60.

Gianni kam als Erster die steinerne Treppe hinunter, dicht gefolgt von Karl, dem zwanzigjährigen Anfänger. Bendi und Thut, die Brüder, kamen als Nächste. Ihnen folgte Venue, der daherstolzierte wie ein siegreicher König, der ein neu erobertes Reich inspizieren wollte.

Sie betraten die Höhle, in der es gespenstisch dunkel war. Nur zwei Fackeln brannten, und die hingen fünfzig Meter weit weg. Wo der tunnelartige Gang zehn Minuten zuvor im Fackelfeuer erglüht war, tanzten jetzt zwischen den Stalaktiten und Stalagmiten dunkle Schatten, als huschten Dämonen umher. Während die Wachhunde sich bei dem höllischen Anblick sichtlich verspannten, zeigte Venue sich kein bisschen beeindruckt. Er fühlte sich wie zu Hause.

»Wo ist Michael?«, fragte er und sah sich um.

»Wo ist Silviu?«, fragte Gianni, der sich um seinen Freund sorgte.

Alle ließen suchend den Blick schweifen. Gianni und Karl flankierten Venue. »Sie müssen wieder nach oben gehen«, sagte Gianni.

»Nicht, solange der Kerl hier unten frei herumläuft«, erwiderte Venue. »Sucht ihn. Tötet ihn. Jetzt sofort.«

Jeder der vier Wachhunde, die sich um Venue scharten, war bereit, sich für ihn eine Kugel durch den Kopf jagen zu lassen, als wäre er der Präsident. Gianni ging zu der Tür aus Ebenholz. Die anderen folgten ihm wie in Formation. Gianni leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Kammer und stellte fest, dass im Innern nur eine einzige Fackel brannte. Von Michael und Silviu fehlte jede Spur.

»Ich glaube wirklich, Sie sollten oben warten, bis wir ihn gefunden haben«, sagte Gianni zu Venue.

»Wie lustig. Ich dachte eigentlich, ich hätte hier das Sagen.« Venue warf seinem Wachhund einen vernichtenden Blick zu. »Nimm einen Mann mit und durchsucht die Höhle. Zwei Männer bleiben bei mir in diesem Raum.«

Gianni verkniff sich ein neuerliches Aufbegehren und nickte Karl zu, wodurch er ihm wortlos den Befehl erteilte, ihn zu begleiten. Bendi und Thut flankierten Venue. Gemeinsam betraten sie die mit Gold gefüllte Kammer, während Gianni und Karl sich auf den Weg zu den beiden Fackeln machten, die in der Ferne brannten.

Sie schalteten ihre Taschenlampen aus, um nicht zu Zielscheiben zu werden, und teilten sich. Die Höhle war sehr groß; die vielen Kalzitsäulen und sonstigen Kalkablagerungen unterteilten den gewaltigen Raum, schufen Nischen und Vorsprünge, wo sich leicht jemand verstecken konnte. Die Temperatur betrug mindestens vierzig Grad. Der Schweiß lief Gianni über den Rücken und durchtränkte das Gurtband seiner Hose. Er hielt sein Gewehr schussbereit, während er den Blick suchend durch die Dunkelheit schweifen ließ und sich an der Wand entlang bewegte, wobei er die Stalagmiten als Deckung nutzte. Die zwei brennenden Fackeln waren jetzt nur noch etwa dreißig Meter entfernt.

Gianni bewegte sich auf sie zu und benutzte den Schein ihres tanzenden Lichts, um nach Bewegungen Ausschau zu halten, nach irgendeiner Spur von Michael. Er machte sich nicht die Mühe, nach Silviu zu suchen, denn er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er tot war. Der Rumäne war sein Freund; sie waren seit Jahren für Iblis tätig und trieben sich nicht nur beruflich gemeinsam in der Unterwelt Istanbuls herum, sondern verbrachten auch viel Freizeit miteinander, vorwiegend damit, sich zu betrinken. Gianni gelobte, auf den toten Freund anzustoßen, sobald er dessen amerikanischen Mörder ins Jenseits befördert hatte.

Jetzt waren die Fackeln noch zwanzig Meter entfernt, und von Michael fehlte noch immer jede Spur, als Gianni plötzlich im Augenwinkel etwas bemerkte. Er erstarrte. Ungefähr zehn Meter links von ihm bewegte sich etwas, halb verdeckt hinter Felsen und Kalkablagerungen.

Im nächsten Moment vernahm er ein seltsames Geräusch, wie das Stimmengewirr einer Menschenmenge in der Ferne. Es war ein Brausen in seinen Ohren, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Etwas Vergleichbares hatte er nie zuvor gehört. Er fragte sich, wo das Geräusch herkam. Schemenhaft sah Gianni einen Mann, der sich nicht weit von ihm aus den Schatten schälte. Doch er wusste, dass die Stimmen unmöglich von diesem einen Mann herrühren konnten.

Der Mann blieb stehen. Gianni hob sein Gewehr. Die Stimmen wurden lauter. Er spürte die Furcht, die sich seiner bemächtigte, spürte eine grauenvolle Angst vor der Dunkelheit, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte. Damals hatte diese Angst ihn der Fähigkeit beraubt, nüchtern zu denken, sodass er in seiner Panik irgendwelche Dinge gesehen hatte.

Er erinnerte sich, im Alter von zehn Jahren wunderschöne Tiere in den bauschigen Wolken gesehen zu haben, die über den blauen Himmel zogen, doch wenn er abends im Bett lag, kehrte seine Fantasie das Oberste zuunterst. Aus den Tieren wurden im Dunkel der Nacht düstere Kreaturen, vor denen er sich fürchtete: Monster und Hyänen, Dämonen und Teufel. Alle schienen sie in den Schatten zu lauern und nur darauf zu warten, ihn zu packen und aus seinem Bett zu reißen. Seine Nächte waren von Albträumen erfüllt gewesen, die erst die Logik besiegt hatte, die mit dem Erwachsenwerden einherging.

Aber jetzt, als er plötzlich diese Stimmen hörte, fühlte er sich wieder wie ein Junge, und seine Ängste wurden neu entfacht – mit dem Unterschied, dass das, was jetzt in der Dunkelheit lauerte, nicht seiner Fantasie entsprang.

Den Mann gab es wirklich. Es war Michael St. Pierre.

Gianni legte das Gewehr an. Er würde den Amerikaner mit einem einzigen Schuss töten und dann zur Treppe rennen, zurück in die Sicherheit.

Trotz der Dunkelheit um ihn her konnte er sehen, wie Michael um einen großen Felsblock schlich und dann stehen blieb, weil er nicht wusste, dass Giannis Waffe auf ihn gerichtet war.

Gianni hielt das Gewehr mit beiden Händen fest. Er zielte und feuerte einen einzigen Schuss ab. Das Krachen zerriss die Stille und dröhnte ihm so laut in den Ohren, dass es schmerzte. Er traf Michael genau in den Hinterkopf. Er brach an der Stelle zusammen, an der er gerade noch gestanden hatte.

Gianni rannte zu Michaels Leiche und war froh und dankbar, auf Silviu anstoßen zu können, bevor dieser Tag sich zu Ende neigte. Gianni zog seine Taschenlampe aus der Tasche und stellte sich vor den Toten. Michael lag mit dem Gesicht nach unten. Was von seinem Schädel übrig war, lag in einer Blutlache, die aussah wie ein Heiligenschein. Gianni grub die Spitze seines Stiefels unter Michaels Brust, rollte den Körper auf den Rücken … und die Stimmen wurden lauter. Seine Furcht vermischte sich mit Zorn, als er auf die Überreste von Karls Kopf starrte.

Gianni drehte sich um die eigene Achse, außer sich vor Wut über seine Dummheit und seine Paranoia. Er hatte Karl getötet! Sie waren zwar nicht befreundet gewesen, hatten aber auf der gleichen Seite gekämpft.

Gianni schaute sich um. Er stand jetzt unter einer der beiden Fackeln, und die Stimmen schienen plötzlich zu verstummen. Vielleicht spielte sein Verstand ihm aber auch nur einen weiteren Streich, weil er so unter Druck stand und nur von Blut und Tod umgeben war. Und die Stimmen waren vermutlich auf die Höhe zurückzuführen, in der sie sich befanden; wahrscheinlich vernebelte der geringere Sauerstoffgehalt der Luft ihm den Verstand.

Gianni konzentrierte sich wieder. Er würde Michael finden, und er würde ihn töten.

Und dieses Mal sah er ihn wirklich, keine Frage. Gianni erkannte sein Gesicht. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Michael kletterte gerade zwischen die Felsen neben einer Gruppe von Stalagmiten, die sich gleich hinter der zweiten Fackel befanden.

Gianni schlich an der Wand entlang. Die Hitze in der Höhle nahm immer mehr zu, je tiefer er vordrang, und machte ihm zu schaffen. Inzwischen waren es bestimmt schon über fünfzig Grad.

Wieder sah er ihn. Michael bewegte sich von ihm weg, huschte zwischen den Felsen und den Stalagmiten hin und her. Gianni schlug sämtliche Bedenken in den Wind, hielt sein Gewehr wie bei einem generalstabsmäßigen Angriff, nahm die Verfolgung auf und rannte so schnell er konnte.

Und dann stand er plötzlich in voller Größe vor ihm. Es würde ein sauberer Schuss werden, da Michael völlig ungeschützt dastand. Nirgendwo gab es Felsen, hinter denen er sich verstecken konnte; nirgendwo waren Nischen, in denen er sich verkriechen konnte. Gianni zielte, legte den Finger um den Abzug …

Auf einmal gab die Erde unter seinen Füßen nach. Bevor er schreien konnte, versank er im Boden, eingehüllt in ein Leinentuch, das ein Stück Segel war, wie er erkannte. Der Schlamm verbrühte ihm die Haut. Als er tiefer sank, teilte sich das Segel. Der Schlamm drang ihm in den Mund, versengte ihm die Kehle, verbrannte ihn von innen und von außen und kochte ihn bei lebendigem Leibe.

Michael lief zu dem Tümpel aus brodelndem Schlamm. Ein Stück des Segels war an einem Felsen hängen geblieben, doch davon abgesehen gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass es hier irgendeinen Vorfall gegeben hatte.

Gianni war spurlos verschwunden.

Michael hatte nicht gewusst, wie viele Wachhunde Venue mitbringen würde. Er hatte Munition sparen und mit möglichen Schüssen keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen. Deshalb hatte er regungslos beobachtet, wie die Männer in die Höhle gekommen waren und sich aufgeteilt hatten. Er hatte unter dem Licht der zweiten Fackel gestanden und die Dunkelheit gemieden – und den Wahnsinn, der mit Sicherheit in seinen Verstand gekrochen wäre, hätte er sich im Dunkeln versteckt.

Das Segel war perfekt gewesen. Der graue, zerrissene Stoff hatte genauso ausgesehen wie der Steinboden. Das Stück, das Michael abgeschnitten hatte, reichte exakt, um den tödlichen Tümpel aus kochend heißem Schlamm abzudecken und zu verbergen.

Michael verschwendete keine Zeit mehr. Er lief zurück zum Herz der Höhle – zu der Kammer, in der Venue sich aufhielt.

Es wurde Zeit, dem ganzen Spuk ein Ende zu machen.