33.

Cindy stand vor der Tresortür und lauschte den Geräuschen von Metall auf Metall. Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie Simon anschaute.

Nach allem, was in den letzten Tagen geschehen war, herrschte in ihrem Innern ein einziges Chaos: KCs Ausbruch aus dem Gefängnis; die Tatsache, dass sie ein zweites, ganz anderes Gesicht hatte, das sie vor ihr versteckt hatte, und vor allem, dass sie eine Verbrecherin war. Und dann war sie auch noch von einem engen Freund entführt worden. Cindy fühlte sich wieder wie ein Kind – die ganze Welt hatte Kontrolle über ihr Leben, nur sie selbst nicht.

Doch die Gedanken, die ihr jetzt durch den Kopf gingen, ließen alle anderen verblassen. Trotz ihres Zorns auf Iblis hatte sie sich sein Märchen von der Karte angehört. Wo sie herkam, wohin sie führte, welche Geheimnisse sie offenbaren würde. Iblis hatte die Trugschlüsse ihres Lebens aufgedeckt. Sie kannte jetzt die Wahrheit, wusste alles über KC, über den Vater, den sie niemals kennengelernt hatte, und warum ihre Mutter gewollt hatte, dass sie seinem Begräbnis beiwohnten. Iblis hatte ihr auch die Wahrheit über sich selbst erzählt und darüber, wie er KC alles beigebracht hatte, was sie über den Umgang mit der Unterwelt wusste. Iblis hatte ihr offenbart, wie viele Geheimnisse es gab auf dieser Welt.

Cindy schaute auf Simon, der bewusstlos dalag, und fragte sich, wie viel er wusste und welche Rolle er bei der ganzen Sache spielte. Sie hatten vor der Entführung nur wenig miteinander gesprochen, und obwohl er ihr anfangs kalt und gleichgültig vorgekommen war, hatte sie erkennen müssen, dass der Schein trog: Simon war bloß ein sehr konzentrierter Mann, der sich nicht ablenken ließ. Während ihrer kurzen Gespräche in der Limousine und im Hotel, als er sich so fürsorglich gezeigt hatte, hatte Cindy Zuneigung zu ihm entwickelt.

»Simon«, sagte sie nun, als sie vor seine Pritsche trat und sich über ihn beugte. Keine Antwort. Sie kontrollierte seinen Puls; er war flach, aber deutlich zu spüren. Sie hoffte, dass es ein kluger Entschluss gewesen war, die Infusion von seinem Arm zu nehmen, denn obwohl sie ihn unnötig ruhig stellte, versorgte sie ihn mit lebenswichtiger Flüssigkeit.

Simon drehte sich und blickte Cindy durch halbgeöffnete Lider an. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst«, sagte sie, »aber deine Freunde sind hier.«

»Wurde auch langsam Zeit.« Simon nickte, schloss die Augen und schlief wieder ein.

»Es wird alles gut«, flüsterte Cindy, beruhigte damit aber mehr sich selbst als Simon.

***

Michael kniete auf dem dicken Perserteppich. Seine Tasche mit den Handwerkszeugen lag offen neben ihm auf dem Boden. Er hatte das Einstellrad, in das man die Zahlenkombination eingab, vom Zentralzylinder der Tresortür entfernt und legte es hinter sich auf den Fußboden. Nun befestigte er eine kleine Wählscheibe – sie sah aus wie ein Einstellrad im Miniaturformat – an der Spindel, die aus der Tür ragte. Um die Spindel herum waren vier gut einen Zentimeter große Löcher, die man dazu benutzte, die Tür während der Installation festzuhalten – ein Hilfsmittel, das in den Dreißigerjahren aus der Mode gekommen war. Michael war froh, dass er sich dadurch die ermüdende und mühsame Arbeit ersparen konnte, die Löcher erst bohren zu müssen, wozu er in der Vergangenheit manchmal gezwungen gewesen war.

Er steckte ein dünnes Instrument, das über einen flexiblen Hals verfügte, in das obere linke Loch und drückte sich ein Monokular vors Auge. Das kleine, lupenartige Gerät aus Glasfaser verfügte über eine eigene Lichtquelle, sodass die inneren Mechanismen der Tresortür zu sehen waren. Michael durchsuchte dieses Innenleben, bis er fünf ineinandergreifende Räder entdeckte. Mit jeder Drehung des Miniaturrades würde sich das erste Rad bewegen, bis die erste Ziffer der Zahlenkombination erreicht war; dann würde eine schmale Metallscheibe, die nur auf diesen Augenblick wartete, in eine schmale Einkerbung im ersten Rad fallen und es in das zweite Rad greifen lassen. Dann wechselte das Drehrad die Richtung und transportierte dieses Scheibchen und das Rädchen, bis die zweite Zahl der Kombination erreicht war, worauf das zweite Scheibchen in die Einkerbung des drittes Rädchens fallen würde. Erst wenn alle fünf Scheiben in die richtige Position gedreht worden waren, entriegelte sich der Mechanismus, und man konnte die Tür öffnen.

»Wie lange wird das dauern?«, fragte Busch, doch Michael war zu beschäftigt, ihm die Frage zu beantworten.

Er drehte das Mini-Drehrad dreimal nach rechts. Dabei war sein Blick auf das Bild fixiert, das sich ihm durch das Monokular bot. Er hatte vergleichbare Tresortüren schon häufiger geknackt, sowohl bei seiner legalen Arbeit in der Sicherheitsfirma als auch im Zuge seiner illegalen Aktivitäten. Er war froh, dass diese Tür nicht an eine Zeituhr angeschlossen war, wie es bei Banken der Fall war, wo die Zahlenkombination nur zu festgelegten Uhrzeiten funktionierte.

Wie ein Chirurg, der mit einem Laparoskop arbeitet, beobachtete Michael durch das Monokular, wie die erste Metallscheibe in die Einkerbung einrastete. Langsam drehte er das Rädchen zurück, bis die zweite Scheibe in die Metallkerbe klickte. Auf diese Weise machte er weiter bis zum fünften und letzten Funktionsriegel.

Michael äugte zu Busch hinüber. Beide grinsten.

Michael stand auf. Während er mit der rechten Hand das Einstellrad packte und damit die Funktionsriegel in Stellung hielt, legte er die linke Hand auf den Griff. Nach einem sanften Stoß begann der Stahlgriff sich zu drehen.

Plötzlich erstarrte Michael, als ein schrilles, rhythmisches Heulen einsetzte. Er kam von der anderen Seite der Tür, aus dem Innern des Raums.

»Cindy?«

»Was ist das für ein Geräusch, Michael?«

Busch drehte sich zu Michael um, sagte aber nichts, als er sah, dass die innere Anspannung seines Freundes wuchs.

»Hör mir jetzt gut zu, Cindy! Sieh dich ganz schnell um! Folge dem Geräusch! Du musst mir sagen, wo es herkommt.«

»Iblis würde das alles hier doch nicht in die Luft jagen, oder?« Busch drehte sich um die eigene Achse und blickte den Korridor hinunter in die Richtung, in der sich die unersetzlichen Kunstwerke befanden.

»Nein«, erwiderte Michael. »Die Explosion wird auf den Tresorraum beschränkt bleiben. Aber das reicht völlig, um Cindy und Simon zu töten.«

***

KC starrte Iblis an. Sie und Michael waren geradewegs in eine Falle getappt.

»An meinen Wachen vorbeizukommen war sicher einfach, nicht wahr? Mein privates Refugium zu finden, wo ich meine Kunstwerke aufbewahre, dürfte eine weitaus größere Herausforderung dargestellt haben. Aber wenn er wirklich ein so guter Dieb ist, wie du glaubst, wird er die Alarmsysteme umgehen, und das wird ihn zu dem letzten Hindernis führen, das ihn noch von deiner Schwester trennt. Er wird zuversichtlich sein, weil bisher alles so wunderbar geklappt hat. Deshalb wird er in die simpelste Falle tappen, die es gibt.

Die Bombe besteht aus Semtex. Der Sprengstoff steckt in einer Ummantelung aus Rasierklingen und Nägeln. Die Bombe wird ihn verbrennen und zerfetzen. Und das alles ist deine Schuld. Wenn du mir vertraut hättest, hätte ich sie gehen lassen. Ich hätte sogar Simon gehen lassen, wenn du mich nicht betrogen hättest.«

Mit einem Griff zog KC ihr Mobiltelefon aus der Tasche.

»Die Mühe kannst du dir sparen«, meinte Iblis. »Da unten hat man keinen Empfang. Gib mir jetzt den Stab.«

KC schlug das Herz bis zum Hals. Ihre Schwester war tot, und sie selbst hatte sie umgebracht, hatte sie zu einem unschuldigen Opfer gemacht. KC taumelte unter der Last plötzlicher Schuldgefühle.

»Zwing mich nicht, etwas zu tun, was ich bereuen würde, KC«, sagte Iblis im Brustton der Überzeugung. »Ohne den Stab gehe ich nicht.«

Als KC Iblis anstarrte – den Mann, der ihr alles beigebracht hatte, was sie wusste und konnte –, stieg ihr die Galle hoch. Nackter Hass erfasste sie. Es kostete sie alle Kraft, ihm nicht an die Kehle zu springen. Und in diesem Moment traf sie eine Entscheidung: Er verdiente es zu leiden. Er verdiente es, bestraft zu werden.

Mit blitzschnellem Griff entriss Iblis KC die Lederrolle. Er öffnete die obere Abdeckung und die innenliegende metallene Verriegelung; dann lugte er in die Röhre hinein und sah die beiden Schlangenköpfe mit den Rubinaugen. Er schloss die Röhre wieder und blickte KC an.

KC war sprachlos und viel zu schockiert, als dass sie hätte reagieren können, wenn Iblis jetzt versucht hätte, sie zu töten. Aber das versuchte er nicht. Ohne ein Wort zu sagen, ohne die Hand gegen KC zu erheben, wandte er sich ab und schlenderte davon, ging über den Vorplatz und über den von Sträuchern gesäumten Weg.

KC verbarg ihr Haar unter einem Kopftuch, setzte sich auf eine Bank, zog ihr Handy hervor und wählte. Es klingelte und klingelte, und jedes Mal klang es wie das Läuten einer Totenglocke. Niemand nahm das Gespräch entgegen. KC steckte das Handy zurück in die Tasche. Tränen der Trauer über den Tod ihrer Schwester strömten ihr über die Wangen. Sie hatte Cindy im Stich gelassen. Hinzu kam, dass Cindy voller Hass auf sie gestorben war und dass die letzten Worte, die sie gewechselt hatten, im Zorn gesprochen worden waren. Sie hatte gehofft, dass sie einander wiedersehen würden, sodass sie Cindy alles erklären und ihr sagen konnte, dass sie den unglückseligen Weg, den ihr Leben genommen hatte, aus einer Notwendigkeit heraus gewählt hatte, aus Liebe. Aber die Tränen des Wiedersehens würden niemals fließen, nur die Tränen der Trauer, die ihr Gesicht jetzt benetzten.

Schließlich schaute sie auf und sah, dass Iblis zum Ausgang ging, der vom Gelände der Blauen Moschee auf die Straße führte.

In diesem Moment geschah es.

Aus sämtlichen Richtungen stürmten dreißig Polizisten auf ihn zu. Iblis konnte nirgendwohin entkommen. Er wurde zu Boden geworfen. Man legte ihm Handschellen an, bevor er sich wehren konnte.

***

Den ledernen Ohrensessel, der in der Ecke des Raumes stand, hatte sie zur Seite geschoben. Auf dem Fußboden stand eine etwa dreißig Quadratzentimeter große, schwarze Dose; der Deckel war aufgeklappt. Ein Piepton gellte durch den Raum und klang in Cindys Ohren wie das Kreischen einer Kreissäge. Das Geräusch stammte von einem roten LED-Zeitmesser, der rückwärts zählte. Cindy wusste genau, was sie da vor sich sah, und Panik erfasste sie.

»Michael, das ist eine Bombe!«, rief sie. »Sie zählt von neunzig abwärts!«

Michael blickte durch das Monokular in der Tresortür und bewegte das Glasfaser-Instrument mit dem flexiblen Hals so lange hin und her, bis er die Ursache für die Bedrohung fand. Es war ein simpler mechanischer Schalter, der am Türgriff befestigt war und dessen Drähte aus der Tür in die Wand führten. Michael war wütend auf sich selbst, das nicht vorher überprüft zu haben. Er hätte es leicht entfernen können, war aber zu ungeduldig gewesen, um eine solche Falle überhaupt in Betracht zu ziehen. Er hatte genau das getan, was Iblis gewollt hatte.

Michael bekam schnell wieder klaren Kopf. »Cindy, du musst dich jetzt konzentrieren. Beschreib mir das Ding.«

»Es ist schwarz … der Zähler ist obendrauf, rote Zahlen, die rückwärts zählen … o Gott, siebzig Sekunden!«

»Siehst du irgendwelche Drähte?« Michael schaute auf seine Armbanduhr und drückte die Stoppuhr-Funktion, stellte sie ebenfalls auf einen siebzigsekündigen Countdown ein.

»Vier Kabel kommen aus der Wand und führen in die Dose … da ist ein ganzer Wust von Kabeln, und zwei Metallzacken ragen aus dem inneren Teil der Dose heraus. Außerdem kommen Drähte aus dem Zähler heraus … mein Gott, Michael, ich schaff das nicht!«

»Was für eine Farbe haben die Drähte?« Michael wusste, dass es eine dumme Frage war; es gab niemals einen blauen Draht, den man durchschneiden konnte, oder einen roten, oder gelben, oder grünen. Bomben hatten keine Standardverkabelungen. Es gab kein Handbuch für Anarchisten, in denen die ordnungsgemäße Verdrahtung von Sprengsätzen vorgegeben wurde.

»Weiß, schwarz, rot, grün, gestreift. Es sind weniger als fünfzig Sekunden. Michael, hilf mir.«

»Mach die Tür auf, Michael«, sagte Busch und packte den Griff.

»Nein!« Michael schob seinen Freund zur Seite. »Dann geht sie hoch! Hast du nicht gehört, was Cindy gesagt hat? Vier Drähte aus der Wand. Iblis hat nicht nur einen Zeitzünder installiert, er hat auch einen Abzugsschalter an der Tür angebracht.«

»Sie wird sterben«, sagte Busch.

»Cindy?« Michael schaute auf die Armbanduhr: Sie hatten nur noch zwanzig Sekunden. »Du musst jetzt in die Dose fassen und …«

»Michael.« Cindys Stimme klang ruhig. Ihre Panik schien verflogen. »Sag KC, dass es mir leid tut …«

»Fass in die Dose. Du kannst das«, sagte Michael ruhig. »Du kannst es ihr selbst sagen.«

Doch er bekam keine Antwort. Wieder war Michael einen Blick auf seine Armbanduhr.

Noch zehn Sekunden …

Fünf …

»Cindy!«

Michael presste die Augen fest zusammen, stand im Schutz der dicken Tresortür.

Zwei Sekunden …

Eine …

Michaels Stoppuhrfunktion erreichte die Null, und die Zahlen liefen weiter. Eine halbe Minute verging, aber nichts geschah. Kein Laut. Keine Explosion. Nichts.

»Cindy?«, rief Michael und sah Busch dabei fragend an.

Plötzlich quietschte die Tür. Michael stand auf und trat von der Tür weg. Langsam schwang sie auf. Michael und Busch standen da. Das Herz klopfte beiden bis zum Hals, bis sie endlich in den Raum hineinschauen konnten.

Cindy saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Knie vor die Brust gezogen, den Kopf unter den Armen vergraben. Unkontrolliertes Schluchzen ließ ihren Körper beben.

»Na, das hat aber lange gedauert …«

Michael blickte in die Richtung, aus der die vertraute Stimme kam.

Simon saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken gegen den ledernen Ohrensessel gelehnt. Sein Kopf war mit einem dicken, blutverkrusteten Verband umwickelt. Er war bleich und konnte die Augen kaum offen halten. Schließlich schaute Michael auf seinen rechten Arm und sah, dass er einen roten Zeitzünder in der Hand hielt. Um seine Finger waren baumelnde Kabel und Drähte geschlungen. Die Bombe, die nicht hochgegangen war, lag neben ihm auf dem Fußboden.