61.
KC stand in der Mitte des Mandala-Vestibüls. Eine Zeit lang blickte sie gedankenverloren auf die unendlich scheinenden kreisförmigen Symbole am Boden und fragte sich, ob sie wirklich den Himmel sehen würde, wie die Legende es verhieß, wenn sie lange genug darauf blickte.
Aber die Wirklichkeit hatte sie rasch wieder. Sie spürte eine Präsenz und drehte sich hastig um, die Waffe schussbereit in der Hand. Iblis stand da und beobachtete sie. Er schien unbewaffnet zu sein.
»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte er.
»Hast du meine Schwester getötet?«, wollte KC wissen.
Iblis schwieg.
»Hast du es getan?« In KCs Stimme schwang jetzt Wut mit.
»Nein«, erwiderte Iblis. »Das war Venue. Er nannte es sein Abschiedsgeschenk.«
Einen Moment starrte KC ihn an. Dann sah sie plötzlich die reglosen Beine eines der Wachhunde auf dem Fußboden liegen und wusste sofort: Iblis hatte einen seiner eigenen Männer ermordet.
»Ich bin zurückgekommen, um Michael zu holen.« KC hob ihre Waffe und richtete sie auf Iblis. »Nicht, dass du jemals verstehen könntest, wie das ist, wenn man jemanden liebt.«
Iblis trat einen Schritt auf sie zu, ohne der Waffe, die auf seinen Kopf gerichtet war, Beachtung zu schenken. Er blickte KC an, schaute ihr fest in die Augen, und sein makelloses Gesicht entspannte sich, sodass sie für den Bruchteil einer Sekunde durch seine finstere Seele hindurch tief in sein Herz blicken konnte. Und was sie dort sah, ängstigte sie mehr als der Tod, mehr als das, was sie möglicherweise in diesem Tempel finden würden.
Sie sah die Liebe, die er für sie empfand. Und für einen Moment war es, als wäre sie wieder ein Kind, wie damals, als er aus dem Nichts aufgetaucht war, um sie zu retten und ihr alles beizubringen, was er wusste – um für sie und Cindy zu sorgen und sie vor dem grausamen Schicksal zu bewahren, das ihnen andernfalls bevorgestanden hätte.
Doch bereits im nächsten Moment drängten sich mit aller Macht die Erinnerungen an Iblis’ wahre Natur in den Vordergrund, die Erinnerungen an seine Hartherzigkeit, an die Verachtung, die er für menschliches Leben empfand, an seine brutalen Morde aus purem Vergnügen und im Auftrag ihres Vaters. KC konnte nicht begreifen, wie dieser Mann damit leben konnte, was er war und wie er war. Er hatte jeden Bezug zur Realität verloren.
»Jetzt war das Opfer, das Michael deinetwegen gebracht hat, ganz umsonst«, sagte Iblis. »Wir haben dir die Chance gegeben, zu überleben.«
»Ach wirklich?« KCs Stimme triefte vor Sarkasmus.
Zwei Wachhunde traten auf sie zu, die Maschinenpistolen im Anschlag.
»Wie konntest du glauben, du würdest an uns vorbeikommen?«, fragte Iblis. »Wolltest du einfach rein-und wieder rausspazieren?«
KC stellte sich ganz nah vor ihn und wisperte: »Lass ihn gehen, Chris.«
Schockiert schaute Iblis sie an, als er erkennen musste, dass sie seinen wahren Namen kannte.
»Er ist das Einzige, was ich will«, sagte KC und hoffte, damit an den Rest von Gewissen zu appellieren, das er vielleicht noch besaß. »Er ist das Einzige, was ich je für mich selbst gewollt habe. Bitte …«
Iblis starrte KC an. Sein Gesicht sah plötzlich wie eine Maske aus.
KC hielt seinem Blick stand. Die Sekunden dehnten sich endlos.
Dann warf Iblis seinen beiden Männern einen kurzen Blick zu. Sie näherten sich KC und nahmen ihr die Waffe ab.