12.
Iblis war nicht sein Geburtsname. Er hatte den arabischen Namen angenommen, weil er seiner Meinung nach einen exotischen Klang besaß. Er war in Kentucky zur Welt gekommen, als Sohn eines Jockeys. Seine Mutter war halb Griechin, halb Türkin, was der Grund für ihre zerrissene Persönlichkeit war, wie ihr Ehemann behauptete. Die meisten, die Iblis’ Werdegang und seine verderbte Natur kannten, gingen davon aus, dass er aus einem asozialen oder zerrütteten Elternhaus kam oder dass er ein Waisenkind war, das sich an der Welt rächte, weil das Leben unfair zu ihm gewesen war. In Wahrheit hätte er aus keiner liebenderen Familie kommen können.
Christopher Miller senior, der es vorzog, wenn man ihn Rusty nannte – ein Spitzname, den er dem feuerroten Haarschopf verdankte, den er in seiner Jugend gehabt hatte –, hielt viel von Tradition und war überzeugt davon, der Mensch habe das Recht, Waffen zu tragen. Er brachte seinem Sohn Chris junior bereits im zarten Alter von sieben Jahren das Schießen bei. Mit acht konnte Klein-Chris aus fünfzig Metern Entfernung eine Konservendose treffen; mit zehn besaß er das Können eines Scharfschützen. Rusty lehrte ihn auch, wie man jagte und sich in und von der Natur ernährte. Er brachte ihm bei, wie wertvoll Messer als Waffen und Werkzeuge waren und wie nützlich sie in der Wildnis sein konnten, um Beute zu enthäuten und Essen zuzubereiten. Rusty unterwies seinen Sohn in der Kunst zu überleben und lehrte ihn, diese Eigenständigkeit auf sein gesamtes weiteres Leben anzuwenden, ob nun in den Wäldern oder im Dschungel der Großstadt.
Nuray Miller war eine Schönheit mit rabenschwarzem Haar, und ihre kristallblauen Augen und ihre braune Haut spiegelten sich in den Zügen ihres Sohnes. Während Rusty seinem Sohn Chris die eher körperlichen und brutalen Künste des Überlebens vermittelte, lehrte sie ihn die subtileren Fähigkeiten. Sie brachte ihm alles über die Menschen bei, über gesellschaftliche Umgangsformen und darüber, wie man mit Hilfe von Überredungskunst und angedrohter Konsequenzen alles bekam, was man wollte. Sie zeigte ihm, wie man sich in den verschiedenen Welten bewegte, in denen die Menschen lebten, und wie dies ihr selbst gelungen war, als Tochter eines griechisch-orthodoxen Reeders und einer türkisch-muslimischen Mutter. Sie verstand die Feinheiten der Diplomatie. Sie wusste, wie man das Vertrauen anderer für sich gewinnen konnte.
Die Lektionen, die sie Chris vermittelte, erlaubten es ihm, das Erscheinungsbild zu übertünchen, das er in seinen Teenagerjahren entwickelt hatte und das mehr zu einem Weichling gepasst hätte als zu einem harten Jungen aus Kentucky. Er war schmächtig und hatte pechschwarzes Haar; sein Milchgesicht verlieh ihm ein nahezu weibliches Aussehen. Er lief schnell und mit hölzern wirkenden Schritten, und er hatte eine unnatürlich sonore Stimme für einen Teenager.
Als Chris dreizehn war, zogen sie nach Brooklyn, New York, wo sein Vater auf der Belmont-Rennbahn arbeitete. Zu dieser Zeit begannen die Dinge außer Kontrolle zu geraten. Chris war der Außenseiter mit dem drolligen Akzent, der seltsamen Stimme und dem weibischen Aussehen; der Junge, den man wegen seines zierlichen Wuchses und seines Erscheinungsbildes auslachte. In der sechsten Klasse war er ganz allein, hatte keine Freunde und war die Zielscheibe des allgemeinen Spottes. Er erzählte seinen Eltern nie von seinen Schwierigkeiten in der Schule. Niemals erwähnte er, wie sehr man ihn schikanierte und dass die anderen ihn aus Spaß an der Freude verprügelten.
Er war ein Außenseiter, und wie es häufig geschah, rotteten sich die Außenseiter irgendwann zusammen. Sie waren diejenigen, die nicht zu den anderen passten, die Unbeliebten, die Andersgearteten, denen plötzlich bewusst wurde, dass ihre Stärke in der Größe ihrer Gruppe lag. Chris fand Freunde unter denen, die sich die Zahl ihrer Kumpel, ihrer Fäuste und letzten Endes ihrer Waffen zunutze machten, um andere einzuschüchtern. Chris wurde ein Gott für die Mitglieder seiner zwölfköpfigen Gang, denn er brachte den anderen bei, wie man schoss, wie man die Waffen pflegte, wie man ein Messer benutzte – Fertigkeiten, die von den elf Gangmitgliedern mit Begeisterung erlernt wurden. Chris lehrte sie, wie groß die Macht der Bedrohung war und wie man andere damit beherrschen konnte, sodass angedrohte Strafen als Überzeugungsmittel sehr viel effektiver waren, als die angedrohte Tat tatsächlich zu begehen.
Ihre Zwölfer-Bande erlangte einen immer berüchtigteren Ruf und regierte bald die Straßen. Sie nahmen sich, was sie wollten und von wem sie es wollten. Ihre Arroganz nahm ebenso zu wie die Gewalt, mit der sie andere einschüchterten, denn es schien niemanden zu geben, der sie aufhalten konnte.
Es war an einem Donnerstagabend. Chris war gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Bisher hatten sie immer nur kleine Händler überfallen, aber jetzt hatten sie beschlossen, es eine Nummer größer zu versuchen. Einige Bandenmitglieder standen auf der Straße Schmiere, während andere in der Gasse Stellung bezogen hatten. Chris kletterte durch das kleine Fenster, was ihm dank seiner kindlichen Statur leichtfiel. Mit seinem Messer vorn am Gürtel und seiner Pistole hinten unter dem Hosenbund fühlte er sich unschlagbar. Er eilte durch den Laden, schnappte sich Halsketten und Armbanduhren, Ohrringe und Armbänder; er erging sich im Hochgefühl des Augenblicks, in dem Nervenkitzel, gegen das Gesetz zu verstoßen und sich am Allerheiligsten eines anderen Menschen zu vergehen. Die Alarmanlage heulte, aber das machte ihm nichts, denn Augenblicke später war er wieder auf dem Weg nach draußen.
Doch als er durchs Fenster kletterte und in der Gasse landete, musste er plötzlich feststellen, dass er ganz allein war und geradewegs in die Mündung der.38er Halbautomatik eines Polizeibeamten starrte. Seine Freunde, seine Gang, waren verschwunden. Der Cop war ebenfalls allein, hielt die Waffe mit beiden Händen. Der Schweißtropfen, der ihm über die rechte Schläfe rollte, verriet, dass er ein Anfänger war, ein Rookie.
Der junge Polizist war vom Anblick des jugendlichen Diebes völlig verdutzt. Er fuhr Chris an, er solle beide Hände heben …
Das war der Moment, da Chris die Worte seines Vaters in den Ohren klangen. Das hier war der Grund dafür gewesen, dass Vater ihn das Schießen gelehrt hatte, das Enthäuten, das Überleben. Ja, Vater hatte ihm beigebracht, was man tun musste, um durchzukommen, ob in den Wäldern oder im Dschungel der Großstädte.
Chris ließ die Tasche mit dem gestohlenen Schmuck fallen, sodass der Cop unwillkürlich darauf schaute und für einen Moment abgelenkt war. Ehe er sich versah, war er tot, so schnell wurde das Messer durch seinen Hals gerammt – mit einer solchen Wucht, dass es im Nacken wieder heraustrat. Chris drehte es in der Einstichwunde, durchschnitt die Halsschlagader und den Rückenmarkskanal und trennte beinahe den Kopf vom Körper.
Chris sah sich um, völlig unbeeindruckt von dem Blutbad, das er angerichtet hatte. Dann blickte er auf den Leichnam des jungen Polizisten, als wäre der gar kein Mensch, sondern ein Stück Wild. Es faszinierte ihn, wie der Körper zuckte. Dann blickte Chris wieder auf und stellte fest, dass seine Bande sich tatsächlich in alle Winde zerstreut hatte. Sie alle waren bei ihren Familien untergetaucht, wo sie in Sicherheit waren, und hatten ihn alleingelassen, um mit dem Nachspiel fertig zu werden.
Die Polizei kam drei Tage später. Die Beamten gingen verschiedenen Spuren nach und folgten Hinweisen, und sie wollten mit Chris sprechen. In ihrer charmanten und überzeugenden Art bat Nuray die Polizisten ins Haus und erklärte ihnen, ihr Sohn sei mit ihrem Mann auf der Rennbahn. Sie machte ihnen Kaffee und blieb beharrlich dabei, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse; die Beamten könnten gerne warten, um mit Chris zu sprechen. Doch lehnten sie dankend ab und machten sich sofort auf den Weg zur Rennbahn. Daraufhin ging Nuray nach oben, packte eine Reisetasche und weckte Chris. Auf der Stelle machten sie sich auf den Weg nach Kanada, wo sie ihm Geld gab, ihn in ein Flugzeug mit Ziel Türkei setzte und ihm erklärte, er könne niemals zurückkommen. Eine Woche blieb er bei ihren Verwandten; dann machte er sich auf den Weg nach London, denn in der Türkei gefiel es ihm nicht. In London wurde Englisch gesprochen, und wenn er es in der Welt zu etwas bringen wollte, musste er zumindest die Sprache der Menschen verstehen, die er beraubte.
Er war nun sechzehn Jahre alt, sah aber jünger aus. Und er war noch nicht ganz aus dem Zug gestiegen, als ihm eine Waffe in den Rücken gedrückt wurde. Der Mann führte ihn in eine Seitengasse, hielt ihm die Waffe gegen die Schläfe und verlangte, dass Chris ihm sein Geld gab. Sekunden später trat Chris aus der Gasse heraus. Nur ganz wenig Blut war geflossen. Der Kerl, der versucht hatte, ihn zu berauben, hatte fünftausend Pfund Bargeld bei sich gehabt. Das war schon mal ein Anfang.
Chris wohnte in Fremdenzimmern und Absteigen. Er trieb sich auf den Straßen herum und machte sich einen Namen. Er erlernte ein Handwerk. Er probierte herum. Taschendiebstahl, Straßenraub, kleine Einbrüche. Er war schnell, und seine Körpergröße war trügerisch, denn er war sehr kräftig. Er trieb viel Sport, erlernte diverse Kampfsportarten und trainierte seinen Körper wie ein Athlet, um in jener gefährlichen Welt zu überleben, die er sich als die seine ausgesucht hatte.
Er arbeitete sich hoch, beraubte Juwelierläden, Kunstgalerien und Privathäuser der Luxusklasse. Er verlieh sich selbst den letzten Schliff, bildete sich und war schier unersättlich, wenn es um Literatur über Kunstgeschichte ging. Er wurde ein Experte, was die Wertbemessung von Kunst und Juwelen betraf. Er lernte von den Auktionshäusern – sowohl von den legitimen wie Sotheby’s und Christie’s als auch von den unsichtbaren wie Killian McShane, der nicht nur mit Schwarzmarktkunst und Juwelen handelte, sondern auch dafür bekannt war, Diebstähle in Auftrag zu geben.
Im Gegensatz zu den anderen Dieben in London kannte Chris keine Grenzen. Er konnte sich an etwas festbeißen, und egal, wie schwierig es war – er hatte am Ende Erfolg. Er bereiste den Kontinent, stahl in Stockholm einen Renoir, in Amsterdam einen Degas und aus dem Louvre drei Holzkohle-Skizzen von Fermete.
Zeitgleich perfektionierte er seine Fähigkeit zu töten. Er wurde zu einem Experten auf diesem Gebiet. Abgesehen von einem blutverschmierten Tatort hinterließ er niemals auch nur den Hauch einer Spur, die ihn mit dem Verbrechen in Verbindung hätte bringen können. Und ob es mittels einer Pistole oder mit seiner bevorzugten Waffe geschah, dem Messer: Nie bereitete es ihm Gewissensbisse, ein Leben zu beenden. Weder Männer, Frauen oder Kinder konnten ihn umstimmen. Wenn sie im Weg waren, wurden sie ausgeschaltet.
Gelegentlich hatte Chris sich sogar zu Auftragsmorden anheuern lassen. Es war eine Herausforderung, die er sich selbst stellte, um herauszufinden, ob er in der Lage war, einen Mord zu planen und auszuführen, ohne Spuren oder Beweise zu hinterlassen. Manchmal mordete er aus nächster Nähe mit einem Messer, manchmal aus einer Entfernung von achthundert Metern mit einem Präzisionsgewehr.
Seine schmächtige Erscheinung, die ihm in seiner Kindheit so viel Spott eingebracht hatte, wurde seine Verbündete, die perfekte Maske, hinter der er sich der ahnungslosen Welt präsentieren konnte, eine makellose Fassade, die es einem Monstrum erlaubte, sich unter die Unschuldigen zu mischen.
Im Alter von einundzwanzig Jahren galt er auf den Straßen als der meistgefürchtete Mann. Niemand kannte seinen Namen, niemand wusste etwas über ihn, nur dass man niemals seinen Zorn auf sich laden durfte, denn dies bedeutete den Tod.
Schließlich ließ er sich in einer Wohnung in der Nähe des Piccadilly Circus nieder. Er liebte das Nachtleben, das Neonlicht und die Stimmung, die hier in der Luft lag. In einer Wohnung mit drei Schlafzimmern schlug er seine Zelte auf. Ein paar Jahre später kaufte er sich ein Haus in Istanbul, eine grandiose Sommerresidenz mit Blick übers Meer. Es war das Land, in dem seine Mutter zur Welt gekommen war, und obwohl sie und sein Vater gestorben waren, ohne dass er sie noch einmal wiedergesehen hatte, fühlte er sich ihr verbunden. Er erlernte ihre Sprache, er lernte alles über ihre Kultur.
Und so trennte er sich im Alter von einundzwanzig Jahren von seinem weltlichen Namen Chris Miller, passte sich der Kultur an, die er einst abgelehnt hatte, und nahm einen neuen Namen an. Er bestand nur aus einem Wort – so, wie man seinen Vater nur als Rusty und seine Mutter nur als Nuray gekannt hatte. Ihn sollte man fortan nur unter dem Namen Iblis kennen. Er war der Ansicht gewesen, dass dieser Name am besten zu ihm passte, weil er Furcht einflößte.
Denn Iblis war das arabische Wort für den Teufel.