23.
Iblis saß im Gewürzbasar in einem Straßencafé, dem Honessa, und nippte an seinem Morgenkaffee.
Einer seiner Männer, Jahara, hatte ihm soeben berichtet, er habe gesehen, dass der Business Jet in den Morgenhimmel aufgestiegen sei und KCs männlichen Begleiter aus Istanbul herausbefördert habe. Der Boeing Business Jet war der Cadillac der Privatflugzeuge; Iblis hatte in Erwägung gezogen, sich selbst eine solche Maschine zuzulegen, hatte dann aber darauf verzichtet. Warum sollte er das Geld verschwenden, wenn ihm Venues Jet 365 Tage im Jahr jederzeit zur Verfügung stand?
Iblis ignorierte Jahara und beobachtete die Touristen, die auf den Bürgersteigen an ihm vorüberzogen, wobei er den Blick suchend über die Menge schweifen ließ. Schließlich entdeckte er einen älteren Mann und entließ Jahara mit einem knappen Handzeichen.
Der ältere Mann trug einen zerknitterten Anzug mit Hahnentrittmuster, hatte sich das spärliche graue Haar nach hinten gekämmt und an den übergroßen Schädel geklatscht. Seine Schultern waren nach vorn gebeugt, als würden die Jahre schwer auf ihm lasten. Mit einer Hand stützte der Mann sich auf einen knorrigen Kieferngehstock, um das Gleichgewicht zu halten. In der anderen Hand trug er einen schwarzen Aktenkoffer aus Leder.
Ray Jaspers war Auslandsamerikaner und vor vierzig Jahren aus Chicago in diese Stadt gekommen. Seine Anwaltskanzlei mit Sitz in Den Haag arbeitete jetzt seit über zwanzig Jahren für Venue. Trotz seines gebrechlichen Erscheinungsbildes war Ray Jaspers der König der Informationsbeschaffung. Er war auf Industriespionage spezialisiert. Er kannte jede kränkelnde Firma, wusste, welche Finanzchefs Geld verschoben und in welchem Keller welche Leichen vergraben waren. Jaspers’ Informationen bedurften niemals einer weiteren Überprüfung, denn sie waren stets korrekt. War Iblis Venues tödliche linke Hand, so war Jaspers seine rechte, die das Zielfernrohr auf das Opfer richtete.
Jaspers erreichte Iblis’ Tisch und setzte sich, ohne dazu aufgefordert zu werden oder ein Wort zu sagen. Er stellte seinen Aktenkoffer auf die Tischplatte, öffnete ihn und zog eine dicke Akte heraus.
»Kaffee?«, bot Iblis ihm an.
»Nein, dann muss ich in spätestens fünfzehn Minuten pinkeln«, erwiderte Jaspers mit schroffer, verraucht klingender Stimme. Er sah sich um, zog sein Einstecktuch hervor und tupfte sich damit über die schweißnasse Stirn. »Liegst du im Zeitplan?«
Iblis nickte und nippte an seinem Kaffee. Es gab gewisse Spannungen zwischen ihnen beiden, die nicht zu leugnen waren.
»Ich hoffe, das stimmt.« Jaspers Worte klangen wie eine Drohung. »Venue wird morgen hier sein. Er wird langsam ungeduldig.«
»Ungeduldig ist er schon seit dem Tag seiner Zeugung«, gab Iblis zurück. Er konnte nicht verbergen, was er für Venue empfand. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.«
Jaspers schob die Akte über den Tisch.
»Das hast du aber schnell geschafft.« Iblis zog ihm die Akte unter den Fingern weg.
»Bei mir geht alles schnell. Ich glaube, du wirst die Akte interessant finden«, sagte Jaspers und erhob er sich.
»Willst du schon gehen?«, fragte Iblis.
»Nichts für ungut, aber wir zwei haben nichts zu bereden«, erwiderte Jaspers sachlich, drehte sich um und ging.
Iblis sah dem alten Mann nach, der über den Bürgersteig schlurfte, bis er aus seinem Blickwinkel verschwunden war. Dann winkte er der Kellnerin, ihm noch mehr Kaffee zu bringen, machte es sich auf dem Stuhl bequem und nahm die Akte in die Hand, um sich eingehend über Michael St. Pierre zu informieren.
***
Busch lenkte die Limousine am Großherrlichen Tor vorüber, dem Haupteingang zum Topkapi-Palast – obwohl »vorüberkriechen« die treffendere Bezeichnung gewesen wäre. Die Straßen waren verstopft von Taxen, Lieferwagen und Lastern. Hunderte von Menschen huschten umher wie Ameisen. Die einen schoben Rollwagen mit Lebensmitteln und Getränken durch den gewaltigen Torbogen oder entluden auf dem Bürgersteig Blumen und Tische, die anderen richteten auf ihren Nachrichtenfahrzeugen die Satellitenschüsseln aus. Jeder war zur Eile angetrieben. Es war, als fänden in der Stadt zeitgleich die Fußball-WM und die Olympischen Spiele statt, und man hatte nur eine Stunde Zeit, um alles dafür vorzubereiten.
Buschs Blick fiel auf die Wachleute und auf die Polizeibeamten, die den Torbogen flankierten und das Gelände im Auge behielten. Jeder, den sie durchließen, führte einen Bildausweis mit sich, der an einer Schnur um den Hals hing.
Ein Tieflader fuhr vor, und der Fahrer winkte den Polizisten zu, die ihn daraufhin durchließen. Die Ladung war unverkennbar: vier zusätzliche Sicherheitsscanner, wie man sie von Flughäfen kannte.
»Musstest du die Sache unbedingt für heute Nacht planen?«, fragte Busch, als sie endgültig im Stau festsaßen.
»Hin und wieder braucht jeder Mal eine Herausforderung«, gab Michael vom Rücksitz zur Antwort und drückte die Nase gegen das Rauchglas.
»Ist KC auch eine Herausforderung?« Michael schaltete das Automatikgetriebe des Wagens auf Parken und drehte sich um, damit er in Michaels Gesicht schauen konnte.
Michael bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Wir haben erst einmal alles auf Eis gelegt.«
Busch erwiderte nichts. Das Schweigen schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen, bis er es schließlich fragte: »Ich will ja nicht neugierig sein oder so, aber wer von euch beiden hat das beschlossen? Du oder sie?«
»Ich«, log Michael. »Es gibt im Moment wichtigere Dinge, auf die wir uns konzentrieren müssen.«
»Stimmt. Nicht, dass ich sie nicht leiden könnte, ich mag sie sogar sehr gern. Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, ob ich ihr trauen kann, aber sie ist ein prima Mädchen. Ich dachte eigentlich, ihr zwei würdet perfekt zueinander passen – nicht nur, weil ihr beide im Hinblick auf euren beruflichen Werdegang in die gleiche Scheiße gegriffen habt. Ihr harmoniert auch noch, wenn ihr euch zankt. Aber ich habe mich ja schon häufiger getäuscht. Nur du allein weißt, ob es richtig ist oder nicht.«
Busch drehte sich wieder um und zog anderthalb Meter vor, bevor er erneut zum Stehen kam. Er drehte sich zu Michael um.
»Krieg das bitte nicht in den falschen Hals, aber suchst du nach jemandem, der das Loch in deinem Leben füllen kann, das Mary hinterlassen hat? Weil es dann nämlich keine Rolle spielt, wem du begegnest oder wen du liebst. Keine Frau wird je Mary sein und diesen Riss kitten können. Dieser Schmerz wird dir auf ewig erhalten bleiben. Eine neue Liebe, wenn du sie findest, wird anders sein. Du wirst die Frau nicht mehr lieben als Mary, und du wirst sie nicht weniger lieben. Es wird anders sein. Wenn sie dir also etwas bedeutet …«
»Danke, Freud«, schnitt Michael ihm das Wort ab. »Aber es geht mir gut.«
»Du liebst sie also nicht?«
»Nein.« Michael starrte aus dem Fenster.
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen …«
***
Busch fuhr am Four Seasons Hotel vor und parkte die Limousine vor dem Haupteingang. Dann schnappte er sich eine schwarze Reisetasche aus dem Kofferraum sowie eine etwa einen Meter lange blaue Tasche. Als er den Kofferraum schloss, sah er in den Augenwinkeln Iblis, der auf der anderen Straßenseite in einem Wagen saß und das Hotel beobachtete.
Busch trug die Taschen in die Lobby, schaute dann noch einmal, um sich zu vergewissern, dass der Mann Iblis war, und sah jetzt, dass noch eine weitere Person mit ihm im Wagen saß.
Busch hatte Michael auf der anderen Seite des Stadtviertels Sultanahmet abgesetzt. In einer kleinen Wohnung, in der niemand Fragen gestellt hatte und wo er sich aufhalten konnte, bis es dunkel wurde und die Zeit kam, dass die Hektik ausbrach. Da Michael das Land nun scheinbar verlassen hatte, stand es Busch ihrer Ansicht nach frei, als KCs Assistent umherzustreifen und als Kontaktperson zu fungieren, um wichtige Dinge von Michael an sie weiterzuleiten, KCs Chauffeur zu spielen und ein Auge auf ihre Sicherheit zu halten. Da er den Topkapi-Palast nicht betrat, würde er für Iblis kein Grund zur Sorge sein.
Busch ging geradewegs auf den Fahrstuhl zu, fuhr in die vierte Etage und lief den Korridor hinunter, wo KC ihn bereits erwartete. Sie trug ein viel zu großes T-Shirt und hatte ihr Haar auf dem Kopf zusammengebunden. Busch konnte nicht anders, er musste sie einfach anstarren. Selbst ohne einen Hauch von Make-up war sie atemberaubend schön.
Sie lächelten einander an, gingen ins Zimmer und schlossen hinter sich die Tür.
KC nahm ein blaues Kleid, das auf einem Bügel an einem der Stühle hing, und hängte es in den Schrank.
»Hübsch«, sagte Busch, als er das Kleid sah. »Da macht sich jemand schick.«
»Ich hab’s unten aus der Boutique. Ich kaufe solche Sachen meistens, ohne dass ich eine Ahnung habe, wo ich sie tragen soll. Aber heute Abend …«
»Für Michael?«
»Für den Job«, verbesserte KC ihn. »Falls er meine Hilfe braucht.«
»Natürlich«, erwiderte Busch mit einem wissenden Lächeln. »Oder für den Fall, dass sich eine besondere Gelegenheit bieten sollte.«
KC wechselte das Thema. »Du siehst aus wie ein Weihnachtsmann zur Sommerzeit.«
»Echt?« Busch zog den Reißverschluss der Reisetasche auf. »Ich habe tatsächlich Geschenke mitgebracht.«
Er zog die einen Meter lange Lederröhre aus der Tasche und reichte sie KC. Was sie damit anfangen sollte, brauchte er ihr nicht zu erklären. Als Nächstes zog er ein tragbares Funkgerät sowie einen winzigen Kopfhörer mit eingebautem Mikrofon hervor. »Kanal eins ist die Hauptleitung für euch beide. Ich bin auf Kanal zwei.«
KC nahm das Funkgerät und legte es auf den Tisch. »Wie geht es ihm?«
»Michael?«, vergewisserte sich Busch. »Dem geht es gut. Und wie geht’s dir?«
»Gut«, erwiderte KC. »Wieso?«
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen. Ich habe gehört, dass ihr zwei Hübschen alles auf Eis gelegt habt.«
»Ja«, sagte KC leise.
»Hör mal, ich weiß, dass Michael vielleicht das eine oder andere gesagt hat und dass er das Ganze langsam angehen wollte. Das bedeutet aber nicht, dass er nichts empfindet.«
»Hat er das gesagt?«, fragte KC überrascht.
»Ich weiß, dass es wehtut, wenn in einer Beziehung Probleme auftauchen.«
»Hat er gesagt, er hätte mit mir Schluss gemacht?« KC wurde wütend.
»Hat er das denn nicht?«, fragte Busch, dem plötzlich bewusst wurde, dass sein Freund gelogen hatte und das Ganze KCs Entscheidung gewesen war.
»Wir müssen meine Schwester zurückbekommen. Dagegen ist alles andere belanglos.« KCs Worte hörten sich an, als versuche sie, sich selbst davon zu überzeugen.
»Das kann ich verstehen.« Busch wandte sich wieder dem Inhalt der Reisetasche zu.
KC beugte sich vor, nahm Busch die Tasche ab, durchwühlte die Sachen selbst und zog zwei schwarze Kästchen heraus.
»Er hat gesagt, ich soll dir diese tragbaren Sensoren geben. Du kannst sie so einstellen, dass sie dir auf Kanal drei ein Signal geben, wenn jemand die Laserschranke durchbricht.«
»Ich weiß, wie die Dinger funktionieren.«
KC wühlte weiter in der Tasche, entdeckte eine Sig-Sauer-Pistole, mehrere Magazine, ein Seil, ein Messer, ein kleines Brecheisen und zwei wasserdichte Tauchlampen.
»Das ist alles so kompliziert«, seufzte KC. »Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich habe noch nie eine längere Beziehung gehabt. Michael war verheiratet. Ich könnte der Erinnerung an seine Frau nie gerecht werden.«
»Nein, das könntest du nicht«, erwiderte Busch ehrlich. »Aber wer hat behauptet, dass du das musst?«
Die Unterhaltung schlief ein. Busch wusste nicht, wie viel er sagen sollte. Er hasste es, in Beziehungen den Vermittler zu spielen; solche Dinge waren Aufgabe seiner Frau Jeannie. Sie war die Beziehungsexpertin.
KC wies auf die blaue Tasche. »Was ist damit?«
»Michael hat gesagt – ich zitiere wörtlich: ›Wenn du nicht kräftig genug bist, den Deckel des Sarkophags anzuheben, bekommst du eine kleine Hilfe.‹« Busch zog ein Blatt Papier mit einer handschriftlich abgefassten Bedienungsanleitung aus der Hosentasche und reichte es KC. »Du sollst zum Üben den Esszimmertisch nehmen, wenn das irgendeinen Sinn für dich macht.«
KC schob die Bedienungsanleitung in ihre Hosentasche.
»Was hat er sonst noch gesagt?«, fragte sie und klang dabei ein wenig wie ein Teenager.
Busch stand da, in seiner ganzen Länge von eins fünfundneunzig, blickte auf KC hinunter und fuhr sich mit der Hand durch den aschblonden Haarschopf. »KC, willst du meine unmaßgebliche Meinung hören? Dann lass nicht zu, dass er dir durch die Lappen geht. Du bedeutest ihm sehr viel, und ich weiß, dass er auch dir etwas bedeutet. Einen besseren Kerl würdest du niemals finden. Und ich glaube nicht, dass er jemals eine bessere Frau finden könnte als dich.«
KC schaute zu ihm auf, und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
Am liebsten hätte Busch sie in die Arme genommen und an sich gedrückt, hätte ihr gesagt, dass sie ihre Schwester retten würden, dass sie wieder mit Simon vereint sein würden und dass sie und Michael ihre Beziehung auf die Reihe bekommen würden, aber er wusste nicht, ob das richtig war.
Es klopfte an der Tür, was Busch die Entscheidung abnahm.
Vor lauter Verwirrung bekamen beide große Augen. Niemand wusste, dass sie hier waren.
Busch machte eine Geste, mit der er KC aufforderte, ein paar Schritte zurückzutreten, während er zur Tür ging. Er zog seine Pistole, entsicherte sie und hielt sie schussbereit in der Hand. Dann packte er mit einer flinken Bewegung den Türknauf, riss die Tür auf und zielte mit seiner Waffe auf den Kopf des Mannes.
»Sei vorsichtig«, sagte Michael und blickte dabei geradewegs in die Pistolenmündung.
»Was treibst du denn hier? Ich hätte dich umbringen können. Wenn Iblis dich sieht …«
»Keine Chance«, sagte Michael und betrat die Suite. »Ich habe einen Lieferwagenfahrer geschmiert, damit er mich in die Garage bringt. Ich bin sofort mit dem Lastenaufzug nach oben gefahren und habe aufgepasst, dass ich aus keinem Kamerawinkel zu sehen war.«
»Und was machst du hier?« KC trat in ihrem T-Shirt aus dem Esszimmerbereich am anderen Ende der Suite.
»Wir müssen alles durchgehen, um sicherzustellen, dass wir nichts Wichtiges vergessen haben.« Michael versuchte, nur ja nicht auf KCs Aufmachung zu schauen. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bekomme ich das Gefühl, als wäre unsere Vorbereitungszeit praktisch null. Deshalb könnten wir geradewegs zur Hölle fahren, wenn wir nicht aufpassen.«
»Von meiner Seite ist alles klar«, sagte KC.
»Ist das so?«, erwiderte Michael und schaute dabei auf die ungeöffnete blaue Tasche auf dem Fußboden. »Wie willst du wissen, wie es funktioniert, wenn du es noch nicht ausprobiert hast?«
»Als hätte ich dazu schon Gelegenheit gehabt«, schimpfte KC. »Busch ist gerade erst gekommen.«
Michael nickte. »Lasst uns was zu essen bestellen und das Ganze durchgehen. Sowohl deinen Job als auch meinen.«
»Ich weiß, mein Vorschlag kommt ein wenig spät«, meldete Busch sich zu Wort, »aber vielleicht sollten wir versuchen, Cindy und Simon zu finden. Der Mistkerl muss sie irgendwo hier in der Nähe gefangen halten.«
»Wieso?« KC drehte sich zu Busch um.
»Wenn wir versuchen, ihm zu folgen, würde er das merken«, sagte Michael. »Er ist nicht blöd. Sie könnten überall sein.«
»Wo wohnt er denn?«, fragte Busch.
»Für wie dämlich haltet ihr mich eigentlich?«, schimpfte KC. »Meint ihr nicht, dass ich längst versucht hätte, ihn zu finden? Er ist wie ein verdammtes Gespenst. So war er schon immer.«
»Tut mir leid.« Busch hob die Hände. KC und Michael waren einander ähnlicher, als sie zugeben wollten.
»Er hat meine Schwester in seiner Gewalt, um Himmels willen.«
»Ich weiß.« Busch setzte sich in den Wildleder-Clubsessel und legte die Füße auf einen Hocker. »Und er hat Simon.«
»Lasst euch nicht ablenken, Kinder«, rief Michael, und seine Stimme sprühte vor Optimismus. »Wir dürfen jetzt nur an den Palast und an die Hagia Sophia denken. Sobald wir haben, was er will und braucht, wird er sich die Chance nicht vermasseln lassen, an seine kostbaren Objekte zu kommen.«
»Und du wirst ihm diese beiden Objekte einfach geben?«, fragte Busch.
Michael antwortete nicht, sah seinen Freund nur an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte KC und schaute zwischen den beiden Männern hin und her. Dann dämmerte es ihr. »Sag mir jetzt nicht, dass du hier eine krumme Tour abziehen willst. Du kannst die beiden Gegenstände nicht behalten, so sehr es Simons Wunsch sein mag. Und dir steht auch gar nicht zu, das zu entscheiden. Das ist meine Sache. Ich sage, wo es langgeht. Hier geht es um meine Familie, den einzigen Menschen, den ich habe.«
»Entspann dich. Ich werde nicht …«
»Sag du mir nicht, wann ich mich entspannen soll. Es ist eine alte Seekarte und ein gottverdammter Stab! Es interessiert mich einen Dreck, was die wert sind. Das Leben meiner Schwester jedenfalls nicht. Wenn wir sie hergeben müssen, um sie und Simon zurückzubekommen, werden wir sie hergeben.«
»KC.« Michael beugte sich vor. »Alles ist …«
»Hör auf mit dem ewigen KC, KC, KC. Ich will diese ›Es wird alles gut‹-Sprüche nicht mehr hören. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich weiß, mit was wir es hier zu tun haben und was uns bevorsteht. Vergiss nicht, dass wir das alles nur tun, um meine Schwester freizubekommen. Und wenn wir ihnen die Karte geben müssen, um das zu erreichen, werden wir es tun.«
»Stimmt«, sagte Michael. »Aber erst, nachdem ich jedes Detail mit dir durchgesprochen habe.«
»Ich habe ein bisschen Erfahrung mit diesen Dingen«, entgegnete KC trotzig. »Mich hat man noch nie geschnappt und verurteilt.«
»Nein«, erwiderte Michael mit leisem Spott. »Dich hat man geschnappt und ins Zuchthaus gesteckt, wo man dich hinrichten wollte. Was für ein kurzes Gedächtnis du hast, und wie undankbar du bist! Mir musste man nicht das Leben retten.«
»Weißt du was? Ich kann das alles ganz allein.«
»Du konntest nicht mal einen Brief klauen, ohne dafür zum Tode verurteilt zu werden.«
»He!«, stieß Busch hervor. »Ihr geht jetzt mal beide brav in eure Ecken.«
KC und Michael verstummten, als sie sahen, wie der hünenhafte Mann aufstand und sich zu ihnen umdrehte.
»Du.« Busch zeigte mit dem Finger auf KC. »Wir sind alle stinksauer und frustriert. Hör auf, deine Wut an den Menschen auszulassen, die dir helfen wollen, und richte sie auf Iblis – dem verdankst du den ganzen Mist hier, nicht Michael. Warum fällt es uns immer so leicht, denen an die Kehle zu springen, die uns nahe stehen? Bei den Leuten aber, die uns wirklich wütend machen, kriegen wir das Maul nicht auf.« Busch schüttelte den Kopf; seine Wut wurde noch größer, als er sich Michael zuwandte. »Und du befolge die Ratschläge, die du anderen gibst, endlich mal selbst. Wir haben hier noch sehr viel zu überprüfen, und ich habe eine Frau und eine Familie zu Hause und die Absicht, sie wiederzusehen. Also sollten wir zusehen, dass wir die Nummer hier nicht vergeigen.« Busch grinste. »Außerdem habe ich Kohldampf und will endlich was zu essen.«
***
Es war sechzehn Uhr. Die letzten drei Stunden hatten sie damit verbracht, jedes Detail der beiden Jobs durchzugehen, wie nebensächlich es auch erschien. Michael wusste, dass KC eine Diebin war. Er ging davon aus, dass sie auf ihrem Gebiet eine Könnerin war; andernfalls hätte Simon nicht mit ihr zusammengearbeitet. Nur wusste Michael nicht, wie gut sie war. Deshalb ging er jedes Szenario durch, worüber KC sich maßlos aufregte. Glücklicherweise stand Busch, der ewige Vermittler, die ganze Zeit zwischen ihnen und wahrte den Frieden.
Bora Celils Brief wollte Michael nicht aus dem Kopf gehen. Seine warnenden Worte an Piri Reis klangen ihm in den Ohren. Es waren nicht nur Warnungen an Piri – sie waren an die gesamte Menschheit gerichtet. Iblis wollte den Hermesstab aus einem ganz bestimmten Grund, der mit Sicherheit weit über den materiellen Wert hinausging. KC würde nach fünfhundert Jahren die erste Person sein, die diesen Stab in Händen hielt – einen Gegenstand, den man aus gutem Grund versteckt hatte und vor dem sich sogar der Korsar Kemal Reis gefürchtet hatte, einer der gefährlichsten Männer, die je die Meere befahren hatten.
Doch Michael zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, denn es beeinträchtigte seine Konzentrationsfähigkeit. Nach seinem letzten Streit mit KC fiel es ihm schwer genug, sich zu konzentrieren.
Er beobachtete KC, die sich gerade mit dem Gerät beschäftigte, das er für sie gebaut hatte. Er konnte die Konzentration in ihren grünen Augen sehen, als sie die Vorrichtung auseinanderbaute. Er sah aber auch die Kurven ihrer schlanken und doch so kräftigen Gestalt, als sie die blaue Tasche packte.
»Iblis wird KC auf Schritt und Tritt beobachten«, sagte Michael, als er Busch zur Seite nahm. »Du musst dem Kerl folgen. Lass ihn nicht aus den Augen. Ich habe Angst, dass er KC den Stab wegnimmt, sobald sie aus der Hagia Sophia kommt. Wahrscheinlich wird er sogar versuchen, sie sich gleich mit zu schnappen.«
»Mach dir um KC keine Sorgen. Sie kann auf sich selbst aufpassen.« Busch schaute in KCs Richtung. »Ich werde ihr aber den Rücken decken, um auf Nummer sicher zu gehen. Und was wird mit dir?«
»Was meinst du damit?«
»Du bist derjenige, der in einen Palast rennt, in dem sich 750 Macher der Weltpolitik tummeln. Du bist derjenige, der den wesentlich dreisteren Diebstahl begeht. Und da ist noch etwas.«
»Und was?«
»Was ist, wenn wir Iblis unterschätzen? Wenn er die Karte stehlen will? Wenn du ihm in die Arme rennst? Wer deckt dir dann den Rücken?«
»Kümmere du dich um KC. Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Das sagst du jedes Mal, und weißt du, was dann immer als Nächstes passiert? Ich erleide fast einen Herzinfarkt bei dem Versuch, deinen Hintern zu retten.«
»Vielen Dank, dass du dich so um mich sorgst.« Michael versetzte seinem Freund einen Klaps auf den Arm. Dann ging er zu KC hinüber, die am Fenster stand und sich das Ziel ihres Einbruchs anschaute, die Hagia Sophia, auf deren gewaltiger Kuppel die Strahlen der Spätnachmittagssonne tanzten.
»Ich muss los«, sagte Michael leise.
KC drehte sich um und blickte ihn an. Beide hatten Mühe, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten.
»Pass auf dich auf«, sagte Michael.
Fest schaute KC ihm in die Augen. »Und du auf dich.«
»Kinder.« Busch schnippte mit den Fingern und tippte auf seine Armbanduhr. »Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Das Drama, das ihr zwei da abzieht, wird allmählich albern. Ihr wisst, was ihr tut. Ich werde Iblis die ganze Zeit im Auge behalten. Bringen wir es hinter uns, damit wir aus diesem Land herauskommen.«
***
Lautlos schwang die Tresortür auf. Das Licht im Raum brach sich auf der Beschichtung aus gebürstetem Edelstahl und spiegelte sich in den mit dunklem Holz verkleideten Wänden.
Iblis, der einen klassischen Smoking von Armani trug, betrat den Raum. Cindy starrte ihn an. Sie saß auf dem Ledersofa, sah fern und trank Cola Light, als säße sie in einem Wohnzimmer und nicht in einer mit Nussbaum getäfelten Gefängniszelle. Iblis ging zu der Pritsche und überprüfte die fast leere Infusion. Als er auf Simon hinunterblickte, stellte er verwundert fest, dass dieser aus halb geöffneten Augen zu ihm aufschaute und dabei den Kopf bedächtig von einer Seite zur anderen drehte.
»Ich hatte nicht erwartet, dass du wach bist«, sagte Iblis mit seiner sonoren Stimme.
Simon antwortete nicht. Obwohl er versuchte, die Augen offen zu halten, fielen sie ihm immer wieder zu.
Iblis schloss ihn an einen frischen Tropf an und warf die fast leere Flasche in den Abfalleimer aus Holz. »So! Und nun fall mir nur ja nicht ins Koma oder stirb mir weg, jedenfalls nicht, solange ich dich noch brauche.«
»Er braucht einen Arzt«, erklärte Cindy.
Iblis tat so, als hätte er sie nicht gehört. Er ging zu dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand, betrachtete sich darin, schob sich das braune Haar aus der sonnengebräunten Stirn, zupfte sich das Revers seiner schwarzen Jacke zurecht und strich die Schulterpartien glatt.
»Wohin gehst du?«, fragte Cindy.
»Zu einer Party«, antwortete Iblis und korrigierte dabei den Sitz seiner Fliege.
»Wäre ja auch schrecklich, wenn du unseretwegen deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht nachkommen könntest«, erwiderte Cindy. »Wie lange wirst du uns hier noch festhalten?«
Iblis drehte sich um. »Wenn alles nach Plan läuft, seid ihr morgen um fünfzehn Uhr hier raus.«
»Du wirst uns nicht umbringen?«, fragte Cindy.
»Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber vielleicht ändere ich meine Meinung. Andererseits – wer könnte einer so niedlichen Maus wie dir etwas zuleide tun?« Eisig lächelte Iblis sie an, aber in seinen Augen lag keine Spur von Humor. »Falls deine Schwester mich allerdings aufs Kreuz legt …«
»Was, wenn Simons Zustand sich verschlechtert?«
Iblis zuckte mit den Achseln. »Ich muss jetzt los. Es wird ein ziemlich spektakulärer Abend werden, mit jeder Menge Action. Da will ich nicht zu spät kommen.« Er ging zurück zu der riesigen Tresortür.
»Wo ist denn die Party?« Cindy musste es einfach fragen, sie konnte nicht anders.
»In einem Palast namens Topkapi. Ich habe dort ein kleines Rendezvous arrangiert.«
»Wirklich? Mit wem? Gönnst du dir mit meiner Schwester eine lauschige Nacht mit Einbrüchen, Diebstählen und diversen anderen Verbrechen?«, fragte Cindy mit einer Stimme, die vor Verachtung strotzte.
»Nein, ich habe mich mit ihrem Lover verabredet, Michael St. Pierre.«