21.

Michael und KC betraten das Restaurant durch die Hintertür und verließen es durch den Hauptausgang. In den trockenen Sachen, die während ihres Ausflugs bei Busch im Wagen gelegen hatten, standen sie auf dem Bürgersteig und beobachteten, wie ihr Freund um die Ecke bog und die Limousine genau vor ihnen zum Stehen brachte. Busch lief um den Wagen herum und öffnete mit einem Augenzwinkern den Wagenschlag, damit sie in die Luxuskarosse einsteigen konnten, aus der sie erst knapp zwei Minuten zuvor einen Block entfernt ausgestiegen waren.

Michael und KC waren aus der Zisterne heraus auf das Palastdach geklettert und hatten sich zur Vorderseite des Gebäudes vorgearbeitet. Immer noch tropfnass und mit den aufgerollten Seilen über der Schulter waren sie über die Westmauer in eine Seitenstraße geschlüpft, wo Busch sie abgeholt hatte.

»Dir ist hoffentlich klar, dass hier morgen Abend Hunderte von Menschen sein werden – und der Himmel weiß, wie viele Wachmänner, Polizisten und Sicherheitsbeamte in Zivil.«

»Was ein weiterer Grund ist, genau dann zu handeln«, erwiderte Michael. »Die Leute werden nicht auf die Idee kommen, dass jemand so dumm sein könnte, ausgerechnet morgen ein krummes Ding zu drehen. Und Iblis wird es erst recht nicht für möglich halten, schon gar nicht, wenn er dich in die Hagia Sophia gehen sieht.«

»Und unser guter alter Paul wird Iblis im Auge behalten, damit der Bursche keine Mätzchen macht«, sagte KC.

»Apropos«, meinte Michael, »wo ist unser Freund?«

»Fünf Wagen hinter uns«, gab Busch zur Antwort. »Er hat beobachtet, wie ihr zwei ins Restaurant gegangen und wieder herausgekommen seid. Während dieser Zeit hat er sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt.«

Michael und KC blickten aus dem Heckfenster, sahen aber nur ein Meer gelber Taxis. »Dass du ihn ausmachen kannst, ist mir ein Rätsel«, meinte KC.

»Er hat zwei Typen dabei«, sagte Busch. »Ich nehme an, dass sie heute Nacht das Hotel beobachten werden, während er sich eine Mütze Schlaf gönnt. Ihr zieht das Ding also durch?«

»Bei mir gibt es ein paar Probleme, die wir erst noch lösen müssen.« KC lächelte Michael an. »Und Michael muss etwas finden, was Bumm macht.«

»Das sind ja schöne Aussichten. In Michaels Händen kann sogar ein Streichholz zu einer Waffe werden, die den Weltuntergang einläutet.« Busch lachte, als er vor dem Hotel vorfuhr. »Ich gehe jetzt in die Hotelbar. Ich sehe euch dann morgen in aller Frühe.«

»Gute Nacht, Paul«, sagte KC. »Und danke.«

KC und Michael stiegen aus der Limousine und betraten die Hotelhalle.

»Das war das mit Abstand ungewöhnlichste Rendezvous, das ich je hatte«, sagte Michael.

KC lächelte ihn an. »Ich weiß nicht, ob ich es ein Rendezvous nennen würde.«

»Wie würdest du es dann nennen?« Sie gingen zum Fahrstuhl, und Michael näherte sich ihr mit jedem Schritt ein bisschen mehr.

»Michael«, sagte KC leise.

Er sah den bedauernden Ausdruck, den ihre Augen plötzlich annahmen. »Ich glaube nicht, dass du und ich …«

Der Lift kam, und sie stiegen ein. Die Fahrstuhltür schloss sich bereits, als plötzlich eine Hand durch die Öffnung stieß und sie wieder aufzog.

»Warten Sie bitte«, sagte ein älterer Herr mit französischem Akzent. Im nächsten Moment drängten sich acht Personen in die Kabine, die nur für sechs gedacht war. Es wurde so eng, das Michaels und KCs Körper gegeneinanderrieben. Wärme durchströmte beide. Ihre Lippen waren nur Zentimeter voneinander entfernt, während die Leute drückten und schoben, um Platz zu schaffen, sodass die Tür sich schließen konnte.

Langsam fuhr der Fahrstuhl nach oben. Michael und KC waren in ihrer eigenen Welt, genossen die Berührungen des jeweils anderen und nahmen das Lachen und die Gespräche der Franzosen gar nicht wahr. Im dritten Stock hielt der Fahrstuhl. Die Franzosen strömten nach draußen und ließen Michael und KC allein und in plötzlicher Stille zurück.

Die Türen schlossen sich. Sekunden später öffneten sie sich wieder im vierten Stock.

Michael begleitete KC zur Tür ihres Zimmers. Dabei blickte er die ganze Zeit auf ihr blondes Haar, das im weichen Licht der Flurbeleuchtung glänzte, betrachtete ihren Körper und ihre bei jedem Schritt sanft schwingenden Hüften.

»Michael«, sagte KC. Sie blickte zwar in seine Richtung, vermied es aber, ihm in die Augen zu schauen. »Es tut mir leid, dass ich dich in diese Geschichte mit hineingezogen habe.«

»Du hast mich in nichts hineingezogen.«

»Ich werde das Bild einfach nicht los, Cindys Tränen und Simon …« KC stockte. »Ich habe sie immer nur belogen. Und ich habe dich belogen. Du hast geglaubt, du wärst mit einem aufrichtigen Menschen zusammen, mit einer ehrlichen Frau … das bin ich aber nicht. Jetzt ist Schluss mit der Lügerei und dem Versteckspiel.«

»Du hattest Grund zu lügen.«

»Nein. Wir dürfen die Menschen, die wir lieben, nicht belügen. Ich habe gesehen, was ich Cindy damit angetan habe. Ich muss dir die Wahrheit sagen.«

Liebevoll lächelte Michael sie an.

»Ich glaube«, fuhr KC fort, »dass es Menschen gibt, denen die Liebe nicht vergönnt ist, während es anderen bestimmt ist, bedingungslos geliebt zu werden.« KC atmete tief durch. »Ich kann dir deine Ehefrau nicht ersetzen. Michael …«

»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen, KC. Wir müssen uns jetzt darauf konzentrieren, deine Schwester und Simon zurückzubekommen. Danach können wir über alles andere reden.« Michael streckte die Hand aus und strich mit den Fingern zärtlich über KCs Wange. »Lass uns diese Dinge erst einmal beiseitestellen. Morgen ist ein neuer Tag.«

KC blickte ihm tief in die Augen.

»Es tut mir leid, Michael.« Sie trat einen Schritt zurück und benutzte ihre elektronische Schlüsselkarte, um die Zimmertür zu öffnen. »Gute Nacht.«

***

Klickend fiel die Tür ins Schloss. KC betrat ihre Suite. Sie ging nach oben in das große Bad, drehte die Dusche auf und zog sich aus. Dann trat sie in die Granitkabine und ließ das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln. Fünf Minuten später drehte sie das Wasser wieder ab, hüllte sich in ein Badetuch und trat zurück in das Bad aus Marmor.

Unvermittelt erfasste sie panische Angst. Einen Moment stand sie wie erstarrt da; dann schnappte sie sich ihre Hose, die auf dem Boden lag, und griff in die Vordertasche. Zuerst dachte sie, es sei verschwunden, dann aber hielt sie es plötzlich in der Hand und zog es heraus.

KC hielt den winzigen Gegenstand ganz fest und rutschte an der Wand entlang auf den Fußboden, während sich der Dampf aus der Dusche langsam auflöste.

Sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, damit die Wachen diesen Gegenstand nicht fanden, als man sie in Amsterdam filzte und als Iblis sie abgetastet und die Visitenkarte von Michaels Vater in ihrer Tasche gefunden hatte. Sogar im Gefängnis von Chiron war es ihr gelungen, den Gegenstand immer wieder an einer anderen Stelle zu verstecken, ohne dass es jemandem aufgefallen war. Er hatte keinen nennenswerten pekuniären Wert, bedeutete ihr aber so viel, dass es mit Geld nicht zu bezahlen war. Es war das einzige Geschenk, das ihr jemals ein Mensch aus Liebe gemacht hatte. KC las die Gravur, Morgen ist ein neuer Tag, und legte sich die Kette mit dem Anhänger um den Hals. Dann schloss sie die Augen und hielt den Anhänger so fest, als würde sie Michaels Herz in Händen halten.

Darüber schlief sie ein – auf den Handtüchern auf dem Badezimmerboden.

***

Michael stand auf dem Balkon seiner Hotelsuite. Er blickte auf das nächtliche Istanbul und über den Bosporus nach Asien. Dabei ließ er sich KCs Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatte in ihm etwas zu neuem Leben erweckt – etwas, von dem er geglaubt hatte, dass es gestorben sei und dass er es zusammen mit Mary begraben hatte. Doch irgendwo tief in seinem Innern hatte KC sein Herz gefunden.

Sie war eine starke, kluge Frau, deren Gefühle derzeit auf eine harte Probe gestellt wurden. Dennoch kämpfte sie weiter, mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie waren einander sehr ähnlich, nicht nur im Hinblick auf das, was sie taten, auch im Hinblick auf ihre Persönlichkeit und ihren Charakter.

Allerdings war an diesem Tag eine Sache aufgekommen, die Michael noch immer zu schaffen machte und über die sie sich noch unterhalten mussten: KCs Sicherheit. Michael bezweifelte nicht, dass sie wusste, was sie tat; andernfalls hätte Simon nie mit ihr zusammengearbeitet. Doch Michael wusste besser als irgendjemand sonst, dass überall Gefahren lauerten. Es gab unerwartete Wendungen, die einen das Leben kosten konnten, bevor man auch nur begriff, was geschah. Bei ihm war es noch jedes Mal gut gegangen, aber würde KC auch so viel Glück haben, wenn es hart auf hart ging?

Michael verdrängte diese Gedanken. Wenn sie die Karte an sich bringen und Cindy und Simon retten wollten, musste er hellwach sein. Seine Sorgen um KC, seine Ängste und Gefühle musste er erst einmal beiseiteschieben und sich ganz auf die anstehende Aufgabe konzentrieren. Nur so konnten sie Erfolg haben, nur so konnten sie überleben.

Michael ging vom Balkon in die Suite und über die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Er zog sich aus, legte sich aufs Bett und zog seine Aktenmappe heran, die verschiedene Dokumente enthielt. Sie gehörten Simon und hatten in seiner Reisetasche gesteckt, doch Michael hatte sie bisher noch nicht gelesen, nur kurz überflogen. Dabei waren ihm gewisse Worte ins Auge gesprungen, sodass er es für das Beste gehalten hatte, den Inhalt nicht sofort mit Busch und KC zu teilen. Simon hatte sich ausweichend geäußert, als Michael ihm Fragen über die Karte gestellt hatte und darüber, wohin sie führte. Dafür musste es einen wichtigen Grund geben. Deshalb hatte Michael es für das Vernünftigste gehalten, den Inhalt dieser Mappe erst einmal in aller Ruhe allein zu lesen.

Er schlug die Akte auf und blickte auf eine Zeichnung, die einen türkischen Korsaren zeigte, der einen Fuß auf die Reling seines Schiffes gestellt hatte. Der Wind wehte ihm das lange dunkle Haar aus der Stirn; ein paar Strähnen hatten sich in seinem Bart verfangen. Er trug eine dunkelrote Hose, die vom Wind aufgebauscht war und von einer tiefblauen Schärpe zusammengehalten wurde. Um seine Schultern war ein langes dunkles Gewand geschlungen, das in der starken Meerbrise wehte. In der Hand hielt er einen orientalischen Krummsäbel.

Kemal Reis war ein türkischer Korsar gewesen, der zu einem geachteten Admiral der osmanischen Flotte aufgestiegen war. Sein wirklicher Name lautete Ahmed Kemaleddin aus Gelibolu. Vierzig Jahre lang segelte er um die Welt und kaperte Schiffe im Mittelmeer und im Schwarzen Meer, im Indischen Ozean und im Chinesischen Meer. Es waren Unternehmungen, durch die er zu Wohlstand und großer Macht gelangte.

Hinter der Zeichnung klemmten Papiere. Michael zog die Büroklammer ab und entdeckte die Fotokopie eines Briefes. Er war in einer ihm fremden Sprache geschrieben, doch es lag eine englische Übersetzung bei:

Der beiliegende Eintrag ins Logbuch wurde von Bora Celil verfasst, dem Kapitän des Führungsschiffes der Flotte von Kemal Reis.

16. April 1511, nach dem Julianischen Kalender.

Als wir den Ozean Indiens besegelten, stießen wir auf eine chinesische Dschunke, ein gewaltiges Schiff mit einer Länge von über fünfundsiebzig Metern, dessen Segel zerrissen im Wind flatterten. Die Chinesen sind nicht dafür bekannt, dass sie die Weltmeere bereisen; deshalb war die Mannschaft in heller Aufregung. Kemal Reis, ich selbst und dreißig weitere Männer gingen an Bord der Dschunke. Wir fanden die gesamte Besatzung tot vor. Es sah aus, als wäre das Schiff vom Teufel heimgesucht worden. Die Männer der chinesischen Mannschaft hatten sich selbst die Augen herausgerissen, hatten sich die Gliedmaßen abgetrennt und sich Dolche ins Herz gestoßen. Noch im Tod umklammerten sie die Dolchgriffe mit blutverschmierten Fäusten. Als Korsaren sind wir dem Tod schon oft begegnet und haben ihn mit eigener Hand häufiger über Unschuldige gebracht, als es Sterne am Himmel gibt, sodass der Tod für uns so selbstverständlich ist wie das Atmen, doch wurde uns bei dem Anblick, der sich uns hier bot, ganz sonderbar ums Herz. Dies hier war nicht von Menschenhand verübt worden.

Kemal und ich befahlen der Mannschaft, Wache zu stehen. Dann machten wir uns mit dreien unserer Männer auf den Weg ins Unterdeck des Schiffes. Wir stellten fest, das sämtliche Laternen brannten und die Lebensmittelvorräte unberührt waren, doch ebenso wie die Besatzung war auch das Vieh tot: Die Tiere waren aufeinander losgegangen. Aus den Quartieren drang ein überwältigender Gestank, der von den verwesenden Körpern der Chinesen herrührte, die unter den gleichen Umständen gestorben waren wie ihre Landsleute auf dem Oberdeck – alle durch die eigene Hand.

Kemal fand das Kapitänsquartier am Heck des Schiffes. Der chinesische Kapitän war ein großer Mann, der über vier Ellen maß. Er lag auf dem Boden, und seine Hände umklammerten immer noch das Schwert, mit dem er sich selbst den Kopf abgeschlagen hatte, der in einer Ecke des Raumes lag. Sein langes schwarzes Haar war von angetrocknetem Blut verkrustet, seine halb geöffneten Augen waren milchig weiß, und sein Mund stand weit offen.

Wir haben uns nicht lange bei der Leiche aufgehalten, sondern uns dem Kartentisch zugewandt. Da lagen Hunderte von Karten, alle ordentlich gestapelt auf Regalen unter der Arbeitsplatte. Kemal befahl uns, die Karten zusammenzurollen, so schnell wir konnten, und sah sich derweil gebannt eine Karte an, die ausgebreitet auf dem Tisch lag. Sie war sehr groß und bestach durch exquisite Details. Wir hatten noch nie eine Karte gesehen, die so ausgefeilt und umfassend war.

Als wir so dastanden, nachdem unsere Männer den Raum mit den anderen Karten verlassen hatten, meinten wir plötzlich, Stimmen zu hören. Wir sahen uns um, konnten aber niemanden sehen. Deshalb schrieben wir das Ganze unserer geistigen Verfassung zu, die durch die schauerlichen Dinge, derer wir ansichtig geworden waren, verwirrt schien.

Dann aber vernahmen wir ein leises Summen. Wir zogen unsere Krummsäbel, ergriffen eine Öllampe, die an der Wand hing, verließen die Kabine und folgten dem Geräusch in den vorderen Frachtbereich der Dschunke, wo wir an eine verschlossene Tür gelangten. Hadrid zerschmetterte die Schlösser mit wenigen Schlägen seines Hammers.

Als Kemal vorsichtig die Tür öffnete, hielt er die Laterne hoch und wurde fast geblendet. Der Raum war voller Gold. Man sah an keiner Stelle mehr den Fußboden. Er verschwand unter Bergen von Edelmetall. Dazwischen lagen Juwelen verstreut, Diamanten, Rubine und Saphire, erlesener und größer, als wir es jemals für möglich gehalten hätten. In der äußersten Ecke lagen stapelweise Bücher und Schriftrollen, uraltes Pergament, beschriebene Tierhäute, sogar Steine, in die Worte geritzt waren, in Sprachen, die keiner von uns kannte.

Und in der Mitte saß ein Mann. Er war kahlköpfig und von unvorstellbarem Alter, obwohl sein Gesicht glatt war und keine Falte aufwies, ganz so, als hätte er nie gelächelt oder die Stirn gerunzelt, weil er nie etwas empfunden hatte. Abgesehen von einer einzigen Narbe, die sich über die rechte Wange zog, hatte die Zeit seiner Haut nichts anhaben können.

Er saß mit überkreuzten Beinen auf einem großen Samtkissen, umfasste mit den Händen einen dunklen Stab, der auf seinem Schoß lag, und summte dabei leise vor sich hin. Seine Haut besaß die Farbe von trübem Tee, und er hatte kein einziges Haar am Körper. Er war weder Chinese noch Inder, auch kein Türke, Europäer oder Afrikaner, und aus dem Mittleren Osten stammte er ebenfalls nicht. Es sah aus, als wären die Züge der gesamten Menschheit in ihm vereint.

Der Mann war ruhig, der Inbegriff inneren Friedens. Langsam öffnete er die Augen und blickte uns an, studierte unsere Gesichter und unsere Kleidung. Er schien den Schatz nicht zu beschützen, denn er besaß keine Waffe und zeigte keinerlei Anzeichen von Angriffslust. Wir wussten nicht, ob wir ein Mitglied der Mannschaft vor uns hatten oder einen Gefangenen oder einen Wächter. Der Mann war schlicht gekleidet und trug derbe Sachen aus Wolle und Schuhe aus Holz. Als er sich erhob, konnten wir den Stab in seiner Hand genauer sehen. Er war anderthalb Ellen lang und aus einem unnatürlich dunklen Holz. Um den Stab herum wanden sich zwei Schlangen, die sich auf ganzer Länge an dem Stab emporwanden und einander am oberen Ende mit weit aufgerissenen Mäulern anblitzten. Ihre Augen waren aus blutroten Rubinen, die im Licht des Feuers funkelten, und ihre Silberzähne flimmerten, als wollten sie die Fänge in den Hals des Gegenübers schlagen.

Kemal fragte den Mann, wer er sei, erhielt die Antwort jedoch in einem Dialekt, den wir nie zuvor gehört hatten. Dann begann der Mann zu sprechen, bedächtig und überlegt, wobei seine Sprache sich mit jedem Satz zu verändern schien. Plötzlich hellte die Miene unseres ersten Offiziers Hadrid sich auf, weil er die Sprache verstand. Hadrid Lovlais gehörte seit fünf Jahren zu unserer Mannschaft. Er war ein hochgewachsener, dunkelhäutiger, wilder Krieger, der aus dem Dschungel Indiens stammte.

Langsam begann er zu sprechen und unterhielt sich mit dem Mann. Es schien ein höfliches Gespräch zu sein. Die Worte klangen sanft, ganz anders, als es Hadrids Natur war. Überdies war es ein Verhalten, an das wir auf See nicht gewöhnt waren. Schließlich drehte Hadrid sich zu Kemal um und sprach drei Worte:

»Wir sind tot.«

Hadrid erklärte, dass der Mann seit unzähligen Monaten mit dem Schatz unterwegs sei – einem Schatz, der immer wieder gestohlen worden war, seit man ihn aus einem Grab in einem Berg geholt hatte, in dem er Jahrhunderte versteckt gewesen war. Der Mann nannte ihn den »Schatz des Teufels«. Es war ein Schatz, von dem behauptet wurde, man habe ihn einst aus der Hölle selbst geraubt, und ihn zu besitzen bringe Wahnsinn und Tod mit sich.

Der alte Mann mit der teefarbenen Haut bettelte nicht und flehte nicht. Er bat Kemal lediglich, den Schatz an seine eigentliche Ruhestätte zurückzubringen.

Kemal war sechzig Jahre alt. Er hatte zahllose Schlachten geschlagen und mehr Schätze geplündert, als man in hundert Menschenleben verprassen kann. Er hatte das Leben und den Tod gesehen, hielt beide täglich in den Händen und spielte schon länger die Rolle eines Gottes, als er sich erinnern konnte. Doch er war stets ein gläubiger Mensch gewesen, ein frommer Moslem, der den fünf Säulen gefolgt war, den fünf Pflichten, denen sich alle Anhänger des Islam unterwarfen. Deshalb glaubte er an Allah und an Mohammed und an Engel, und ganz besonders glaubte er an die Hölle. Er war dem Bösen Aug in Aug begegnet und hatte gesehen, was der Teufel anrichten konnte. Und was er nun um sich her auf diesem Schiff sah, war die Manifestation des Bösen.

Der Mann streckte langsam die Hand nach Kemal aus, nach der Karte, die er unter dem Arm trug. Kemal reichte sie ihm und beobachtete, wie der Mann sie auseinanderrollte und auf eine Stelle auf der Karte zeigte, an die der Schatz zurückgebracht werden musste.

Wir beluden unser Schiff und schafften das Gold und die Juwelen in die drei größten Lagerräume unserer drei Führungsschiffe. Wir haben eine Mannschaft von hundert Mann ausgewählt und eine Route geplant, die durch den Indischen Ozean hinauf in den Golf von Bengalen führt. Von dort aus werden wir flussaufwärts in unbekannte Gefilde segeln und über Land weiterreisen mit dem spirituellen Mann als unserem Führer, hinauf auf die höchsten Höhen der Erde – mit der Absicht, dem Teufel den Schatz persönlich zurückzubringen.

Alle anderen Karten, die wir auf dem Schiff gefunden hatten, übergab Kemal seinem Neffen Piri und erteilte ihm den Auftrag, den Rest der Flotte um das afrikanische Sturmkap hinauf ins Mittelmeer und heim nach Istanbul zu segeln.

Michael saß da, ließ die Worte des osmanischen Kapitäns auf sich wirken und versuchte zu verstehen, wo Piri das Gros seiner Informationen für den östlichen Teil seiner Karte bezogen hatte. Obwohl die Mär vom Schatz und seinem Fluch sicherlich die Herzen vieler Menschen zu Eis gefrieren ließ, konnte Michael nicht begreifen, weshalb Piri beschlossen hatte, seine Karte wegen der Ängste eines einzelnen Korsaren in zwei Teile zu zerreißen.

Dann aber las Michael die letzte der übersetzten Notizen in dem Papierstapel. Sie war kurz, an Piri adressiert und mit der Anmerkung versehen, dass sie nach vierzehnmonatiger Seereise von dem Korsaren Hadrid Lovlais überbracht worden war, der zwei Tage später starb.

24. September 1513

Piri,

ich schicke dir diesen Schlangenstab, von dem wir jetzt wissen, dass er der Schlüssel zur Ewigen Nacht ist, im Auftrag deines Onkels Kemal, der dich anfleht, ihn ebenso zu verstecken wie die Seekarten, die von dem chinesischen Schiff stammen. Wir geben keine Erklärung ab über das, was wir hier vorgefunden haben, aber du musst wissen, dass die gesamte Mannschaft – außer mir, Hadrid und drei anderen, darunter Kemal – ums Leben gekommen ist.

Die Menschen sind noch nicht so weit, als dass sie die Wahrheiten erfahren dürfen, die wir gefunden haben. Männern wie uns steht es nicht zu, darüber zu entscheiden, wann die Welt das Recht auf dieses Wissen hat.

Es gibt Dinge, die nicht dazu bestimmt sind, dass man je von ihnen erfährt und die besser nie gefunden werden.

Salaam,

Bora Celil

Michael ließ sich die düsteren Worte Celils in Ruhe durch den Kopf gehen – und plötzlich verstand er, warum Piri seine Karte entzweigerissen hatte. Die Bruchstücke des Geheimnisses, nach dem Iblis suchte, fügten sich zusammen wie die Teile eines Puzzles.

Michael nahm das Foto und die beiden Briefe, steckte die Büroklammer wieder fest und legte alles zurück in die Aktenmappe. Er beschloss, KC nichts über diese Dinge zu erzählen. Was er gelesen und erfahren hatte, war bedeutungslos im Hinblick auf das, was vor ihnen lag; es hatte keinen Einfluss darauf, wie sie ihre Diebstähle begingen. Tatsache war, dass es lediglich eine Ablenkung darstellen würde. Er hielt es für das Beste, Bora Celils Worte für sich zu behalten und die Warnung des Mannes zu beherzigen.

Es gibt Dinge, die nicht dazu bestimmt sind, dass man je von ihnen erfährt …