45.
Die Luft schmeckte nach Metall. In einer Höhe von viertausenddreihundert Metern war sie trockener als in jeder Wüste, in der Busch je gewesen war. Er und Michael steckten mitten in einem Blizzard, der ihnen jede Sicht nahm. Ihre Beine brannten von der vierstündigen Wanderung wie Feuer, während ihre Körper mehr und mehr auskühlten, weil die Temperatur immer weiter fiel und der Wind eisig war.
Sie trugen beide eine komplette Bergsteiger-Ausrüstung: Daunenjacken, Handschuhe, Gesichtsmasken, gelb getönte Schutzbrillen – keine einzige Pore war den plötzlich so harschen Elementen schutzlos ausgeliefert. Der Schnee wirbelte um sie her, und die Stille wurde nur vom Aufheulen einzelner Windböen unterbrochen und von einem Geräusch, das sich anhörte wie das Rieseln von Sand und das immer dann ertönte, wenn Schnee gegen die Felswand gepeitscht worden war.
Sie hatten sich mit einem dreißig Meter langen Stück Kernmantelseil aneinandergebunden. Da die Sicht fast null betrug, hätte ohne Seil die Gefahr bestanden, dass sie getrennt wurden, selbst wenn sie nur wenige Meter voneinander entfernt waren. Das Heulen des Windes übertönte fast jedes andere Geräusch, sodass Michael und Busch den Mund gegen das Ohr des anderen pressen mussten, wenn sie sich verständigen wollten.
Sie hatten beide ihre Äxte herausgeholt und benutzten sie, um im Wind das Gleichgewicht zu halten und besseren Halt auf dem vereisten Boden zu finden.
»Wovon muss ein Mensch besessen sein, um so etwas freiwillig zu tun?«, brüllte Busch Michael ins Ohr.
Michael schüttelte den Kopf, denn er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hatte Achyuta und Max schon vor über einer Stunde wieder nach unten geschickt. Da Busch das Navigationsgerät bei sich hatte, waren die beiden jungen Brüder nur für den Fall mit von der Partie gewesen, dass die Elektronik versagte, aber ausnahmsweise schienen die Geräte zu funktionieren. Zunächst hatten die Brüder sich gesträubt, weil sie hofften, ihr erstes großes Abenteuer fortsetzen zu können, doch als der Sturm eine Windstärke von mehr als fünfundsiebzig Stundenkilometern erreichte, gaben sie nach.
Busch lehnte sich gegen die Felswand, zog das Navigationsgerät hervor, das er mit dem Körper vor Wind und Kälte schützte, und warf einen kurzen Blick darauf: Der rote Punkt war nur noch anderthalb Kilometer vor ihnen und hatte sich in den letzten zwei Stunden nicht mehr von der Stelle bewegt.
Michael konnte sich nicht vorstellen, wie es auf dem Gipfel des Berges war, in achteinhalbtausend Metern Höhe, auf dem Dach der Welt. Sie waren jetzt auf viertausenddreihundert Metern, und obwohl sie beide körperlich fit waren, keuchten sie wie die Packesel, während sie sich den Berg hinaufschleppten.
Sie stapften über weites freies Gelände und durch tiefen Pulverschnee. Bei jedem ihrer riskanten Schritte brannten ihre müden Beine. Da die Sichtweite so gering war, hätten sie ebenso gut in einem Krater sein können. Sie wussten nicht mehr, in welche Richtung sie sich bewegten, und waren gezwungen, den Kompass zu Hilfe zu nehmen, um nicht die Orientierung zu verlieren und in dem Schneechaos, das sie umgab, im Kreis zu laufen.
Sie gelangten an eine breite Einmündung, eine Lücke in der Felswand, die aussah wie eine vierspurige Autobahn. Sie war auf der Karte besonders hervorgehoben und führte zu der Stelle, an der auf dem Navigationsgerät der rote Punkt blinkte. Michael und Busch traten durch die Einmündung und fanden sich auf einem Weg aus blankem Eis wieder, auf dem Neuschnee lag. Der Weg wirkte wie ein Miniaturgletscher, einer von den vielen zugefrorenen Flüsschen, die das Wasser führten, das auf den Höhen des Berges taute. Michael war erstaunt, als er feststellte, dass das Eis größtenteils so rein und klar aussah, als würde ihm ständig neues Wasser zugeführt – wie bei einer langsam arbeitenden Eismaschine, die glasklare Eiswürfel produzierte.
Er kletterte den Weg hinauf. Er war von Felswänden eingeschlossen und verjüngte sich im weiteren Verlauf zu einer knapp zehn Meter breiten Gletscherspalte, die den Granit des Berges in zwei Segmente teilte. Sie mussten gegen den Wind ankämpfen, und ihre Füße rutschten ständig auf dem eisigen Boden ab, doch sie gruben ihre Äxte in den Grund und kämpften sich weiter. Sie brauchten fast eine Stunde für die anderthalb Kilometer und quälten ihre Körper dabei aufs Äußerste.
Und dann standen sie plötzlich in einer Sackgasse, vor einer riesigen glatten Felswand, die sich bis ins Nichts erhob. Der Wind und der Schnee um sie her waren wie ein eisiger Hurrikan. Busch schaute auf das Navigationsgerät. Er befürchtete, dass es defekt war; der rote Punkt befand sich auf der anderen Seite der Felswand. Sie sahen sich um, tasteten nach einer Öffnung, nach einem Höhleneingang, nach irgendeinem Weg, der es ihnen ermöglichte, durch diese Wand zu kommen, aber da war nichts.
Michael hoffte, dass das Ganze sich nicht als fruchtloses Unternehmen entpuppte, weil sie uralten Karten folgten, die zu einer Zeit gezeichnet worden waren, als es noch keine Präzisionsinstrumente gegeben hatte. Er hoffte, dass Venue den GPS-Chip, der in der Lederrolle versteckt gewesen war, nicht gefunden und sie auf Abwege, sprich in die Eiswüste geschickt hatte.
Doch es fehlte jede Spur von KC, Venue und ihrer Gruppe, was Michael zu der Annahme führte, dass sie irgendetwas übersehen hatten: eine Tür, einen Durchgang, eine Öffnung. Irgendwo musste eine Lücke sein, die es ihnen erlauben würde, zur anderen Seite der Granitwand vorzudringen.
Michael erwog, eines ihrer Zelte aufzuschlagen, damit sie sich eine kurze Verschnaufpause gönnen konnten, entschied sich dann aber, nach einem solideren Unterschlupf zu suchen, damit sie ruhen und neue Kraft tanken konnten.
Er und Busch liefen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren – in der Hoffnung, diesmal zu finden, was sie zuvor übersehen hatten. Nach ungefähr einhundertfünfzig Metern stießen sie auf einen Felsvorsprung, der von einer zweieinhalb Meter hohen Schneewehe verdeckt wurde. In der Mitte dieser Barriere aus Schnee hatte sich ein breites natürliches Fenster gebildet, als hätte ein warmer Wind es in die eisige Wand geschnitten. Michael und Busch gruben schnell, schaufelten den Schnee beiseite und entdeckten einen riesigen Felsblock, hinter dem sich eine kleine Höhle auftat.
Sie krochen hinein, traten sich den Schnee von den Stiefeln und schüttelten ihn von ihren Wollmützen. Dann zogen sie sich die Masken vom Gesicht, sanken auf den Felsboden und schnappten nach Luft, als hätten sie gerade einen Tiefseetauchgang ohne Sauerstoffgerät hinter sich. Um sie her war es stockfinster, sah man von dem sanften weißen Glanz des Schnees ab, der den Höhleneingang bedeckte.
Es dauerte geschlagene zwei Minuten, bis Busch sich endlich zu Wort meldete. »Und so was machen Leute aus Spaß?«, keuchte er. »Auf solche Monster zu klettern ist ihre sportliche Betätigung? Meine Fresse, wie muss man sich da erst auf achttausend Metern fühlen!«
»Sachte, mein Kleiner«, erwiderte Michael.
»Von wegen sachte. Dafür, dass dieser Mistkerl KC hier raufgeschleppt hat, werde ich ihm den Hals umdrehen.«
Sie saßen da, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, rangen nach Luft und ruhten ihre Beine aus. Busch zog das Navigationsgerät hervor, aber in der Höhle hatten sie keinen Empfang.
Michael griff in seine Tasche und nahm eine Flasche Wasser und eine Taschenlampe heraus. Er drehte die Flasche auf und leerte sie bis zum letzten Tropfen, denn die Höhe hatte seinen Körper dehydriert. Dann knipste er die Taschenlampe ein und stellte fest, dass sie sich in einer erstaunlich trockenen Höhle befanden. Sie war nicht groß, höchstens einen Meter hoch, bot ihnen aber ausreichend Platz, um sich frei bewegen zu können. Nach hinten verlief die Höhle noch viel weiter; der Weg war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Michael berührte die Wände. »Die sind warm.«
Busch zog seine Handschuhe aus und hielt seine kalten Finger gegen das Felsgestein. »Banyo hat ja gesagt, es gebe überall im Himalaja heiße Quellen.«
Michael betastete den Boden, nahm seine Mütze ab und grinste. »Wenn hier eine heiße Quelle ist, springe ich rein.« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe tiefer in die Höhle.
»Was siehst du?«, fragte Busch.
Michael richtete die Lampe auf den Boden, auf dem Stiefelspuren zu sehen waren.
»Da hol mich der Teufel.« Kopfschüttelnd durchwühlte Busch seinen Rucksack. Er nahm zwei Pistolen heraus, zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und steckte die beiden Waffen in seine Schulterholster.
Michael tat es ihm gleich, holsterte zwei Sig Sauer und klemmte sich sein Messer an den linken Unterschenkel. Dann machte er sich auf den Weg tiefer in die Höhle hinein.
»Banyo hat gesagt, Iblis hätte elf Schläger dabei. Wir müssen davon ausgehen, dass diese Typen wissen, wie man kämpft. Und Iblis selbst ist der Gefährlichste von allen.«
Mit jedem Schritt, den Michael und Busch tiefer in den unterirdischen Gang vordrangen, wurde die Luft wärmer. Eine sanfte Brise kam auf. Immer weiter liefen sie durch die Finsternis. Schließlich entdeckten sie in der Ferne ein schwaches Licht. Kurz darauf hatten sie die Höhle hinter sich gelassen.
Michael stand auf einer Felsspalte und blickte nach unten.
Von all den Dingen, die er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte, von all den Orten, an denen er gewesen war, und von all den zahllosen Orten, über die er gelesen hatte, konnte nichts auch nur ansatzweise mit dem Anblick konkurrieren, der sich ihm jetzt bot.
Einen Augenblick stand er da und ließ auf sich wirken, was er sah. Sein Verstand wehrte sich gegen den Anblick, weil er mit dem Verstand nicht zu erfassen war, doch sein Herz war stärker, und so lächelte er.
»Was stehst du denn da rum?«, fragte Busch, als er hinter Michael aus der Höhle kletterte. Er kontrollierte gerade seine Waffen und erkannte erst, warum Michael wie gebannt dastand, als auch er hinunterblickte auf die Welt, die sich unter ihnen auftat. Im ersten Moment staunte er nur; dann gelangte er zu der Überzeugung, dass das, was er sah, unmöglich sein konnte. Dann schaute er noch einmal hin und flüsterte ehrfürchtig: »Mein Gott.«