die Zisterne herum und überzeugte sich davon, dass der Gehweg keinen Schaden genommen hatte. Als er die Wand erreichte, inspizierte er das erste Loch und fand genau das, was er befürchtet hatte: Hinter der ersten Wand befand sich eine zweite. Michael ging zum nächsten Loch, trat das Gestein und das Geröll mit den Füßen ins Wasser und fand das Gleiche vor. Erst im dritten Bereich entdeckte er, wonach er suchte: Durch das ein Meter große Loch blickte er nicht auf eine weitere Steinwand, sondern in eine dunkle Öffnung. Michael zog seine Taschenlampe vom Gürtel, leuchtete in die Vertiefung hinein und lächelte.

***

Das Fest der Europäischen Union lief auf Hochtouren. Nacheinander trafen Würdenträger und berühmte Persönlichkeiten ein, stiegen aus ihren Limousinen und schritten über den mit einem königsblauem Teppich belegten Bürgersteig durch das Großherrliche Tor des Topkapi-Palasts zur Party. Die Übertragungswagen internationaler Fernsehstationen standen auf der anderen Straßenseite. Reporter berichteten über die Feierlichkeiten. Die Blitzlichter der Paparazzi tauchten die Gesichter und die Umgebung in ein Gewitter aus blassblauem Licht. Betont auffällig flankierten Wachmänner das Tor, gleich zehn auf einmal, hielten ihre Gewehre fest vor der Brust und verkündeten damit die Botschaft, dass die Türkei die Europäische Union mit der gleichen Inbrunst schützen würde, mit der sie sich selbst schützte. Nach Jahren des Widerstands und zähen Verhandlungen waren das Land, das auf zwei Kontinenten lag, und das Volk, das seit langer Zeit sämtliche Glaubensrichtungen nebeneinander existieren ließ, endlich in die EU aufgenommen worden.

Busch saß hinter dem Steuer seiner geparkten Limousine. Er konnte das Großherrliche Tor des Topkapi-Palasts sehen, das etwa vierhundert Meter entfernt war und an dem Jubel und Trubel herrschten, während die Hagia Sophia auf der anderen Straßenseite ruhig und still im Dunkeln lag.

Der gelbe Fiat stand etwa sechzig Meter vor ihm inmitten anderer Taxis am Straßenrand. Iblis saß hinter dem Steuer. Seine Aufmerksamkeit war auf die Hagia Sophia gerichtet. Ohne jeden Zweifel drückte er seinem Protegé die Daumen, damit sie Erfolg hatte.

Busch saß erst zwanzig Minuten im Wagen, wurde aber jetzt schon unruhig. Als er noch Polizist gewesen war, hatte er nichts so sehr gehasst wie Observierungen. Stundenlange gähnende Langeweile und monotone Warterei darauf, dass etwas passierte. In diesem Fall jedoch observierte Busch, um sicherzustellen, dass nichts passierte.

Aber dann passierte es doch.

Iblis stieg aus dem kleinen Wagen. Als Busch begriff, was vor sich ging, brach ihm der Schweiß aus. Iblis ging nicht in Richtung Hagia Sophia, sondern bewegte sich mit flotten Schritten nach links auf das Großherrliche Tor zu. Er trug einen schwarzen Smoking und hatte einen hellbraunen Aktenkoffer dabei. Offenbar war es von Anfang an Iblis’ Plan gewesen, in den Topkapi-Palast einzudringen und sich die Karte zu holen.

Busch überprüfte seine Waffe und steckte sie ins Holster. Dann stellte er den Motor ab, schnappte sich sein Funkgerät und stieg lässig aus der Limousine. Er überquerte die Straße und ging auf dem Bürgersteig in Richtung des Topkapi-Palasts. Da er schnellen Schrittes lief, schmolz Iblis’ Vorsprung rasch; inzwischen war er nur noch etwa dreißig Meter vor Busch, und die Entfernung wurde immer geringer. Iblis erreichte das Tor und lief bereits über den blauen Teppich, als einer der Wachmänner aus der Formation ausscherte und ihn aufhielt.

Zu Buschs Erstaunen drehte Iblis sich plötzlich um und blickte ihm geradewegs in die Augen. Der kleine Mann lächelte und nickte; dann drehte er sich wieder weg, zog eine Einladung aus der Tasche und zeigte sie dem Wachmann, der im nächsten Moment auch schon zur Seite trat.

Iblis verschwand hinter den Mauern des Topkapi-Palasts.

***

Michael kroch durch die knapp einen Meter breite Öffnung und leuchtete mit der Taschenlampe in den dunklen Raum, der ungefähr sechs mal sechs Meter groß war. Es gab drei Reihen mit Kniebänken, die vor einem Kruzifix standen, das über einem kleinen Altar hing. Außerdem gab es noch einen offenen Bereich, auf dem ein großer Gebetsteppich lag. Der Stern mit dem Halbmond war in eine der Ecken gewebt, die zu der Wand zeigte, an der die Sonne bei Morgengrauen über der Stadt erglühte. Ein mittelgroßes Tabernakel stand neben einem zweiten Altar, und in die kleine Holztür des Schränkchens war ein Davidstern geschnitzt.

Es war eine private Kapelle, in der Freunde unterschiedlichen Glaubens gemeinsam zu ihrem jeweiligen Gott beten konnten. Ein Raum, in dem sie sich als Einheit versammeln konnten. Hier konnten Menschen, die man aus ihren Familien, ihrem Zuhause und ihren christlichen und jüdischen Heimatländern herausgerissen hatte, im Geheimen zu dem Gott beten, dem sie unter Zwang hatten abschwören müssen. Nur war es in Wahrheit der gleiche Gott. Die Unterschiede machten die drei Glaubensrichtungen aus, deren Wege jedoch alle zurückführten zu Abraham, dem gemeinsamen Nenner eines gemeinsamen Gottes.

Michael blickte auf die Altäre, auf den islamischen Halbmond mit Stern, auf das christliche Kreuz und auf den jüdischen Davidstern. Dabei versuchte er, sich nicht nur die Weisheit des Mannes vor Augen zu führen, der diese Kapelle erbaut hatte, sondern auch den Weitblick derer, die heimlich die Gläubigen hier hineingeführt hatten. Er wünschte, ihr Verständnis und ihre Toleranz würden so laut erklingen, dass die ganze Welt es hörte.

Als Michael durch die Kapelle ging und den Blick über die fünfhundert Jahre alten Kunstwerke schweifen ließ, entdeckte er ein komplexes, detailreiches Wandgemälde, das das alte Konstantinopel zeigte. An der rückwärtigen Wand befanden sich wunderschöne Mosaike, jedoch kein Safe und keine Kammer. Der Boden war aus massivem Fels, die Wände aus Granit. Dies hier war ein Refugium, das man in die Erde gemeißelt hatte. Die Altäre waren aus festem Stein, die Kniebänke und Stühle aus Zypressenholz und die Teppiche aus dicht geknüpfter Wolle. Diese natürlichen Materialien hatten einem halben Jahrtausend getrotzt.

Michael blickte auf die hintere Wand, auf die Schönheit der Mosaikfliesen, die einen großen Teil der Rückwand der Kapelle zierten. Es waren Szenen, die in überwältigendem Detailreichtum dargestellt waren. Das erste Bild zeigte einen üppigen Garten, der sich um zwei große Obstbäume herum erstreckte, deren grüne Blätter auf den Keramikfliesen wie lebendig wirkten. Um die Bäume und den Garten herum erhoben sich Städte, aufstrebende Metropolen der Vergangenheit. Es gab keine Autos, keine Züge, wohl aber dreimastige Schiffe, die über ein Wasser segelten, das eine unglaublich blaue Farbe hatte. In der Ferne erhoben sich die ägyptischen Pyramiden, das blühende und gedeihende Jerusalem, Mekka in all seinem Glanz und Rom zu einer Zeit, als das Imperium Romanum noch nicht zerfallen war.

Es war ein Kunstwerk, in dem verschiedene heilige Stätten der Antike miteinander verwoben waren: Bilder aus einer Zeit, die zwischen fünfhundert und zweitausend Jahre zurücklag, waren dargestellt als eine einzige, gewaltige, die Zeit umspannende Welt des Friedens, die durch die Meere miteinander verbunden war, auf deren Wassern die alten Schiffe segelten.

Als Michael an dem Meisterwerk aus Mosaikfliesen hinaufblickte, legten sich die friedliche Stille und die samtene Dunkelheit der Nacht über den blauen Himmel und schienen geradewegs hinein ins Paradies zu führen; es war die vollkommene Verheißung der Erlösung. Engel standen zwischen gewöhnlichen Männern und Frauen, die hier friedlich zusammengekommen waren. Es waren Menschen aller Rassen, Glaubensrichtungen und Hautfarben: Priester und Imame, Rabbiner und Mönche, Muslime und Christen, Hindus und Buddhisten, Juden und Kelten – alle waren versammelt, als verstünden sie endlich die wahre Bedeutung der Ewigkeit. Es erfüllte Michael mit Hoffnung. Die Darstellung dieses Künstlers, dieses Mosaik aus der Vergangenheit, gab ihm Hoffnung.

Doch diese Hoffnung schwand, als sein Blick auf das dritte und letzte Kunstwerk fiel. Es befand sich unter der Darstellung der Menschen, Städte und Völker. Es sickerte aus der düster gewordenen Erde hinunter in den absoluten Inbegriff der Hölle, in eine Welt des unvergleichlich Bösen, in ein Land, in dem es von leidenden, wehklagenden Menschen wimmelte, die ihre Toten hielten. Finstere Gestalten lauerten in den Schatten, lugten mit gelben Augen aus der Dunkelheit. Eine Welt glühender Hitze und klirrender Kälte, eine Welt der Folter und des Leidens. Zerschmetterte Leiber, abgerissene Gliedmaßen, die überall verstreut lagen, Städte, die in Flammen standen, Flüsse, in denen die Leichen in ihrem eigenen Blut trieben. Riesen hielten Schwerter in den Händen, von denen das Blut tropfte, und an ihren Gürteln hingen die Köpfe Enthaupteter.

Michael wurde übel. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie, schluckte und versuchte, tief durchzuatmen. Es war, als hätte das dargestellte Böse plötzlich Besitz von ihm ergriffen, sowohl von seinem Verstand als auch von seiner Seele. Was trieb einen Künstler dazu, etwas derart Finsteres zu schaffen? Michael konnte es nicht glauben, wollte es nicht fassen. Doch das Grauen, das es in ihm auslöste, war wie ein Schock, der ihn in die Gegenwart zurückriss.

Und plötzlich wusste er, wo die Karte versteckt war.

Die Erkenntnis brach ihm fast das Herz. Denn was er jetzt tun musste, war eine Versündigung an einer der größten Schöpfungen der Welt, einer Darstellung, die an den Grundfesten der Menschheit rührte. Es war ein Kunstwerk, das die Menschen und ihr Schicksal meisterlich erfasste und das nun für immer verloren sein würde.

Michael zog einen Meißel und einen Hammer aus seiner Tasche und ging zur Mosaikwand.

Er setzte den Meißel am Mittelpunkt der Wand an und hob den Hammer. Dann schloss er die Augen, bat um Vergebung und schlug den Hammer mit Wucht auf den Meißel.

Die Stadt Jerusalem zerbarst. Risse, die wie ein Spinnennetz aussehen, bildeten sich oben, unten und an den Seiten auf den antiken Welten, als zerstöre Gott persönlich die Menschheit. Die Mosaikfliesen fielen zu Boden. Es hörte sich an, als würde Glas zerbrechen. Immer wieder schlug Michael auf das Meisterwerk ein, bis das gesamte Mittelstück heruntergefallen war.

Im ersten Moment erschrak er, weil er mit einem Mal befürchtete, es sei unnötig gewesen, den Raum zu verschandeln, doch als er seine Taschenlampe näher daran hielt, sah er es. Es war zuerst nur schwach, ein schwarzer Schemen, kaum zu unterscheiden von der irdenen Wand. Es war Harz, die gleiche dunkle, teerartige, wasserfeste und klebrige Substanz, die man für Dächer und Boote benutzte. Als Michael mit der Hand auf die trockene Oberfläche klopfte, konnte er hören, dass die Wand dahinter hohl war. Er klopfte mit seinem Meißel den gesamten Bereich ab. Er war sechzig mal sechzig Zentimeter groß, und die schwarze organische Substanz diente als hermetische Versiegelung.

Michael beseitigte die Harzversiegelung und fand dahinter eine Holzkiste. Er hob sie aus der Einbuchtung und stellte sie auf den Boden. Die Kiste war aus Zypressenholz und mit schwarzem Teer beschichtet. Auf der Rückseite waren Messingscharniere. Der Verschluss war bloß ein Zierstück und sprang sofort auf, als Michael mit dem Meißel dagegen drückte.

Behutsam hob er den Deckel und hielt dabei die Luft an. Gespannt klappte er den Deckel nach hinten, hob seine Taschenlampe vom Boden auf und leuchtete hinein. Die Kiste war trocken; die wasserfeste Versiegelung hatte gehalten, und die Gegenstände, die vor ihm lagen, waren unversehrt. Michael griff hinein und zog eine Hand voll Münzen heraus. Sie waren aus Gold und Silber, Kupfer und Zinn. Ihre Prägungen zeigten die Gesichter von Sultanen und Königen. Doch es gab auch römische Münzen und ägyptische Zahlungsmittel.

Noch einmal griff Michael in die Kiste und zog eine zusammengerollte Karte heraus. Sie war mit einer Schnur umwickelt und aus weich gegerbter Tierhaut. Michael zerschnitt die Kordel, rollte die Karte vorsichtig aus und wagte endlich auszuatmen.

Er schaute auf die Karte. Sie war groß und mit zahllosen Details, Notizen und Bilderklärungen versehen.

Michael stöhnte auf.

Dies hier war nicht die zweite Hälfte der Piri-Reis-Karte. Das war nicht die Karte, mit der sie KCs Schwester freibekommen oder Simon retten konnten. Es war nicht die Karte, nach der er suchte. Diese Karte hier stellte Städte und Reiserouten dar. Sie zeigte Europa und den Mittleren Osten. Es war eine Karte, die zu den heiligsten Stätten der drei größten Religionen führte. Nach Mekka, Jerusalem und Bethlehem; nach Medina, auf den Berg Sinai und nach Hebron. Es war eine Karte, die den Menschen an jene Orte führte, an denen er auf Erden Gott, Allah, Jahwe nahe sein konnte.

Michael setzte sich auf den Boden, erschüttert über sein Scheitern. Er hatte sich alles aus Simons Notizen und KCs Recherchen zusammengereimt. Nur hatte er keine Zeit gehabt, die vorliegenden Informationen persönlich zu überprüfen.

Michael konzentrierte sich wieder. Er hatte nicht vor, einfach aufzugeben.

Er schaute auf das Meisterwerk aus Mosaikfliesen, das über ihm die Wand zierte, stand auf und schlug ohne zu zögern mit seinem Meißel auf den Himmel ein. Die Kacheln mit den Engeln und Heiligen fielen herunter. Wo einst das Reich gewesen war, an dem die Sterne prangten, war jetzt nichts als karges Felsgestein und eine Einbuchtung, die mit Harz versiegelt war. Dahinter befand sich eine zweite Holzkiste.

Michael kniete vor der zweiten Kiste. Dieses Mal verschwendete er keine Zeit mit Tagträumerei und brach das Schloss gleich auf. Er hob den Deckel an und blickte ins Innere der Kiste. Dieses Mal war alles noch schlimmer. Er starrte auf Bücher und Schriftrollen und hob schließlich eine verschnörkelte Bibel heraus, die mit Akribie angefertigt worden war zu einer Zeit, als es noch keine Druckerpressen gegeben hatte. Der lederne Einband war mit Rubinen und Saphiren verziert, und die in Latein geschriebenen Seiten waren mit aufwendigen Illustrationen versehen. Da war ein exquisit verarbeiteter Koran mit eleganten arabischen Schriftzeichen und eine riesige Torah, die in Tuch gewickelt war und deren Rimonime aus purem Gold bestanden.

Als Michael auf die drei Gegenstände blickte, war er verwirrt. Er konnte nicht begreifen, warum man diese Heiligen Schriften versteckt hatte. Obwohl sie auserlesen und gewiss von großem Wert waren, waren sie längst nicht einzigartig. Und die Karte erschien auf den ersten Blick auch nicht weltbewegend, denn sie war zwar detailliert, schien aber kein großes Geheimnis zu enthalten.

Dann aber erinnerte er sich plötzlich wieder an KCs Worte. Karten. Landkarten. Die heiligen Bücher waren die Landkarten, die in den Himmel führten – die Karten, die einen Menschen, wenn er ihnen folgte, zur Erlösung und zum Ewigen Leben führten. So wie die Karte, die in der ersten Kiste gewesen war, zu irdischen Zielen führte, führten diese Karten zu einem Ziel in den Himmeln.

Plötzlich verstand Michael die Bedeutung des Kunstwerks an der Wand, die ehrfurchtsvolle Darstellung der Welten, die man fand, indem man den Wegweisern folgte, die unter ihr versteckt waren.

Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Ihn überkam ein Gefühl von Schmerz und Furcht, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. Es gab keinen Zweifel mehr, wo die westliche Hälfte der Karte des Piri Reis versteckt war.

Michael schaute auf die letzte Darstellung, auf die letzten Mosaikfliesen, die unter Himmel und Erde noch an der Wand zu sehen waren. Er sehnte sich zurück nach den Bildern, die er soeben zerstört hatte, wünschte sich, ihre Darstellungen könnten die Albträume verhindern, die ihn in den nächsten Monaten heimsuchen würden.

Denn jetzt blickte er schaudernd auf die Darstellung der Hölle.