26.
Im gewaltigen Schatten der Hagia Sophia saß Busch hinter dem Steuer der Limousine. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, um gegen die Hitze der Istanbuler Sommernacht anzukämpfen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite trafen weiterhin in Scharen die VIPs ein, um den Feierlichkeiten beizuwohnen: Würdenträger, Adelige, Istanbuls Großindustrielle – alle bewegten sich über den blauen Teppich in den Topkapi-Palast, als wären sie auf dem Weg zur Oscarverleihung.
Nach wie vor versuchte Busch, Michael über Funk zu erreichen, um ihn davor zu warnen, dass Iblis in den Topkapi-Palast gegangen war, jedoch vergebens. Busch war wütend, weil dieser mickerige Typ ihm mir nichts, dir nichts entwischt war.
Plötzlich wurde die Hintertür der Limousine aufgerissen, und eine völlig verdreckte KC rutschte auf den Rücksitz. Sie legte die blaue Reisetasche und ihre große Prada-Tasche mit den Handwerkszeugen auf den Boden, nahm die Mütze vom Kopf und schüttelte sich das lange blonde Haar aus.
»Und?«, fragte Busch.
KC griff nach der ledernen Transportrolle, wedelte damit und legte sie dann neben sich auf den Rücksitz.
»Wo ist Michael?« KC nahm sich ein Glas aus dem Barfach und füllte es zunächst mit Eiswürfeln und dann mit Wasser. »Ich kann ihn über Funk nicht erreichen.«
»Ist noch nicht wieder draußen.«
»Wo ist Iblis?« KC kroch durch den hinteren Teil der Limousine, beugte sich dann über den Beifahrersitz und schaute durch die Windschutzscheibe. Suchend glitt ihr Blick über die Wagen, die auf der Straße standen. Dabei trank sie gierig das Wasser.
»Ich habe ihn verloren«, erwiderte Busch. Er war nicht imstande, KC anzuschauen.
»Was meinst du damit?« KCs Stimme bekam einen ängstlichen Beiklang.
»Ich habe ihn verloren. Er hat sich unter die VIPs gemischt und ist im Topkapi-Palast verschwunden.«
»Weiß Michael davon?« KC ließ sich in den hinteren Teil der Limousine sinken und schaltete ihr Funkgerät ein, hörte aber nichts als Rauschen. »Iblis will sich die Karte holen. Er wird Michael töten, um sie an sich zu bringen. Wie konntest du zulassen, dass er in solche Gefahr gerät?«
»Glaub mir, ich mache mir selbst schon Vorwürfe genug. Mich würden sie nicht mal auf diese Party lassen, wenn ich eine Einladung mit Goldrand hätte. Ich versuche seit über einer halben Stunde, ihn anzufunken. Vergiss bitte nicht, dass er mein Freund ist.«
»Ich weiß«, erwiderte KC. »Ich hätte mit ihm gehen sollen.«
»Michael weiß, was er tut. Er kann auf sich selbst aufpassen. Ich kenne ihn.«
»Ja, und ich kenne Iblis.« KC spie den Namen ihres Lehrmeisters, als wäre er Gift.
Im nächsten Moment riss sie ihr schwarzes Oberteil und die Hose vom Körper. Sie nahm sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Barfach, goss das Wasser auf eine Serviette und rieb damit über ihr Gesicht und ihre Arme, wischte sich den Staub und den Tod aus den Särgen und Grüften von der Haut. Dann bemalte sie ihre Lippen mit einem rubinroten Lippenstift, legte einen unauffälligen Lidschatten auf und war einmal mehr dankbar dafür, ein Gesicht zu haben, das keines dicken Make-ups bedurfte. Sie griff in ihre Prada-Tasche und zog das bodenlange mitternachtsblaue Abendkleid heraus, das sie in der Hotelboutique erstanden hatte, und streifte es über. Das Kleid liebkoste ihre Körperformen wie eine zweite Haut. Es war an beiden Seiten geschlitzt und zeigte mehr Bein, als Busch für möglich gehalten hätte. Es war perfekt, nicht nur in modischer, auch in funktionaler Hinsicht, denn es schränkte ihre Beinfreiheit nicht ein und erlaubte ihr, körperlichen Aktivitäten nachzugehen, die für gesellschaftliche Anlässe nicht gerade typisch waren.
»Ich wusste, dass du eine Gelegenheit finden würdest, das Kleid zu tragen«, meinte Busch.
KC ignorierte Buschs Kommentar und bürstete sich die blonden Haare; die Halskette von Tiffany, die Michael ihr gegeben hatte, legte sie ab und steckte sie in eine kleine Schmucktasche, aus der sie ein Diamanthalsband zutage förderte sowie Diamant-Ohrstecker. Sie legte die Schmuckstücke an und schlüpfte in Pumps mit acht Zentimeter hohen Absätzen. Dann hob sie ihre Handtasche vom Boden und öffnete sie.
Die Prada-Tasche war eine Sonderanfertigung. Ihr Innenleben war wasserdicht und verfügte über Seitenfächer für diverse Utensilien, die vonnöten waren, um erfolgreich Schlösser zu knacken, sowie über Innentaschen für Leuchtstäbe, Geld und ein dünnes Messer, das aussah wie eine Nagelfeile. In einem Seitentäschchen steckte ein mit zwölf Diamanten besetztes Silberhalsband, an dem ein prachtvoller Saphir-Anhänger baumelte. KC besaß es jetzt seit über fünf Jahren. Sie hatte es einem deutschen Geschäftsmann gestohlen, der es jungen Mädchen zu schenken pflegte, um ihnen einen Vorgeschmack auf das zu geben, was sie noch alles bekommen würden, wenn sie mit ihm schliefen, nur um sie dann als Sexsklavinnen nach Südostasien zu verkaufen. KC stahl damals nicht nur das Halsband aus seinem Berliner Penthouse, sondern auch all seine Computerdateien, zeigte den Mann bei der Polizei an und gab seine Kontaktdaten an die Familien seiner Opfer weiter. Am nächsten Morgen war er tot.
Sie hatte das Halsband behalten für den Fall, dass sie seine universelle Währung irgendwann zu Bestechungszwecken benötigen würde, um sich aus Schwierigkeiten zu befreien. KC steckte den Lippenstift, Funkgerät, Mobiltelefon, Brieftasche und eine Taschenlampe im Miniaturformat in ihre Tasche, dazu ein langes schwarzes Hemd und ein Paar faltbare, leichte Ballerinas. Dann zog sie den Reißverschluss zu. Sie schnappte sich die Transportrolle mit dem Merkurstab – ihrer Beute aus der Gruft – und klemmte sie sich unter den Arm.
»Warum schleppst du das mit?«, fragte Busch.
»Das ist meine Eintrittskarte«, erwiderte KC und öffnete die Wagentür.
»Eintrittskarte?« Busch schaute auf die andere Straßenseite, wo die Feierwütigen nach wie vor in den Topkapi-Palast strömten. »Du kannst da nicht rein, mit dem da schon mal gar nicht.« Busch wies auf die lederne Röhre.
»Meinst du? Na, dann schau mir mal genau zu.«
KC schlug die Wagentür zu.
Busch schüttelte den Kopf. »Immer sucht Michael sich die störrischsten Weiber aus.«
***
KC hatte sich völlig verwandelt. Aus der schmutzigen, staubigen Diebin war eine Frau geworden, die als Model durchging. Als sie die Straße überquerte und geradewegs auf den blauen Teppich zuhielt, bewegte sie sich, als wäre sie von königlichem Geblüt, strahlte Selbstsicherheit aus und besaß die Aura einer Berühmtheit. Sofort verrenkten die Leute sich die Köpfe, und es wurde gemurmelt und gerätselt. Alle versuchten dahinterzukommen, wer die Blondine mit den smaragdgrünen Augen war.
KC lief majestätischen Schrittes durch das Blitzlichtgewitter, vorüber an den Paparazzi und schnurstracks auf die Sicherheitsbeamten zu, ganz so, als wäre dies hier eine Party, die man ihr zu Ehren gab.
»Guten Abend, meine Herren.«
Drei Wachmänner bedienten einen Metalldetektor, der ebenso groß war wie die Geräte, die an Flughäfen benutzt wurden. Sie trugen hellbraune Uniformen und die Hüte mit schwarzer Krempe der lokalen Polizei. An ihren Hüftgurten hingen Pistolen. Sie musterten KC mit misstrauischen Blicken.
»Ich habe meine Einladung nicht dabei«, sagte sie, öffnete ihre Handtasche und griff hinein.
»Es tut mir leid, junge Frau, aber …«
KC reichte dem Wachmann eine aufgeklappte Brieftasche, die außer ihrem Personalausweis einen Bildausweis enthielt. Der Mann sah sich die Dokumente genauestens an. »Die Europäische Union …?«
KC lächelte, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, der schlichtweg entwaffnend war, weil sie ihn im Verlauf langjähriger Betrugserfahrung erprobt hatte. Geübt in der Kunst, ihre weiblichen Reize erfolgreich zum Einsatz zu bringen, warf sie einen Blick auf den Bildausweis des Wachmanns. »Yasim«, sprach sie ihn mit seinem Vornamen an, als wäre er ein Vertrauter und dürfe sich deshalb getrost entspannen, »ich habe das hier im Auftrag des Schweizer EU-Präsidenten Ulle Regio zu überbringen, der dieses historische Objekt damit in seine Heimat zurückkehren lässt. Es ist das offizielle Willkommensgeschenk an die Türkei. Von der gesamten Europäischen Union.«
Die beiden anderen Wachen sahen ihren Vorgesetzten an. Dieser bedeutete KC, die Lederröhre zu öffnen.
KC hob die Klappe und die Abdeckung an, sodass der Stab mit den Schlangen sichtbar wurde. Die Köpfe mit den Silberzähnen und Rubinaugen funkelten im hellen Licht der Scheinwerfer.
KC lächelte weiter, obwohl sie gegen Übelkeit ankämpfen musste: Der Stab, den sie sich niemals wieder hatte ansehen wollen, starrte sie ihrerseits an, und plötzlich bekam sie panische Angst und am ganzen Körper Gänsehaut. Sie hoffte, dass es den Sicherheitsbeamten nicht ebenso erging. »Wenn ich das nicht übergebe, wäre es für alle dermaßen peinlich, dass es das Ende meiner Karriere bedeuten würde.«
Yasim starrte KC regungslos an. KC hielt seinem Blick stand und lächelte weiterhin entwaffnend. Der Augenblick schien sich endlos zu dehnen. Schließlich wandte Yasim den Blick ab und schaute wieder auf KCs Personalausweis. Dann klappte er die Brieftasche zu, gab sie ihr zurück, nickte und ließ sie passieren.
»Vielen Dank.« KC lächelte den Mann an und verschloss die Lederröhre. Yasim winkte KC um den Metalldetektor herum und führte sie durch den Torbogen in den Janitscharenhof.
KC betrat den Empfangsbereich und folgte der Menschenmenge in Richtung des Begrüßungstores. Der Gehweg wurde von brennenden Fackeln gesäumt, deren orangefarbener Glanz den antiken Bauten einen goldenen Hauch verlieh, während die schwarzen Rauchfähnchen in den Himmel stiegen.
Auf dem Weg zum zweiten Tor scherte KC unvermittelt nach links aus und trat hinter den Bereich, der von den Fackeln erhellt wurde. Sie griff in ihre Handtasche, tat so, als müsse sie ihr Make-up auffrischen, und ließ dabei den Blick über das Gelände schweifen. Die Menschenmassen waren unterwegs zum Begrüßungstor, um in den zweiten Hof zu gelangen, wo die Hauptfeierlichkeiten stattfanden.
KC beobachtete, wie mehrere Wachmänner Streife gingen und die Menschenmenge aufmerksam im Auge behielten. Doch KC wusste, dass es zu einem guten Teil Show war, weil diese Männer sich auf die Gewissenhaftigkeit ihrer Kollegen am Haupteingang verließen. Außerdem waren die Leute, die heute Abend hier zu Gast waren, weder Volksverhetzer noch Terroristen.
KC eilte nach links, hinein in die Dunkelheit, und nahm den gleichen Weg, den sie und Michael am Abend zuvor genommen hatten, sodass er ihr vertraut war. Die Schatten waren lang und wirkten durch die Fackeln, die neben dem Gehweg brannten, noch dunkler. KC ließ ihre Blicke unablässig schweifen, behielt das Partygeschehen und die Wachmänner im Auge und tat, was sie konnte, um nicht aufzufallen. Endlich erreichte sie die dunkle Ecke, an der die zehn Meter hohe Mauer, die den eigentlichen Topkapi-Palast umgab, an das Archäologische Museum grenzte. In Windeseile entledigte KC sich ihrer unpraktischen Absatzschuhe, steckte sie in ihre Tasche, nahm ihre flachen Ballerinas heraus und zog sie an.
Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wo Michael war, aber Iblis befand sich hier irgendwo, und es gab nur wenige Menschen, die ihn besser kannten als KC. Sie kannte seinen durchtriebenen, brillanten Verstand, wusste um die tödlichen Methoden, derer er sich bediente, um zum Erfolg zu kommen. Er war irgendwo hier im Topkapi-Palast und konnte jederzeit mit Michael zusammenprallen – zwei Diebe mit zwei grundverschiedenen Vorgehensweisen: Der eine war darauf aus, mit allen Mitteln zu vermeiden, dass andere zu Schaden kamen; der andere war bereit, allem und jedem Schaden zuzufügen, um zu bekommen, was er wollte.
KC hatte sich von der Sorge um ihre Schwester und von der Angst um Simon so sehr vereinnahmen lassen, dass sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse verdrängt hatte, doch als sie gehört hatte, dass Michael möglicherweise in Gefahr war, hatte sich ihr Herz lautstark zu Wort gemeldet. Sie konnte nicht zulassen, dass ihm etwas passierte; er hatte selbstlos gehandelt, als er sie gerettet hatte, und keine Sekunde gezögert, ihr dabei zu helfen, Gesetze zu brechen, um ihre Schwester zu retten. Und das trotz der Gefahren und Risiken, die nicht nur die Möglichkeit bargen, geschnappt zu werden und im Gefängnis zu enden oder gar zu sterben. KC wurde bewusst, dass sie nicht länger mehr leugnen konnte, was sie für Michael empfand.
Zum Teufel mit dem Risiko, sagte sie sich, hängte sich die Tragegurte der Transportrolle und ihrer Handtasche über Kopf und Schulter, grub ihre Finger in die Mörtelfugen und begann, die Mauer hinaufzuklettern.
***
Michael kam aus der Kapelle, kroch durch das knapp einen Meter breite Loch und leuchtete mit der Taschenlampe durch die Zisterne, deren Stille durch das Plätschern der Wassertropfen, die von der Decke fielen, nur noch eindringlicher wirkte. So vieles von der Welt existierte nur im Verborgenen, so vieles davon befand sich nur Schritte entfernt von einer ahnungslosen Gesellschaft. Und das war nicht nur in Istanbul so, sondern auch in Rom, Moskau, Shanghai und an der Westküste der USA. Vieles war gnädigerweise für alle Zeiten verloren; hätte die moderne Welt sämtliche Geheimnisse der Vergangenheit entdeckt, wären unbekannte Kräfte entfesselt worden.
Als Michael noch einmal zurückblickte auf das Loch in der Wand, das in die versteckte Kapelle führte, wusste er, dass er etwas ans Licht gefördert hatte, das hatte versteckt bleiben sollen. Es gab nichts, womit sich der Fund hätte verschleiern lassen; nichts konnte darüber hinwegtäuschen, das hier unlängst zerstört und gestohlen worden war. Es schmerzte Michael körperlich und seelisch, dass er sich an grandiosen Kunstwerken vergriffen und sie in Schutt und Asche gelegt hatte. Doch im Leben gab es Dinge, die wichtiger waren.
Zweimal überprüfte Michael die luftdichte Versiegelung der Transportrolle, in der die Karte steckte; dann sprang er zurück in die anderthalb Meter tiefe Zisterne. Das Wasser war so kalt, dass es ihn mit Schockwirkung in die Realität zurückholte. Er hielt die Taschenlampe über den Kopf erhoben und watete auf die erste Wand zu, wobei der Lärm, den er dabei verursachte, von den Felsen widerhallte.
Als er die Wand erreichte, die ihn dem Ausgang einen Schritt näher brachte, holte er tief Luft und tauchte unter Wasser, schwamm durch das anderthalb Meter breite Rohr und tauchte im Hauptbereich der Zisterne wieder auf. Als er durch die Wasseroberfläche stieß, blitzte das Licht seiner Lampe durch den höhlenartigen Raum, und für einen Moment konnte er vor Entsetzen nicht atmen. Er hielt den Lichtstrahl gezielt nach vorn und sah das Seil jetzt ganz deutlich, seinen Fluchtweg: Das Seil trieb auf dem Wasser, weil man es oben, wo Michael es festgebunden hatte, abgeschnitten hatte. Er leuchtete mit der Taschenlampe nach oben in den Schacht, durch den er hereingekommen war, doch es war völlig sinnlos. Michael wusste, dass er dort nichts finden würde.
Ohne eine Sekunde zu zögern, tauchte Michael wieder unter und schwamm zurück durch das Rohr in den Vorraum. Dort leuchtete er mit seiner Lampe auf die Wand, die dreißig Meter von ihm entfernt war, klemmte die Taschenlampe dann an seinen Gürtel und schwamm los, so schnell er konnte. Durch das Wasser zu waten, hätte zu lange gedauert, und es war Eile geboten. Er musste fliehen. Michael wusste, dass er das Seil fest am Bagger verknotet hatte; wenn es um Sicherheit ging, machte er niemals Fehler. Ein Unfall war es nicht gewesen, dass das Seil heruntergefallen war.
Ohne beim Schwimmen auch nur einen Zug auszusetzen, riss Michael sich die Taschenlampe vom Gürtel und tauchte in den Tunnel der nächsten Mauer. Das Rohr war wesentlich länger, und er musste gegen eine leichte Strömung anschwimmen. Die zwölf Meter Dunkelheit schien nicht enden zu wollen, aber schließlich tauchte er in einem weiteren Vorraum der Zisterne auf. Hier sah es ganz anders aus. Der Raum war schmal und erstreckte sich etwa acht Meter in die Höhe, wo Lichtstrahlen durch einen Abfluss in der Decke stachen. Es war ein Brunnen, der hinauf ins Herz der Türkischen Bäder des Harems führte. Zu Zeiten der Sultane und ihrer zahlreichen Ehefrauen war der Brunnen ein wichtiger Bestandteil der Zisterne gewesen, denn er hatte die Versorgung mit kaltem, frischem Wasser gewährleistet. Inzwischen wusste niemand mehr von seiner Existenz. Wie so vieles andere war er vergessen worden.
Es gab drei Rohre, die waagerecht aus der Seitenwand ragten; zwischen den Rohren war jeweils zwei Meter Abstand. Sie hatten einen Durchmesser von etwa einem Meter und ragten schätzungsweise einen halben Meter aus der Hauptwand heraus, waren also weit genug voneinander entfernt, dass der Aufstieg sich schwierig gestalten würde und nur mit gewagten Sprüngen möglich war. Aber schwierig war immer noch besser als unmöglich.
Michael starrte nach oben auf den Abfluss in der Decke, der etwa einen Quadratmeter groß war. Es würde einfach sein, da hindurchzuklettern, sofern er das Gitter aus seiner Verankerung lösen konnte. Michael kletterte in die erste Röhre und war froh, aus dem Wasser zu kommen, kämpfte aber erst einmal vergeblich gegen das Zittern seines Körpers an. Die Kälte hatte ihn viel Kraft gekostet. Er hatte Muskelkrämpfe, und seine Finger waren taub, was die anstehende Kletterpartie nur noch gefährlicher machte.
Michael griff in seine Tauchtasche, zog einen Schraubenzieher und das kleine Stemmeisen heraus und befestigte beides neben dem Messer an seinem Gürtel, damit er, wenn er erst einmal oben angelangt war, besseren Zugriff zu den Handwerkszeugen hatte, die er benötigen würde, um den Abfluss des Haremsbades aufzubrechen. Michael verschloss seine Tasche wieder und stand gefährlich auf dem Oberrand des ersten Rohres. Er streckte die Arme nach oben, kam mit den Fingerspitzen aber nicht ganz an die Unterkante des zweiten Rohres heran. Er holte tief Luft, konzentrierte sich, sprang in die Höhe und bekam den Rand des zweiten Rohres zu fassen. Seine Unterarme brannten, als er seinen Körper in die Höhe zog und sich in das Rohr zwängte, wo er sich ein Pause gönnte, indem er sich gegen die gerundete Wand der Wasserleitung lehnte. Dann kniete er sich hin, überprüfte noch einmal die Transportrolle mit der Karte und sicherte die Tasche wieder fest um seine Hüften. Schließlich beugte er sich aus dem Rohr hinaus und ließ den Blick langsam vom Wasser unter ihm auf den Abfluss über ihm schweifen, durch den er hoffentlich aus dieser Grube herauskommen würde.
Plötzlich vernahm er ein Geräusch, das rasch lauter wurde und wie das Grollen von Donner klang. Augenblicke später schossen gewaltige Luftmassen durch das Rohr, in dem Michael kniete, und ein scharfer Wind peitschte ihm sein braunes Haar ins Gesicht. Der donnernde Lärm kam aus dem Rohr – nicht nur aus dem, in dem er saß, vier Meter über dem Wasser, sondern aus allen drei Rohren. Orkanartige Winde tosten durch die Wasserleitung und den Vorraum der Zisterne in die Höhe und hinaus aus dem einen Quadratmeter großen Abfluss.
Michael wusste, was als Nächstes passieren würde. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang er aus dem Rohr. Er fiel schnell, aber nicht schnell genug, als auch schon die tosenden Wasserfluten aus sämtlichen Leitungen schossen und ihn gegen die Wand schleuderten. Kopfüber fiel er in das Wasserloch unter ihm, während drei gewaltige Wasserfälle auf seinen Körper herunterstürzten. Michael versuchte, in den sprühenden, tosenden Fluten zu atmen. Seine Lunge brannte, und er hustete, weil Wasser ihm in die Luftröhre drang.
Der Pegel stieg über das erste Rohr hinweg und verwandelte das Wasser in der untersten Röhre in einen todbringenden Whirlpool, in dem Michael hilflos hin und her geschleudert wurde. Er versuchte, durch das schnell steigende Wasser nach unten zu schwimmen, wurde aber wie Strandgut umhergewirbelt. Die Wassermassen hämmerten mit erbarmungsloser Wucht auf ihn ein. Auch die lederne Transportrolle und die Neoprentasche schienen sich gegen Michael verschworen zu haben. Es schien, als wollten sie ihn in zwei Teile reißen, denn beide Gegenstände zerrten in entgegengesetzten Richtungen an seinem Körper.
Mit rasender Geschwindigkeit stieg das Wasser an den Wänden hinauf, überspülte das zweite Rohr und schaukelte Michaels Körper nach oben auf das Abflussgitter zu. Er würde sein Ziel erreichen – nur nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte: Da sein Körper gnadenlos hin und her geschüttelt wurde, würde er niemals in der Lage sein, das Gitter aufzuschrauben und zu öffnen.
Das Wasser wurde zu einer Sturzflut, die mit tosenden Strudeln an seinem Körper zerrte. Michael strampelte verzweifelt, um den Kopf über Wasser zu halten, wurde aber immer wieder in die Tiefe gerissen, wo das Wasser wie mit tausend Fäusten auf ihn einschlug. Seine Lunge schrie nach Luft, und vor seinen Augen wirbelten weiße Flecke. Er kämpfte mit wilder Verzweiflung. Er durfte KC nicht im Stich lassen, durfte sie nicht enttäuschen.
Und dann, aus dem Nichts heraus, griff jemand nach ihm und riss ihn in Richtung Wasseroberfläche. Michaels Kopf schlug mit Wucht gegen etwas Hartes, aber er beachtete es nicht, schnappte erst einmal gierig nach Luft, als er endlich den Sauerstoff bekam, nach dem seine gepeinigte Lunge sich verzehrten.
Das Wasser um ihn her war inzwischen ein einziger brodelnder Schaum, und endlich begriff er, wo er war. Michael stellte fest, dass er mit dem Kopf gegen das Abflussgitter geschlagen war, das sich vor wenigen Minuten noch fünf Meter über ihm befunden hatte. Das Wasser stieg jetzt langsamer, doch war das Abflussgitter inzwischen nur noch dreißig Zentimeter von ihm entfernt. Er klammerte sich an die metallenen Kreuzverstrebungen und hielt sich daran fest, während sein Körper weiterhin von den tosenden Wassern durchgeschüttelt wurde.
»Du musst Michael sein«, rief eine Stimme.
Michael blickte nach oben durch das Gitter und sah einen Mann, der dort hockte und auf ihn hinunterblickte. Er trug eine Abendhose und ein weißes Smokinghemd, an dem er die Ärmel hochgerollt hatte. Sein Haar war glatt nach hinten gekämmt und lag perfekt. Er war spindeldürr; die Venen an seinen Unterarmen und am Hals pochten im Duett. Seine braune Haut unterstrich Augen, die eine geisterhaft blassblaue Farbe hatten und ein Erscheinungsbild schufen, das eher auf einen Alien hindeutete als auf einen Menschen. Michael war sich absolut sicher: Das war Iblis.
»KC ist also mit einem Dieb liiert«, sagte Iblis.
Zornig blitzte Michael zu dem Mann empor, erstaunt über dessen amerikanischen Akzent.
»Sie haben ein beachtliches Strafregister, Mister St. Pierre.« Das Tosen der Fluten übertönte beinahe seine Worte.
Michael bekam kaum Luft, weil das Wasser ihm immerzu ins Gesicht schlug.
»Ich brauchte KCs Hilfe, nur hätte ich nie gedacht, dass sie einen Partner mitbringt. Ihr zwei habt die Karte schneller gefunden, als ich dachte. Und ihr habt mich davor bewahrt, mir die Hände schmutzig machen zu müssen.«
Michael sah eine kleine Seilrolle, die neben einem hellbraunen Aktenkoffer auf dem Fußboden lag. Daneben konnte er nur noch eine Vielzahl von Handwerkszeugen erkennen, die auf dem Boden des Haremsbades verstreut lagen.
Iblis schlenderte um das polierte Metallgitter herum, umkreiste Michael wie ein Raubtier.
»Ich wusste, dass sie Beziehungen zum Vatikan unterhält, aber wer konnte ahnen, dass der Mann, mit dem sie schläft, ebenfalls ein Dieb ist? Wie war das? Hat sie ein bisschen mit den Hüften und dem Busen gewackelt, um Sie dazu zu verleiten, das hier für sie zu tun? Hat sie Sie dazu gebracht, Ihr Leben für ein bisschen Ringelpietz mit Anfassen zu riskieren?«
Michael zog sich mit der rechten Hand hoch und holte mit der linken aus, um Iblis zu packen, jedoch vergeblich. Iblis grinste nur und trat einen Schritt zurück, belustigt über Michaels Wut und den Arm, der aus dem Abflussgitter im Boden ragte.
»Na, was denn? Ist er beleidigt, weil ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe? Oder will er für die Ehre seines hübschen Mädels eintreten?«, spottete Iblis, und aus jedem seiner Worte sprühte das Gift. »Was wissen Sie über sie? Für Sie ist sie doch nichts weiter als irgendeine Blondine mit einem schönen Hintern. Ich bin es, der sie aus der Gosse geholt hat. Wenn jemand ein Recht auf sie hat, dann ich. Ich bin es, der sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist, der sie geprägt, der sie geformt hat. Wenn jemand ihr Herz in seinen Händen hält, wenn jemand ihr Leben an einem seidenen Faden hängen lässt, dann bin ich das.«
Obwohl es völlig sinnlos war, riss Michael an den Metallverstrebungen. »Wenn du sie anrührst …«
»Was?«, fragte Iblis und trat dabei auf Michaels Finger, drückte sie in den Abfluss hinein.
Mit einem Aufschrei ließ Michael los, wurde unter die tosenden Wasser gezogen und im Whirlpool umhergeschleudert wie eine Stoffpuppe. Sein Mund und seine Nase füllten sich ebenso schnell mit Wasser, wie seiner Lunge die Luft ausging. Die beiden Taschen, die an seinem Körper klemmten, waren zwar fest gesichert, peitschten und schlugen aber trotzdem auf ihn ein wie lose Klappladen eines Fensters bei Sturm.
Er nahm all seine Konzentration zusammen, stieß mit der Hand durch die Wasseroberfläche, bekam erneut das Metallgitter zu fassen und zog sich wieder nach oben in die immer kleinere Luftblase.
»Schwimmen Sie gerne?« Iblis kam mit dem Gesicht dicht an die Metallverstrebungen und verspottete Michael. »Mussten Sie je einem Kind Disziplin beibringen? Oder jemanden bestrafen, der Ihnen etwas bedeutet? Vielleicht sollte ich KC von allem befreien und ihrer Seele die Freiheit schenken.«
Michael hielt sich mit beiden Händen an den Gitterstäben fest und zog seinen Kopf nahe an Iblis’ Gesicht heran. »Wagen Sie es ja nicht, Sie anzurühren. Wenn sie auch nur einen abgebrochenen Fingernagel haben sollte, werde ich Sie finden und …«
»Was?«, explodierte Iblis, dass seine Stimme von den Marmorwänden widerhallte. Doch sofort gewann er die Fassung zurück und gab sich wieder sanft. »Haben Sie ernsthaft geglaubt, Sie könnten mich ausstechen?«
Michael umklammerte die Gitterstäbe so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten.
»KC kennt mich«, erklärte Iblis. »Sie kennt das Risiko, das man eingeht, wenn man mich betrügt, und sie kennt den Preis, den man dafür zahlt – in ihrem Fall, was ihrer Schwester passiert, falls sie meinen Anweisungen nicht folgt.« Iblis hielt einen Moment inne. »Wissen Sie, was ich glaube?«, meinte er dann. »Ich glaube, dass es Ihre Idee war, die Karte zu stehlen und sie gegen Simon und Cindy einzutauschen. Der dumme Einfall eines arroganten, zweitklassigen Diebes.«
Michael zerrte in hilfloser Wut an den Gitterstäben und musste husten, weil ihm das Wasser ins Gesicht schlug.
Iblis betrachtete Michaels Züge, blickte auf den brodelnden Hexenkessel, in dem er gefangen war. »Hatten Sie jemals Blut an den Händen, Michael?«, fragte er dann. »Nun, heute Nacht wird der ultimative Preis gezahlt. Es muss jemand sterben für Ihre Abgeschmacktheit und Ihren Mangel an Vorsicht.«
Michael zog sein Gesicht auf gleiche Höhe mit den Gitterstäben, während das Wasser ihm weiterhin um den Körper schlug. Nackter Zorn lag in seinem Blick, als er hervorstieß: »Ohne die Karte haben Sie nichts.«
Iblis beugte sich nach unten. Michael konnte seinen stinkenden Atem durch das Gitter riechen, als sie einander in die Augen starrten.
Im gleichen Moment schlang sich ohne jede Vorwarnung etwas um Michaels linken Arm. Er war dermaßen zornig und so damit beschäftigt gewesen, Iblis’ starrem Blick standzuhalten, dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie sich eine Handschelle um sein Handgelenk schloss und die andere oben am Gitter festgemacht wurde. Instinktiv versuchte Michael, seinen Körper von der Fessel wegzuziehen, und trat im Wasser um sich, aber es brachte nichts.
»Nur die Ruhe«, sagte Iblis mit merkwürdig gelassener Stimme. »Dann gehen Sie nicht so schnell unter. Und jetzt hätte ich gern die Rolle, die Sie auf dem Rücken tragen.«
Michael griff mit der rechten Hand an den Tragegurt, zog ihn sich von der Schulter und hielt die Rolle unter Wasser und so weit von Iblis weg, wie es ihm mit der Handschelle am Arm möglich war. Mit der linken, gefesselten Hand hielt er sich an dem Gitter fest. Er hatte Mühe, seinen Körper in einer halbwegs geraden Stellung zu halten, da das Wasser ihn nach wie vor hin und her warf.
Plötzlich stieß Iblis dem Arm ins Wasser und versuchte, Michael die Rolle zu entreißen, während Michael seinerseits mit aller Macht versuchte, die Rolle unter Wasser und von Iblis weg zu halten.
Iblis zog seinen Arm wieder aus dem Wasser und lächelte ohne jeden Humor. »Nur damit Sie Bescheid wissen: Die Polizei wird alarmiert und erhält eine vollständige Beschreibung Ihrer Person. Die Mannschaften oben werden erfahren, dass in den Palast eingebrochen und möglicherweise ein Raub begangen wurde und dass die Gäste Schaden nehmen könnten. Und eines kann ich Ihnen versichern: Die werden nicht glücklich sein über das, was Sie getan haben. Ein derart bedeutendes Kunstobjekt zu stehlen. Einen Teil ihres Kulturgutes. Und das in der Nacht, in der die Augen der Welt auf sie gerichtet sind.«
Ohne Vorwarnung trat Iblis erneut auf Michaels Hand und zerquetschte ihm beinahe die Finger. Instinktiv ließ Michael auch dieses Mal wieder los und wurde unter Wasser gerissen, hinein in die tosenden Fluten. Mit letzter Kraft kämpfte er dagegen an. Sein linkes Handgelenk blutete und pochte von der Handschelle, an die es gekettet war. Er musste unbedingt überleben, doch sein Körper schien der Erschöpfung nicht mehr trotzen zu können.
Iblis machte sich daran, das Gitter aus der Verankerung zu schrauben. Noch einmal hielt Michael sich an dem Gitter fest, schnappte nach Luft, konnte aber nur tatenlos zuschauen. In seinem linken Bizeps hämmerte es, und nach wie vor versuchte er verzweifelt, seinen Körper gerade und über der Wasseroberfläche zu halten. Er hielt die Rolle mit der rechten Hand unter sich und wünschte sich, er könnte sie irgendwie beschweren und in die Tiefe fallen lassen, aber sie war extrem schwimmfähig, schien sogar von Michael weg und Iblis in die Hände fallen zu wollen.
Ohne eine Sekunde zu zögern, ließ Iblis das Gitter durch die Abflussöffnung fallen, wodurch Michael wegen der Handschelle unaufhaltsam nach unten gerissen wurde, was sein sicherer Tod gewesen wäre. Aber bevor er unterging, wurde Michael wieder nach oben gezerrt, dieses Mal an seiner rechten Hand – oder vielmehr an dem Tragegurt der Rolle, die er mit aller Macht festhielt.
Michael tauchte auf und stellte entsetzt fest, dass Iblis das andere Ende der Rolle bereits in der Hand hielt. Es war eine Art Tauziehen, ein Zweikampf, den Michael gewinnen musste, denn wenn er ihn verlor, verloren sie alle. Michael hielt den ledernen Tragegurt der Rolle ganz fest, während ihm das Gewicht des schweren Gitters, das an seinem anderen Handgelenk hing, beinahe den Arm auskugelte, während es versuchte, ihn in den Tod zu ziehen. Er saß in der Falle, gefangen zwischen zwei Höllen.
Im nächsten Moment zog Iblis ein Messer. Er schaute Michael an, ohne zu lächeln und mit leerem Blick. Sein linker Arm war gebeugt, und seine Muskeln wölbten sich unter dem engen Hemd. Er presste die Klinge gegen den Ledergurt und schnitt ihn kurzerhand durch. Der Gurt löste sich, und die Röhre schoss nach oben, geradewegs in Iblis’ Hand.
Und Michael wurde unter Wasser gezogen. Er schrie nicht einmal. Der Anker an seinem Handgelenk riss ihn in sein Grab.