30.
Mit einem Mineralwasser in der Hand saß Cindy auf dem Sofa. Im Fernsehen lief ein Programm des Financial News Networks. Cindy hatte kein Auge zugetan. Ihre Gedanken waren die ganze Nacht gekreist und hatten sie entweder mit Furcht oder mit Zorn erfüllt. Um fünf Uhr früh hatte sie geduscht. Obwohl sie inzwischen seit zwei Tagen die gleichen Kleidungsstücke trug, tat sie ihr Möglichstes, um wenigstens einigermaßen anständig auszusehen.
Simon lag auf der Pritsche. Cindy wusste nicht genau, ob er bewusstlos war oder schlief. In der Nacht hatte er immer wieder vor sich hin gemurmelt und sich von einer Seite auf die andere gewälzt, aber die Augen hatte er noch nicht geöffnet. Sie stand auf und beugte sich über ihn. Seine Kopfwunde hatte inzwischen eine dunklere Farbe angenommen und schwoll immer weiter an. Cindy befürchtete, dass er vor ihren Augen sterben würde, wenn er nicht bald medizinisch versorgt wurde. Sie schaute auf die Infusion; sie tröpfelte nur langsam, und was immer in der Flasche war, schien lediglich dem Zweck zu dienen, Simon mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen.
Cindy drehte den Infusionsbehälter herum in der Erwartung, auf dem Behälter etwas von einer hundertprozentigen Kochsalzlösung zu lesen; aber da stand etwas ganz anderes. Der Tropf, der Simon vor dem Austrocknen bewahrte, enthielt Benzodiazepine, einen Tranquilizer. Iblis verhinderte mit allen Mitteln, dass Simon zu sich kam.
Als Cindy auf Simon hinunterblickte, fragte sie sich, inwieweit sein Zustand eine Folge der Kopfverletzung war und inwieweit dieser Zustand durch das Medikament verursacht wurde, das ihm in die Venen tropfte.
Cindy vernahm ein leises Drehgeräusch, das sich anhörte wie die Rotation eines Kreisels. Es kam aus Richtung der Tresortür. Iblis kam.
Wieder schaute sie auf Simon. Er war in einem erbärmlichen Zustand, aber wenn er wenigstens wach war, konnte er vielleicht einen Weg finden, sie hier herauszuschaffen. Cindy hörte, wie die Räder des Tresorschlosses entriegelt wurden.
Mit einer flinken Bewegung griff sie nach Simons linkem Arm und hob das Pflaster, unter dem die Infusionsnadel versteckt lag. Sie zog die dünne Metallröhre aus der Vene und verbog die Spitze, wodurch der Infusionsfluss auf das absolute Minimum reduziert wurde.
Nach wie vor drangen zischende Drehgeräusche von der Tresortür in den Raum. Cindy wusste, dass ihr nur noch Sekunden blieben.
Sie legte die verbogene Nadel flach auf Simons Haut und klebte das Pflaster wieder fest auf seinen Arm.
Die riesige Tresortür gab einen klickenden Laut von sich und schwang auf. Iblis kam ins Zimmer. Er trug immer noch die schwarze Smokinghose und das Smokinghemd, aber kein Jackett und keine Fliege mehr.
Als er Cindy neben Simon stehen sah, legte er die lange Lederröhre, die er in der Hand hielt, auf den kleinen Kartentisch, ging zu dem bewusstlosen Simon und beugte sich über ihn. Dann blickte er kurz zu Cindy auf und taxierte auch sie mit seinen blauen Gespensteraugen.
»Er muss dringend ins Krankenhaus«, sagte Cindy. Dabei funkelten ihre Augen vor Angst, er könne sie erwischen.
Iblis überprüfte die halbleere Infusion und schnippte mit den Fingern gegen den Schlauch. Er tat so, als habe er nicht gehört, was Cindy gesagt hatte, und ging zur Wand auf der anderen Seite des Raumes. Er schob ein Bild zur Seite, das einen Löwen zeigte, der gerade eine Gazelle riss. Hinter dem Bild kam ein Wandsafe zum Vorschein.
»Na, das ist ja nicht gerade einfallsreich«, meinte Cindy kopfschüttelnd. Die Erleichterung, dass er sie nicht erwischt hatte, verlieh ihr Mut.
»Ich bin sicher, dass du den Safe während meiner Abwesenheit bereits entdeckt hast«, sagte Iblis.
»Hattest du denn keine Angst, ich könnte ihn aufbrechen?«
»Das Ding ist zehn Zentimeter dick. Es kann jeder Explosion standhalten, jedem Brand und ganz bestimmt dir. Und selbst wenn du ihn aufbekommen würdest, kämst du hier trotzdem nicht raus.« Iblis wies auf die Tresortür. »Ich bin sicher, dir ist schon aufgefallen, dass die Tür von innen keinen Griff hat.«
Iblis drehte das Einstellrad nach rechts und nach links, bis der Wandsafe sich öffnete. »Wusstest du, dass der Liebhaber deiner Schwester ein Dieb ist?«
»Nein, aber das überrascht mich nicht.« Weiter ging Cindy nicht darauf ein. Sie starrte Iblis an wie einen Fremden. »All die Jahre habe ich mir eingebildet, du wärst ein Freund … einer der wenigen Menschen, denen ich trauen kann.«
»Ich habe dich nie belogen.« Iblis’ sonore Stimme klang nüchtern und sachlich. »Ich habe dich und KC immer wie meine Familie behandelt.«
»Versuch hier nicht, mein Herz zu erweichen.«
»Hast du so was überhaupt, Cindy?«, gab Iblis mit einem Lächeln zurück.
»Als ich die Tür öffnete, wie hätte ich da wissen sollen, dass der Mensch, der vor mir stand, mich entführen und gewalttätig sein würde?« Cindy richtete den Blick kurz auf den bewusstlosen Simon; dann starrte sie Iblis wieder an, zornig und anklagend. »Dass er sich als Verbrecher entpuppt, genau wie meine Schwester?«
»Schämst du dich für sie?«
»Mehr als du je begreifen könntest«, erwiderte Cindy voller Abscheu.
»Du bist widerwärtig. Läufst durch die Weltgeschichte mit dieser Päpstlicher-als-der-Papst-Haltung, verurteilst deine Schwester, vergisst dabei aber völlig, was sie deinetwegen alles geopfert hat. Damit du dich in deinen Schafspelz hüllen und der Welt erzählen konntest, dass du deinen Abschluss in Oxford gemacht hast. Steht ihr Name auf deinem Diplom? Der sollte da eigentlich stehen. Alles, was du in deinem Leben erreicht hast, verdankst du ihr.«
»Sie hat mich mein Leben lang belogen. Sie ist eine gewöhnliche Diebin.«
»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst«, zischte Iblis.
Als sie Iblis’ Blick sah, der sich förmlich in sie bohrte, verstummte Cindy.
»Deine Schwester ist alles andere als gewöhnlich«, sagte Iblis. »Sie würde ihr Leben für dich riskieren. Würdest du für sie das Gleiche tun? Würdest du für deine Schwester dein Leben riskieren?«
»Du verteidigst sie, bist aber trotzdem bereit, sie zu töten, wenn sie nicht tut, was du von ihr verlangst«, stieß Cindy hervor. »Du tickst ja nicht richtig.«
Iblis ging zu dem kleinen Kühlschrank, nahm eine Cola heraus, drehte den Verschluss ab und trank die Flasche zur Hälfte leer. Erst dann antwortete er.
»Weißt du, wie das ist, wenn man panische Angst hat?« Er stellte die Colaflasche auf den Tisch und ging auf Cindy zu. Sie erstarrte bei dem Gedanken, dass sie möglicherweise zu weit gegangen war. Im nächsten Moment presste Iblis seine Wange fest gegen ihr Ohr. »Du hast nicht die leiseste Ahnung, was panische Angst ist.«
»Ich soll keine Ahnung haben, was Angst ist?« Cindy packte die Wut. »Du bedrohst unser Leben und sagst dann so etwas?«
»Hast du Angst vor dem Tod?«
Die Frage machte Cindy sprachlos. Ihre Hände zitterten, ihre Handflächen wurden schweißnass, und sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Der Mann, der vor ihr stand, war in ihrer Jugend ihr und KCs Freund gewesen, hatte ihnen Geld gegeben und ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Er war die Schulter gewesen, an der sie sich hatten ausweinen können, und doch hatte er die ganze Zeit seine wahre Natur verborgen, hatte sich mit der Unterwelt abgegeben und ein Leben in der Welt des Verbrechen geführt. Und jetzt war sie bloß ein lebendes, atmendes Druckmittel für ihn, um ihre Schwester dazu zu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen, indem er ihr und Simon das sprichwörtliche Messer an die Kehle hielt.
»Angst ist die instinktive Motivation, die uns am Leben erhält, unser primitivster Urinstinkt, der unser Überleben garantiert. Angst lässt uns in Krisenzeiten erfinderisch werden und über Lösungsmöglichkeiten nachdenken, die uns in Zeiten der Geborgenheit niemals in den Sinn kämen.
Mit Angst, die gezielt geschürt wird von einem Menschen, der sich darauf versteht, lassen sich große Ziele erreichen – Erfolg, Geld, Ruhm. Wenn du weißt, wovor ein Mensch sich fürchtet, kannst du ihn dazu bringen, so ziemlich alles zu tun, was du willst. Manche Leute arbeiten härter, wenn sie Angst haben, hinausgeworfen zu werden, und die meisten haben ihr Leben lang Angst vor dem Tod, was sie veranlasst, an den Allmächtigen zu glauben.
Seit Jahrtausenden wird die Angst benutzt, um Völker zu regieren. Den mildtätigen Herrscher, den wohlwollenden König gab es immer nur im Märchen. Könige wurden gefürchtet.
Woher kommt es, dass wir Menschen beten, wenn die Angst uns übermannt? Dass wir dann anfangen, um göttliches Eingreifen zu beten? Um einen Ausweg? Um die Erlösung von dem Übel, das uns ängstigt, egal, ob es sich dabei um ein Ungeheuer handelt, den Tod oder sogar unsere eigene Natur?
Aber Angst kann die Menschen auch über sich selbst hinauswachsen lassen. Weißt du, wovor deine Schwester sich fürchtet? Nicht vor dem Tod, nicht vor dem schwarzen Mann. Sie fürchtet sich vor allem, was dein Weiterleben bedroht. Das hat sie schon immer getrieben. Sie hatte panische Angst, dich zu verlieren, nicht in der Lage zu sein, dich zu erhalten. Das hat sie dazu getrieben, Dinge zu tun, die die meisten Menschen niemals in Betracht ziehen würden – Dinge, über die eine edel gesinnte, moralische Gesellschaft die Nase rümpft. Trotzdem hat sie sich nie beklagt. Du hingegen lebst gerade einmal lächerliche zwei Tage in Angst und verdammst sie gleich für die Opfer, die sie deinetwegen gebracht hat.
Ich hoffe, du hast Angst.« Endlich hielt Iblis inne, trat aber auch wieder näher an Cindy heran. »Und ich hoffe, dir ist bewusst, dass dein Leben in meiner Hand liegt.«
»Glaubst du, ich hätte Angst vor dem Tod?« Cindy versuchte es mit Dreistigkeit.
»Es gibt Dinge, die sind schlimmer als der Tod.« Mit eisigem Blick starrte Iblis sie an. »Viel schlimmer.«
»Der Tod ist das Ende aller Dinge«, widersprach Cindy. »Es gibt kein Leben danach. Wir hören einfach auf zu existieren.«
»Das glaubst du?« Iblis grinste.
»Kannst du mir das Gegenteil beweisen?«
»Sie haben dir so viel Bildung eingetrichtert, dass sie Gott herausfiltern mussten, damit noch mehr Bildung hineinging, nicht wahr?« Iblis schüttelte den Kopf.
In Cindy stieg Wut auf. Sie fühlte sich angegriffen von Iblis’ Kommentar. »Ich könnte mir vorstellen, dass das gerade für Menschen wie dich und KC eine gute Sache wäre. Kein Jüngstes Gericht für eure Taten.«
»Muss ich dich daran erinnern, dass dein fehlender Glaube eine ebenso schwere Sünde ist?«
Cindy verdrehte die Augen. »Ich werde mich hier doch nicht mit einem Psychopathen auf eine theologische Debatte einlassen.«
»Wirklich nicht?«, hakte Iblis nach.
»Du würdest verlieren, glaub mir.«
Iblis zog die Brauen hoch und grinste. »Dir ist es wichtiger, recht zu behalten, als die Wahrheit zu ergründen.«
»Du kannst nicht beweisen, dass es Gott gibt, oder den Teufel, oder ein Leben im Jenseits.«
»Hast du jemals etwas einfach geglaubt?«
»Ich glaube nur an Dinge, die ich anfassen kann, die sich wissenschaftlich beweisen lassen.«
»Die sich wissenschaftlich beweisen lassen?«
Cindy saß da, unnachgiebig und wütend.
»Du bist einer der Player der Finanzwelt«, sagte Iblis. »Du bereicherst dich am Missgeschick anderer. Alles Geld, das du verdienst, hat ein anderer verloren.«
»Das ist legal«, verteidigte Cindy sich.
»Ist es denn auch moralisch?«
»Ausgerechnet du hast die Frechheit, mir etwas von Moral erzählen zu wollen?«
»Die Firma, für die du in Zukunft arbeiten wirst, wird dir sehr wahrscheinlich ein Vermögen zahlen.«
»Ich bekomme, was ich wert bin«, schoss Cindy zurück.
»Glaubst du wirklich? Was, wenn du feststellen musst, dass du lediglich eine Schachfigur in einem sehr viel größeren Spiel bist? Ist es nicht genau das, was die meisten Arbeitsbienen in einer großen Firma sind? Schachfiguren, die sich tagaus, tagein abrackern, um den Bienenstock größer, die Firma stabiler, den Boss reicher zu machen? Stört dich das nicht? Schließlich hast du in Oxford studiert.«
»Meine Zeit wird kommen«, erwiderte Cindy.
»Bist du sicher? Seit deinem zehnten Lebensjahr arbeitest du auf den großen Zahltag hin. Du hast immer gesagt, du wolltest bis zu deinem dreißigsten Geburtstag dreißig Millionen besitzen, und dreihundert Millionen …«
»… bis ich vierzig bin«, gab Cindy widerwillig zu.
»Zu Wohlstand kommen aber nur die, die Risiken eingehen, Cindy. Nicht die Arbeitsbienen, nicht die Leute, die auf Nummer sicher gehen, und du gehst auf Nummer sicher. Du glaubst den Versprechungen deines Vorstandsvorsitzenden, vertraust ihm und glaubst an den allmächtigen Dollar, und doch ist es nicht selbstverständlich, dass du Erfolg haben wirst. Wahrscheinlich werden sie dich übers Ohr hauen und dich irgendwann mit ein paar wertlosen Optionsscheinen und einer Fünfundzwanzig-Dollar-Uhr in Rente schicken.«
»Sie werden mich gut versorgen. Ich vertraue ihnen.«
»Deiner Schwester aber nicht«, erwiderte Iblis, als wäre dies der Beweis für seine Theorie. »Lass mich noch einmal zusammenfassen: Du kannst an einen Chef glauben, dem du noch nie begegnet bist, und lässt ihn über deine Zukunft und damit über dein Leben entscheiden für die Aussicht, Geld damit zu verdienen, aber du weigerst dich, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es Kräfte geben könnte, die größer sind als die eines Menschen, göttliche Mächte und die Aussicht auf ein ewiges Leben.«
Cindy starrte Iblis in die Augen. Sie war sich ziemlich sicher, dass es um seinen Geisteszustand schlecht bestellt war, denn einerseits sprach er über Gott, würde andererseits aber nicht zögern, sie und Simon zu töten, wenn er dadurch bekommen konnte, was er so unbedingt haben wollte.
»Wir werden geboren, wir leben, und wir sterben«, sagte Cindy. »Das ist es. Nichts davor. Nichts danach. Kein Gott, keine Zauberei oder irgendwelche Mysterien, kein Himmel und keine Hölle. Und nichts, was du sagen könntest, könnte mich vom Gegenteil überzeugen.«
»Und wenn ich dir etwas zeigen würde?« Iblis öffnete die obere Abdeckung der Lederröhre und drehte die innere Verriegelung auf. Er zog die Karte heraus und rollte sie mit ehrfürchtiger Miene auf dem Tisch aus.
Cindy schaute auf die aufwendige Karte. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Dann blickte sie wieder in die kalten, leblosen Augen ihres Kidnappers, neugierig, was er ihr zeigen wollte, und warum.
»Was, wenn ich dir ein Geheimnis verraten würde?«, fragte Iblis weiter. »Ein Geheimnis, das dein ganzes Denken verändern könnte?«