39.

Michael und Busch saßen in der Limousine und waren noch etwa vier Kilometer vom Flughafen Istanbul-Atatürk entfernt. Sie waren gleich vom Krankenhaus aus losgefahren und hatten darauf verzichtet, vorher noch einmal ins Hotel zu gehen, weil sich dort nichts mehr befand, was irgendeinen wirklichen Wert hatte. Ein Teil von Michaels Ausrüstung war im Kofferraum des Wagens verstaut, der andere Teil war ohnehin im Flugzeug versteckt. Den entscheidenden Anruf hatte Busch bereits getätigt; der Jet wurde derzeit startklar gemacht, sodass sie sich in einer knappen Stunde auf den Weg machen konnten.

Busch saß am Steuer. Michael klemmte das Navigationsgerät soeben in die dafür vorgesehene Vorrichtung am Armaturenbrett. Der Bildschirm zeigte eine Landkarte, die vom Osten der Türkei bis nach Indien reichte. Über dem Kaspischen Meer trieben zwei kleine rote Punkte.

»Michael, da werden zwei Signale von diesem Flugzeug ausgesendet, das nach Indien fliegt. Aber wenn die das Original der Karte haben und den Stab, was habe ich dann im Jet deines Vaters in den Safe gelegt?«

»Das war …«

Michaels Mobiltelefon läutete. Er schaute auf das Display, sah, dass es KC war, und klappte das Telefon auf. »Gott sei Dank.« Michael stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Wo bist du?«

»Gott hat mit dem hier nichts zu tun.« Der Mann hatte eine ausgesprochen tiefe und kräftige Stimme und sprach mit leichtem britischem Akzent. »Wie ich gehört habe, lieben Sie meine Tochter.«

Philippe Venue! Schlagartig war Michael hellwach.

»Falls ich aus irgendeinem Grund nicht ankommen sollte, wo ich ankommen will, oder falls ich aus irgendeinem Grund mein Ziel nicht erreiche, werde ich sie töten. Da ich ihr Vater bin, ist das mein Recht. Machen Sie sich also gar nicht erst die Mühe, ihr oder mir hinterherzurennen. Und hören Sie bloß nicht auf diesen Priester. Wenn Sie versuchen, mich zurückzuhalten, werde ich dafür sorgen, dass Iblis ihr die Haut abzieht.«

Dann war die Leitung tot.

***

Busch raste in den Hangar und machte eine Vollbremsung. Die Tür des Jets stand bereits offen; die Maschine wartete mit laufenden Motoren auf ihre Passagiere. Michael und Busch zogen ihre Taschen aus dem Kofferraum, rannten die Gangway hinauf und schlossen hinter sich die Kabinentür.

Michael lief sofort zum Safe, der unter der Bar versteckt war. Er gab die Zahlenkombination ein, öffnete ihn und fand, was Busch dort deponiert hatte. Er zog die Lederrolle heraus, öffnete den Verschluss und die innere Verriegelung, zog den Sultansstab heraus und untersuchte ihn, um sich zu vergewissern, dass er nicht irgendeinem Trick zum Opfer gefallen war. Als er sicher war, dass es sich um den echten Stab handelte, ließ er ihn zurück in die Rolle gleiten und deponierte diese wieder im Safe.

»Weiß KC, dass sie einen Blender hat?«, fragte Busch.

»Sie hat keine Ahnung.«

»Das ist echtes Vertrauen, was euch zwei verbindet, das muss ich zugeben.«

»Du kennst mich doch. Wenn es um solche Dinge geht, werde ich leicht zum Kontrollfreak. Es wäre viel zu gefährlich für sie geworden, wenn sie den echten Stab bei sich gehabt hätte.«

»Nur ist es jetzt noch viel gefährlicher für sie geworden, weil sie den echten Stab eben nicht bei sich hat. Wenn sie ihr Ziel erreichen, wird es ihnen auffallen, und dann …«

»Hör auf. Ich weiß, was ich angerichtet habe.«

Michael hatte allerdings nicht die Absicht preiszugeben, dass der eigentliche Grund für seine Täuschung seine Empfindungen gewesen waren, als er den Stab in den Händen gehalten hatte. Es war überwältigend gewesen; es hatte sich angefühlt, als habe der Stab seine Seele mit Verzweiflung infiziert und jeder Hoffnung beraubt. Vor dieser Erfahrung wollte er KC um jeden Preis bewahren.

Michael hatte zu Anfang vorgehabt, ein Duplikat herzustellen, um Iblis zu täuschen, aber nachdem er die Wirkung des Stabes am eigenen Leib erlebt hatte, änderte er seine Pläne.

Er hatte sich aus KCs Umarmung gelöst und sie weiterschlafen lassen – in ihrem Unterschlupf, vor ungefähr achtzehn Stunden. Um kurz nach Mitternacht war er in dem privaten Hangar des Flughafens Istanbul-Atatürk angekommen und hatte sich sofort an die Werkbank gestellt. Der Nachtwächter überließ ihm den Raum für hundert Euro und eine Kiste Raki. Michael erklärte dem Mann, dass er die Drehbank und die Presse benötige, um Teile seiner Kletterausrüstung zu reparieren, doch diese Erklärungen hätte er sich sparen können: Der Nachtwächter interessierte sich nicht im Geringsten für das, was ein reicher Amerikaner in seiner Freizeit trieb. Er war mit seiner eigenen Freizeitgestaltung beschäftigt und hatte vor, den Rest der Nacht mit seinen Brüdern in trunkener Fröhlichkeit zu verbringen.

Stephen Kelleys Jet hatte hinter Michael gestanden und gut drei Viertel des höhlenartigen Raums in Anspruch genommen. Die Maschine war nach ihrer Ablenkungs-Spritztour über das Mittelmeer am frühen Abend nach Istanbul zurückgekehrt, und der Pilot hatte sich in einem Hotel in der Nähe einquartiert, um dort auf Anweisung zu warten, wann sie abreisen würden.

Auf der Werkbank im hinteren Teil des Hangars standen vier Kartons mit Acryl-Formmasse. Busch hatte sie ein paar Stunden zuvor in einem Bastelgeschäft besorgt und zusammen mit etwas Holz, schnell trocknendem Harz und anderem Zubehör, das auf Michaels Einkaufsliste gestanden hatte, in den Hangar gebracht.

Michael baute die Gießform aus Sperrholz; sie war nichts weiter als ein mit Scharnieren versehener Kasten, neunzig mal sechzig mal dreißig Zentimeter groß, dessen Vernahtungen mit einer Klebstoffmischung gesichert wurden, um ihn luft- und wasserdicht zu machen.

Michael mischte die Formmasse aus Acryl an, goss sie in den Kasten und füllte ihn etwa zur Hälfte damit.

Er öffnete die lederne Transportrolle und zog den mit Juwelen besetzten Stab heraus. Er legte ihn auf den Tisch und fotografierte ihn aus jedem nur denkbaren Winkel, drehte und wendete ihn immer wieder und schenkte den beiden Schlangenköpfen ganz besondere Aufmerksamkeit.

Und dann fing es plötzlich an. Michael fühlte sich auf einmal elend. Ihm wurde übel und schwindlig. Mit einem Mal sah er keinen Sinn mehr darin, weiterzumachen. Pessimismus machte sich in ihm breit – ein Gefühl, das ihm sagte, dass er scheitern würde. So etwas hatte er noch nie erlebt. Er verspürte die Gewissheit, dass jeder sterben würde, den er liebte, und es gab nichts, was er tun konnte, um dies zu verhindern.

Mir größter Anstrengung, ungeachtet seiner düsteren Empfindungen, legte er den Stab in die Formmasse in dem Kasten und schloss den Deckel. Schlagartig wurden die Empfindungen schwächer. Für einen kurzen Moment fürchtete er, die Stange sende irgendeine Art radioaktiver Strahlung aus, aber wenn dem so gewesen wäre, hätten er und KC es vorher schon gespürt, als sie den Stab gestohlen hatte, da die Transportrolle aus Leder und Metall keine tödliche Strahlung, welcher Art auch immer, hätte abhalten können.

Er wusste nicht, was die Gefühle auslöste, aber er hatte keinen Zweifel, dass der antike Kunstgegenstand dafür verantwortlich war. Er ließ sich jedoch nicht zu irgendwelchen Spekulationen hinreißen – das hätte ihn nur abgelenkt –, sondern richtete seine gesamte Aufmerksamkeit weiter auf das, was er gerade baute. Er nahm sich vor, die seltsame Wirkung, die er verspürte, wenn er unmittelbaren Kontakt zum Stab hatte, für sich zu behalten. Und er beschloss, vor Morgengrauen zwei Repliken herzustellen.

Michael ließ fünf Minuten verstreichen, dann öffnete er den Kasten. Er pinselte Babyöl auf die inzwischen hart gewordene halbe Gussform, sodass er die Form später leicht herausziehen konnte, sobald sie fest geworden war. Dann mischte er weitere Acrylmasse an, goss sie über die freigelegte Hälfte des Stabes und schloss den Kasten.

Michaels Adoptivvater – Alec St. Pierre, der Mann, der ihn großgezogen hatte, – war ein erfahrener und fähiger Handwerker, ein Mann, der an allem herumtüftelte und Dinge selbst baute, angefangen von Standuhren und Autos bis hin zu Möbelstücken und elektronischen Geräten. Michael hatte sehr viel von ihm gelernt und hatte eine Leidenschaft dafür entwickelt, Dinge von Grund auf neu zu schaffen, sozusagen aus dem Nichts ein Etwas zu machen. Es war eine Kunst, die sich in seiner kriminellen Vergangenheit als ungemein hilfreich erwiesen hatte.

Obwohl Alec St. Pierre schon lange tot war, dachte Michael immer noch gern und voller Liebe an den Vater zurück, der ihn großgezogen hatte – ein Gefühl, das sich nicht verändert hatte, seit er eine Beziehung zu seinem leiblichen Vater aufgebaut hatte, Stephen Kelley, dem Mann, dem der Jet gehörte, der im Hangar stand, und der ihm die Geschichten über seine Herkunft und seine frühe Kindheit erzählt hatte, über seine leibliche Mutter und darüber, wie sie gewesen war, bevor sie an den Folgen seiner Geburt gestorben war. Michael hatte den Vater verloren, der ihn aufgezogen hatte, hielt die Erinnerung an ihn jedoch in Ehren und hatte zudem das Privileg, sich mit seinem tatsächlichen Vater angefreundet zu haben, dessen Blut in seinen Adern floss.

Michael klappte den Deckel des Holzkastens auf und blickte auf einen schwarzen Brocken Gummi. Behutsam trennte er die zwei Hälften der Form voneinander, die zusammen eine perfekte Replik des Stabes waren. Michael nahm das Original heraus und steckte es rasch zurück in die lederne Transportrolle, denn er wollte nicht, dass ihn wieder diese schrecklichen Gefühle überkamen.

Er zog die beiden Hälften der harten, gummiartigen Masse aus der Gussform, nahm sein Messer und schnitzte in das untere Ende, an den Schwanzstücken der ineinander verschlungenen Schlangen, einen Schlitz, in den er ein dünnes Kupferrohr schob.

Dann presste er die beiden Hälften gegeneinander und klebte sie mit Klebeband zusammen. Er schnitzte eine Einkerbung in seinen Holzkasten und legte die Form hinein, wobei die Kupferröhrchen durch die Einkerbung aus dem Kasten ragten. Er nahm eine Tube mit Harz und füllte das Harz in das Kupferrohr, drückte den gesamten Tubeninhalt in die Form, und machte mit fünf weiteren Tuben das Gleiche, bis die geleeartige Masse oben an der Spitze herausfloss.

Michael stellte den Kasten zur Seite, schnappte sich seinen Fotoapparat und stieg ins Flugzeug. Er ging zu dem kleinen Konferenztisch, transferierte seine Bilddateien auf seinen Computer, druckte die Fotos des Stabes anschließend aus und studierte sie eingehend. Dann ging er zur Bar, hockte sich davor und öffnete den Safe. Er zog einen schwarzen Samtbeutel heraus und steckte ihn in seine Hosentasche. Anschließend schloss er den Safe wieder und ging zurück zur Werkbank.

Michael öffnete den Kasten, löste die Gummiform und zog das Harzduplikat heraus. Es war dunkelbraun; von der Farbe her sah es haargenau so aus wie das Original. Michael drehte es in seiner Hand und lächelte: Das schnell trocknende Harz war ebenso stabil wie Metall.

Michael band die zwei Hälften der Gießform wieder zusammen. Er drückte weiteres Harz in den Kopfteil der Form und ging zurück zur Werkbank. Dort machte er sich daran, das Duplikat abzuschleifen, die scharfen Kanten zu beseitigen. Mit dem Handschleifgerät entfernte Michael die Erhöhungen, die den Stellen entsprachen, an denen das Original mit den Juwelen besetzt war. An den Augen schliff er so lange, bis sie nur noch Löcher waren; die Reißzähne schliff er messerscharf. Dann nahm er einen Bohrer und versah die Form auf ihrer gesamten Länge mit zehn Löchern.

Mit geschickter Hand bemalte Michael die Schlangenkörper, bis sie ungefähr so aussahen wie die beiden Schlangen, die sich am Original an der Stange emporwanden. Dabei setzte er die Farbakzente so, dass die Schlangenkörper sich von der Stange abhoben, um die sie sich wanden. Er war nicht so sehr darauf bedacht, ein exaktes Duplikat herzustellen, als vielmehr ein authentisches Kunstwerk, das für einen Moment keinen Verdacht aufkommen ließ.

Aus dem Samtbeutel zog Michael zwei kunstvoll gearbeitete Halsketten, beide mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Diese Beutestücke, die aus einem Einbruch stammten, der viele Jahre zurücklag, konnten jetzt endlich nutzbringend zum Einsatz gebracht werden.

Michael nahm die Halsketten auseinander und klebte die Edelsteine in die Löcher, die er entlang der Stange gebohrt hatte. Er legte vier kleine Rubine in die Augenhöhlen und nickte zufrieden, als er sah, wie sehr seine Nachahmung dem Original ähnelte. Wieder griff er in den Samtbeutel und zog zwei Silbergabeln heraus. Vorsichtig sägte er die Zinken von der Gabel und klemmte die erste in einen Schraubstock. Mit einem Metallschleifgerät schliff Michael die Zinke zu einem scharfen Reißzahn und wiederholte diesen Vorgang mit den anderen Zinken, bis er vier perfekte Reißzähne besaß. Er rieb eine Mischung aus schwarzer Farbe und Kalk darauf, bis das Material wie angelaufenes Silber aussah, was den Zähnen ein antikes Aussehen verlieh. Er bohrte vier Löcher, klebte die Zähne in die Mäuler der Schlangen, hielt den Stab hoch und lächelte. Was er gebastelt hatte, hätte sogar Sultan Selim II. täuschen können, doch etwas anderes gereichte Michael sogar noch mehr zum Vorteil: Niemand wusste genau, wie der Stab aussah, nur er und KC. Er war nie in einem Museum ausgestellt gewesen, nie detailliert gezeichnet oder gemalt worden. Er war ein Gegenstand, um den sich nur Mythen rankten, und somit konnte die Replik, die Michael St. Pierre zusammengebastelt hatte, jeden täuschen.

Michael öffnete die Gussform und zog den zweiten Schlangenkopf heraus, der ein genaues Duplikat des ersten war, der inzwischen fertig vor ihm lag. Er wiederholte den gesamten Prozess des Schleifens und Bemalens und schuf eine zweite Replik mit Juwelenaugen und Silberzähnen. Er befestigte den Kopf auf einer Holzstange, umwickelte ihn mit Luftpolsterfolie und steckte ihn in eine lederne Transportrolle.

Als er KC am Morgen wiedersah, hatte Michael ihr die perfekte Replik als das Original ausgehändigt. Als er sicher wusste, dass ihr Plan aufgegangen war und sie den Originalstab nicht würden hergeben müssen, hatte er Busch losgeschickt mit dem Auftrag, das Original in den Safe des Jets zu legen. Michael zeigte KC die Holzstange mit dem Imitationskopf, die sie benutzen würde, um Iblis zu täuschen. Er war zuversichtlich, dass Iblis nicht in die Röhre hineinschauen würde, weil er es nicht riskieren konnte, den Stab an einem so öffentlichen Ort wie dem Vorplatz der Blauen Moschee herauszunehmen. Seine Rechnung ging auf: Er hatte Iblis und KC getäuscht. Aber jetzt, achtzehn Stunden später, als er wieder im Jet seines Vaters saß, der noch immer im Hangar stand, verfluchte er sich für seine Cleverness, denn es konnte gut sein, dass KC für seinen Betrug nun mit dem Leben bezahlen musste.

»Paul«, wandte Michael sich an seinen Freund, »mich interessiert dieser Schatz überhaupt nicht, ebenso wenig wie dieser Ort des Friedens oder das Grauen, das sich möglicherweise darunter verbirgt. Für mich zählt nur, dass wir KC da herausholen. Wenn Iblis und Venue dahinterkommen, dass der Stab, den KC bei sich führt, eine Imitation ist …« Michael stockte, war nicht in der Lage, auszusprechen, was ihn ängstigte. »Mary ist an Krebs gestorben, und ich konnte nichts tun, um das zu verhindern. Aber KC … ich werde nicht zulassen, dass eine zweite Frau, die ich liebe, stirbt. Nicht, wenn es in meiner Macht steht, sie zu retten.«