13.
Busch schrubbte den Marmorboden, bis er wieder weiß war. Die vom Blut roten Badetücher stopfte er in eine Abfalltüte, die er später entsorgen wollte. Als er Simons Blut aufwischte, musste er gegen Brechreiz ankämpfen. Es fiel ihm schwer, nicht unentwegt über die Schmerzen und das Leid seines Freundes nachzudenken. Busch bekam das Bild nicht mehr aus dem Kopf; es war, als wäre er immer noch bei der Polizei und hätte mit angesehen, wie man sich auf entsetzliche Art und Weise an einem Unschuldigen vergangen hatte, wobei das Opfer einer seiner engsten Freunde war. Busch schrubbte nur noch fester, als könne er damit nicht nur das Blut auf dem Fußboden, sondern auch die Bilder in seinem Kopf beseitigen.
Doch wie es bei Busch häufig der Fall war, verwandelten seine Gefühle sich am Ende in Wut. Wer immer seinem Freund das hier angetan hatte, würde seinen Zorn zu spüren bekommen.
»Wie sind die bloß so schnell hier rausgekommen?«, fragte Michael und riss Busch aus seinen Gedanken.
»Das ist leicht«, erwiderte Busch. »Ich bin sicher, dass eine Hintertür oder irgendein Ausgang, an dem keiner guckt und keine Fragen stellt, hier höchstens ein paar Dollar kostet.«
Michael wusste, dass sie die Polizei nicht alarmieren konnten. Dann würde alles auf sie zurückfallen. Michael und KC waren Diebe, und es gab keine offiziellen Dokumente, aus denen hervorging, dass sie legal in dieses Land eingereist waren. Und wer konnte voraussagen, wie viele Alarmlichter losblinkten, wenn man Michaels Namen durch die Computersysteme von Interpol jagte?
Michael blickte hinaus auf den Balkon und auf KC, die während der letzten Viertelstunde kein Wort gesprochen hatte. Michael hatte genug von der Stille und ging nach draußen. »Du musst mir erzählen, was hier vorgeht.«
KC blickte ihn an, blieb aber stumm.
»Simon hat lediglich vom Diebstahl einer Karte gesprochen«, fuhr Michael fort. »Keiner von euch beiden hat irgendeinen Stab erwähnt. Steht sonst noch etwas auf eurer Einkaufsliste?«
»Ich weiß nicht, was für ein Stab das ist«, sagte KC. Dabei blickte sie noch immer auf die Lichter, von der die gewaltige Kuppel der Hagia Sophia angestrahlt wurde. »Simon hat gesagt, er würde ihn selbst holen.«
Michael konnte es nicht nur in ihren Augen lesen, er konnte es auch in ihrer Stimme hören: Sie erzählte ihm nicht die ganze Geschichte. »KC, ich muss wissen, was ihr vorhattet, und ich muss alles wissen.«
»Ich habe dir alles erzählt«, gab KC zurück.
Michael versuchte sich zusammenzunehmen, aber seine Gefühle waren stärker. »Was zum Teufel ist der Merkurstab? Ihr habt zwei Diebstähle geplant. Hattest du vor, mir das je zu erzählen? Verdammt, KC, was ist sonst noch alles gelogen?«
»Gelogen?« Ruckartig drehte KC sich zu Michael um und sah ihn mit großen Augen an. »Gelogen? Man hat meine Schwester entführt.«
»Das stimmt, und wenn du nicht langsam anfängst, mir die Wahrheit zu sagen – die ganze Wahrheit –, dürfte es schwierig werden, sie und Simon zurückzubekommen.«
»Ich will deine Hilfe nicht.«
»Das interessiert mich nicht.« Michael blickte sie wütend an.
»Halt dich da raus.« KC sprang auf und schob sich an ihm vorbei.
»Da hast du keine Chance.« Michael blieb ihr auf den Fersen.
KC stapfte durchs Wohnzimmer, riss die Tür auf und warf sie hinter sich ins Schloss.
Busch sah Michael an. »Das hast du toll gemacht.«
»Ach, rutsch mir den Buckel runter.«
***
Busch betrat seine Suite im Four Seasons Hotel und ging hinaus auf den Balkon, wo KC in einem Korbstuhl saß und Löcher in die Luft starrte. Ihr Blick war voller Schmerz.
»Ich sehe, dass es außer Michael noch jemanden gibt, der weiß, wie man ohne Schlüssel in fremde Zimmer eindringt.«
KC starrte weiter auf das Wasser; Buschs Versuch, die Situation aufzulockern, ignorierte sie.
»KC.« Busch hockte sich vor sie auf den Boden. »Michael arbeitet nicht gegen dich. Er hat alles, was du durchmachst, bereits hinter sich. Er weiß, wie es ist, wenn man das Leben eines anderen Menschen in der Hand hält.«
»Ich werde allein damit fertig.«
»Wirklich?« Buschs tiefe Stimme war so leise, dass sie wie ein Flüstern klang. »Kannst du dich auf das Wesentliche konzentrieren, wenn du weißt, dass das Leben des Menschen, den du liebst, von deinem Erfolg abhängt? Ich bin sicher, dass du auf deinem Gebiet ein Ass bist, aber du kannst das allein nicht schaffen. Du kannst mit Michael Schluss machen, aber verzichte nicht auf seine Hilfe.«
»Das Ganze ist meine Schuld«, sagte KC unvermittelt. »Und ich kann es auch wieder hinbiegen.«
»Vor ein paar Jahren kannte ich jemanden, dessen Frau im Sterben lag. Er hätte alles getan, um sie zu retten.« Busch hielt einen Moment inne. »Er hat sich allein aufgemacht und es versucht«, fuhr er dann fort. »Und weißt du, so sehr er sie retten wollte, hat er damit alles nur schlimmer gemacht – viel schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Er war anfangs nicht bereit, von irgendjemandem Hilfe anzunehmen. Ich musste ihm meine Hilfe im wahrsten Sinne des Wortes aufzwingen. Und jetzt versucht der gleiche Knabe, nämlich Michael, dir zu helfen. Gemeinsam können wir sie zurückbekommen und die Dinge in Ordnung bringen.« Busch blickte aufs Meer hinaus, erstaunt über seine eigenen Worte. Er versuchte tatsächlich, einen Menschen zu überreden, ein Verbrechen zu begehen – er, ein ehemaliger Polizist. Doch er wusste, was auf dem Spiel stand, denn er kannte die Seelenqualen und die Schuldgefühle, die KC plagten. »Vertraue mir. Und vertraue Michael.«
Endlich schaute sie Busch an. In den Augenwinkeln sah sie, dass Michael in diesem Moment die Tür öffnete und aus dem Flur in die Suite kam. Er trug Simons Aktentasche, die fast aus den Nähten platzte, unter dem Arm.
Der Augenblick zog sich dahin. Michael hielt die Tasche ganz fest und betrat das Wohnzimmer. Busch ließ den Blick zwischen den beiden hin und her wandern, wartete, hoffte …
Schließlich stand KC auf.
»Es ist eine Stange, ungefähr sechzig Zentimeter lang«, sagte sie. »Sie wird von zwei Schlangen umwunden, die einander die Köpfe zuwenden und die Zähne fletschen. Die Augen sind aus Rubinen, die Zähne aus Silber. In Simons Aktentasche gibt es eine Zeichnung.«
Busch stand im Türrahmen des Balkons und zwinkerte Michael mit wissender Miene zu.
Michael öffnete Simons Tasche, zog Papiere heraus und legte sie auf dem großen Sofatisch aus. KC setzte sich vor Michael aufs Sofa. Sie wechselten einen kurzen Blick, mit dem der Waffenstillstand ausgerufen wurde. Dann blätterte KC die Unterlagen durch und zog die Reproduktion eines Gemäldes hervor, das einen schwergewichtigen Mann zeigte, dessen rundes Gesicht fast gänzlich unter einem schwarzen Bart verschwand und der über einem weißen, mit Gold abgesetzten Hemd ein langes, tiefrotes und blaues Ornat trug. Auf seinem Kopf thronte ein riesiger weißer Turban, in dessen Mitte ein Diamant prangte; die Enden der grünen Quaste bestanden aus Perlen. Er fläzte sich auf einem Meer aus grünen Kissen. Vor ihm stand eine kleine Heerschar von Untertanen. In der rechten Hand hielt er einen Stab, während er die Linke erhoben hielt und auf seine Leute wies.
Dem Gemälde lag ein Foto bei, das eine Vergrößerung des Stabes und damit die Detailarbeit zeigte, eine mit Juwelen besetzte dunkle Stange mit zwei Schlangen, die sich um die Stange wanden und deren Körper mit Edelsteinen verziert waren. Am oberen Ende des Stabes wandten die beiden Schlangen einander die Köpfe zu, mit weit aufgerissenen Mäulern, bereit zuzubeißen. Ihre tödlichen Silberzähne funkelten.
Michael hatte diesen Stab schon gesehen. Mehr als einmal.
»Kommt er dir bekannt vor?«, fragte KC.
Michael nickte.
»Der Äskulapstab sieht ähnlich aus«, sagte KC. »Äskulap war der Sohn des Apollo und Gott der Heilkunst. Sein Stab wurde das Symbol der WHO und ziert die Türen der meisten Krankenwagen.«
Michael nahm das Foto in die Hand und betrachtete den Stab genauer.
»Der hier ähnelt mehr dem Hermesstab«, fuhr KC fort. »Einem alten Symbol für den Handel, das der griechische Gott Hermes mit sich führte. Er war der Bote zwischen Göttern und Menschen, und er geleitete die Toten ins Totenreich. Außerdem war er Schutzpatron der Händler, Lügner und Diebe. In der griechischen Mythologie war er neben Hades und Persephone der einzige Gott, der ungehindert in die Unterwelt hinein- und wieder herauskonnte.«
»Hör auf mit dem mystischen Hokuspokus«, sagte Busch ungehalten.
KC fuhr unbeirrt fort: »Der Hermesstab wird mit zwei ineinander verschlungenen Schlangen dargestellt, die sich an der Stange emporwinden, an der im oberen Teil, hinter den beiden Schlangenköpfen, zwei Flügel befestigt sind. Seltsamerweise benutzen viele medizinische Organisationen, der US-Gesundheitsminister und die Sanitätstruppen der US-Armee und der Marine den Hermesstab fälschlicherweise als ihr Symbol, ohne sich des Widerspruchs bewusst zu sein.«
»Ist ja mal wieder typisch«, meinte Busch. »Du willst hier aber nicht behaupten, dass diese Stange von irgendeinem Mythos umrankt wird, oder?«
KC schüttelte den Kopf. »Nein, es ist ein Artefakt, der nach dem Hermesstab gestaltet wurde. Er ist unbezahlbar.«
»Welche Bedeutung er hat, interessiert mich nicht«, sagte Michael. »Wo ist dieser Stab?«
Wieder wühlte KC in den Papieren und zog eine uralte Skizze heraus, die einen Mann zeigte, der ganz anders aussah, als Michael erwartet hätte. Er war groß, hatte einen kurz geschnittenen Bart und war offensichtlich osteuropäischer Herkunft. Michael hatte einen Menschen mit dunklerer Hautfarbe erwartet, wie beispielsweise Araber oder Nordafrikaner sie besaßen.
»Sokollu Mehmet Pasha war Großwesir, ein Mann, der über sehr viel Macht verfügte und hervorragende Beziehungen hatte. Er war ein Serbe, den man als Kind seiner Familie entrissen hatte, wie es unter den Osmanischen Sultanen in vielen der christlichen Länder üblich war, die sie erobert hatten. Er machte eine steile Karriere beim Militär. Bevor er Großwesir wurde, hatte er nicht nur als Heerführer der Reichswachen gedient, sondern auch als Kapudan-Pascha der türkischen Flotte. Dabei wurde er ein enger Freund von Piri Reis, der ebenfalls Admiral der Osmanischen Flotte war – ›Reis‹ bedeutet auf Türkisch ›Admiral‹.
Bevor Piri Reis im Jahre 1555 in Ägypten öffentlich enthauptet wurde, vertraute er Mehmet zwei Gegenstände an: die zweite Hälfte der Weltkarte, die er 1513 angefertigt hatte, und den Stab, den er Jahre zuvor von seinem Onkel Kemal bekommen hatte, der ihm sagte, er solle seiner Eingebung folgen und selbst entscheiden, was aus den beiden Stücken werden sollte und ob die Menschheit wert sei zu erfahren, welche Bedeutung sie haben.
Der Stab war das einzige Stück, das Kemal von einem Schatz behalten hatte, den er und seine Männer auf einem Schiff gefunden hatten, das sie Jahre zuvor im Indischen Ozean kaperten. Mehmet besaß große Besitztümer und bewahrte den Stab und Piris Karte getrennt an zwei verschiedenen Orten auf. Er machte sich viele Jahre intensive Gedanken über das weitere Schicksal der beiden Gegenstände.
Einige Jahre später bestieg Selim II. den Thron. Er war der Sohn von Süleyman dem Prächtigen, einem der bedeutendsten Herrscher des sechzehnten Jahrhunderts. Es war Süleyman, unter dessen Herrschaft das Osmanische Reich zum führenden Staatsgebilde der Welt wurde und sein Goldenes Zeitalter erlebte. Unter seiner Führung eroberten die Armeen Rhodos, Belgrad, weite Teile des Mittleren Ostens und Nordafrika. Die Osmanischen Flotten beherrschten die Weltmeere. Unter Admiral Piri kontrollierten sie das Mittelmeer, das Rote Meer und den Persischen Golf. Süleyman galt als hervorragender Staatsmann und Militärstratege und als gerechter Herrscher.
Sein Sohn Selim II. war ganz anders. Er hatte kein Interesse am Militär und überließ den Großteil seiner Regierungsgeschäfte seinem Großwesir Mehmet, damit er Zeit hatte, sich seinen dekadenten Leidenschaften hinzugeben. Selim war Sultan von 1566 bis 1574. Er war in keiner Hinsicht wie sein Vater. Sein Vater war ein guter Mensch gewesen und hatte viel für sein Reich und sein Volk getan. Selim jedoch hielt sich immer nur im Harem auf, war ständig betrunken und verschwendete keinen Gedanken an seine Untertanen, das Reich oder die Welt. Er war ein egoistischer Säufer, der sich aufführte wie ein ägyptischer Pharao, obwohl er sich weigerte, die Uräusschlange der Pharaonen zu tragen, die sogenannte Stirnschlange, eine sich emporreckende, Gift sprühende Kobra. Bei einem Besuch in Mehmets Haus sah Selim den Stab und ließ ihn mitgehen, weil er fasziniert war von der aufwendigen Schlangendarstellung. Er trug den Hermesstab wie ein Zepter als Symbol für seine Macht und hielt jedem die zwei Schlangenköpfe als Warnung unter die Nase.
Mehmet galt als einer der größten Wesire, die das Reich je hervorgebracht hat. Er war unter Süleyman Großwesir gewesen und behielt das Amt unter Selim. Er regierte das Reich genau so weiter, wie Süleyman es getan hatte, und galt als brillanter Kopf auf den Gebieten der Politik und der Kriegführung – ein Mann, der vorausdenken konnte, viel weiter als andere. Was den Hermesstab anging, musste er das Versprechen halten, das er seinem Freund Piri gegeben hatte. Er wusste, dass er ihn zurückbekommen und entsorgen konnte, er musste lediglich auf den rechten Augenblick warten.«
»Welche Bedeutung hat der Stab denn für Simon? Warum will er ihn so unbedingt haben?«, fragte Busch.
»Das hat er mir nie gesagt.«
»Das interessiert jetzt auch nicht«, warf Michael ein. »Was ist mit dem Stab passiert?«
»Mehmet hat mehr als einmal versucht, den Sultan dazu zu bringen, sich davon zu trennen. Er hat ihm Geschichten erzählt, nach denen der Stab mit einem Fluch behaftet war und Schmerz und Leid brachte und dass es unter seiner Würde sei, wie ein geckenhafter westeuropäischer Herrscher ein Zepter zu schwingen. Aber der ständig betrunkene Sultan hat seinem obersten Berater kaum zugehört. Mehmets Worte stießen auf taube Ohren.
Als Selim starb, wurde Mehmet bewusst, dass er mit Hilfe des Sultans in der Lage war, Piris Wunsch zu erfüllen. Als Großwesir war Mehmet verantwortlich für das Begräbnis des Sultans, und so ließ er ein Grabmal für den Sultan errichten, an dem drei Jahre lang gebaut wurde.«
»Willst du damit sagen …« Busch hoffte, dass er nicht die Antwort bekam, die er fürchtete.
»Der Stab wurde zusammen mit dem Leichnam von Sultan Selim II. begraben.«
»Moment mal. Damit ich es richtig verstehe: Du erzählst hier diese lange Geschichte, nur um mir zu sagen, dass wir ein Grab plündern müssen?«, fragte Busch. »Ich weiß nicht, wie ihr dazu steht, aber ich habe Probleme, den Frieden der Toten zu stören.«
»Wo ist das Grab?«, fragte Michael, ohne auf Buschs Einwand einzugehen.
»Es ist ein Grabmal«, erwiderte KC, stand auf, ging zur Tür des Hotelzimmers, blieb stehen und drehte sich noch einmal um. »Was ist, kommt ihr?«
Michael und Busch folgten ihr nach draußen. Sie gingen zu KCs Suite und folgten ihr durchs Wohnzimmer auf den Balkon.
Die drei blickten auf die Altstadt, die sich vor ihnen ausbreitete, auf den Topkapi-Palast und die angrenzenden Stadtbezirke, in denen sich die Einheimischen und die Touristen tummelten. Schließlich schauten sie auf das gewaltige Gebäude zu ihrer Linken, das aus dem byzantinischen Zeitalter stammte. Seine zentrale Kuppel erhob sich fünfzig Meter in den Himmel und war im oberen Teil durchzogen von Hunderten bogenförmiger Fenster. Drei kleinere Kuppeln standen davor. Auf den ersten Blick sah das Ganze wie eine riesige Kirche aus, aber die vier jeweils sechzig Meter hohen Minarette an den vier Ecken ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Moschee handelte – eine der großartigsten der Welt.
»Willst du mich veräppeln?«, schimpfte Busch. »Das Grabmal ist da drin?«
»Nein.« KC zeigte auf die drei kleinen Kuppelgebäude, die südöstlich vom Hauptbau standen. »Selims Grabmal ist in einem separaten Gebäude untergebracht – dem in der Mitte.«