6.
Im Flugzeug schliefen alle. Nur Simon blickte aus dem Fenster auf den Horizont im Osten, zur aufgehenden Sonne, die den Himmel in zarte Violett- und Rosatöne tauchte. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war ihm diese Tageszeit die liebste. Sie stand für einen neuen Anfang, für eine Wiederauferstehung der Welt, und sie erinnerte daran, dass nichts das Licht des neuen Tages aufhalten konnte, egal wie dunkel das Leben auch werden mochte.
Simon war innerhalb der Mauern des Vatikans aufgewachsen. Seine Mutter, eine ehemalige Nonne, war Direktorin der Vatikanischen Archive gewesen und verantwortlich für ihre Geschichte, ihre Beziehungen, ihre Geheimnisse. Nachdem ihr früherer Ehemann sie vergewaltigt und gefoltert hatte, verlor sie den Verstand und nahm sich das Leben. Nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters war Simon im Alter von sechzehn Jahren ganz allein auf der Welt gewesen.
Eine Zeit lang diente er in der italienischen Armee und lernte alles über Waffen, Nahkampf und Militärstrategien. Nach seiner Entlassung kehrte er in den Schoß der einzigen Familie zurück, die er je gehabt hatte: zu den Freunden seiner Mutter, den Priestern und Bischöfen, die den Vatikan regierten, das kleinste Land der Welt. Sie hießen ihn mit offenen Armen willkommen und boten ihm eine Zukunft. Aufgrund seiner unlängst erworbenen Fähigkeiten und seiner überragenden Intelligenz schlugen sie ihm vor, den ehemaligen Arbeitsplatz seiner Mutter zu übernehmen und der Hüter zu werden, der nicht nur über die gewaltige Sammlung religiöser Artefakte der Kirche und deren Geschichte wachte, sondern auch ihre Geheimnisse bewahrte.
Als das Flugzeug sich beim Landeanflug scharf auf die linke Seite legte, war Simon überwältigt, als er aus dem Fenster der Maschine hinunter auf die Stadt blickte, in der fast zwanzig Millionen Menschen lebten, auf eine Welt, die Kreuzzüge und Invasionen, Könige und Sultane überlebt hatte und eine Metropole endloser Schönheit geworden war. Zu dieser frühen Morgenstunde färbte ein leuchtendes Orange den Horizont; es bot den perfekten Kontrast zu der Silhouette aus Minaretten und Kuppeln, deren Spitzen bis in die Himmel zu reichen schienen.
Das türkische Istanbul war der Mittelpunkt der Welt, an dem Europa und Asien im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne miteinander verschmolzen. Seit der Antike – ob als Nova Roma im Östlichen Römischen Reich, als Byzantion oder als Konstantinopel – war es die Hauptstadt einiger der bedeutendsten Reiche der Geschichte gewesen: des Römischen Reiches, des Königreiches Jerusalem, des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches. Keine andere Stadt der Erde konnte ein vergleichbar reiches und vielgestaltiges Erbe für sich in Anspruch nehmen. Istanbul war immer Dreh- und Angelpunkt einer dynamischen Kultur gewesen – eine Welt, in der mit Waren und Philosophien gehandelt wurde, mit Frauen, Sklaven und Religionen; eine Welt, in der Christen, Moslems und Juden Seite an Seite lebten und die Kunst der friedliebenden Koexistenz beherrschten, lange bevor der modernen Gesellschaft Toleranz gepredigt werden musste. Es war eine Welt der Schönheit mit atemberaubender Architektur, sowohl alter als auch neuer; ein Land voller Geheimnisse und Intrigen, Reichtum und Pracht. Istanbul war weltoffen und pulsierend, antiquiert und beschaulich. In dieser Stadt trafen Ost und West aufeinander, und doch hatte das Land in jüngster Zeit in der Weltpolitik nur die zweite Geige gespielt, weil es auf Widerstände gestoßen war, als es der Europäischen Union beitreten wollte.
In Istanbul befanden sich einige der bedeutendsten Gotteshäuser, Moscheen von unerreichter Schönheit, deren Minarette so hoch in den Himmel ragten, dass es aussah, als berührten sie das Firmament; Kathedralen voller Anmut; Synagogen aus uralter Zeit und Paläste, deren wuchtige Festungsanlagen im Lauf der Jahrhunderte nichts an Eleganz eingebüßt hatten.
***
Der Boeing Business Jet glitt über das asphaltierte Rollfeld des Flughafens Istanbul-Atatürk und kam in dem Bereich zum Stehen, der Privatmaschinen vorbehalten war. Michael, Busch, Simon und KC verließen die Maschine über die Gangway und tauchten ein in das Licht des frühen Morgens, atmeten durch, vertraten sich die Beine und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Eine junge Frau kam aus dem Privatterminal. Sie zog einen Trolley hinter sich her und lief über das Rollfeld auf den Jet zu. Ihr Haar war kastanienbraun und im Nacken zu einem strengen Knoten zusammengesteckt. Sie trug ein elegantes weißes Kostüm und Pumps und sah aus wie ein Kind, das Verkleiden gespielt hatte. Sie war ein wunderschönes Mädchen, sah aber nicht so aus, als wäre sie bereits alt genug, um für die Zollbehörde zu arbeiten.
Endlich fiel KCs Blick auf die junge Frau. Für einen Moment war sie wie erstarrt, und die verschiedensten Gefühle spiegelten sich auf ihrem Gesicht. Dann liefen die beiden Frauen aufeinander zu und fielen sich in die Arme.
»Was machst du denn hier?«, fragte KC und hielt ihre Schwester dabei ganz fest.
»Der Flug dauert doch nur vier Stunden, da konnte ich mir das einfach nicht verkneifen.«
»Aber ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.«
»Ich weiß.«
KC ließ sie los und blickte ihr in die Augen. »Aber ich bin froh, dass du wie immer nicht auf mich gehört hast.«
Die beiden Frauen drehten sich um und kamen auf Michael zu.
»Michael, Simon, Paul«, sagte KC. »Das ist meine Schwester Cindy.«
Michael schüttelte ihr die Hand. »Schön, dich kennenzulernen.«
Cindy sah Michael an. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe noch nie einen von KCs Männern getroffen.«
»Irgendwann ist immer das erste Mal«, erwiderte Michael lächelnd.
»Ich bin Simon«, sagte der Priester mit seinem schwachen italienischen Akzent und ergriff ihre Hand. »Ich habe schon viel über dich gehört.«
Cindy nickte.
Michael wies mit dem Kopf in Richtung Busch. »Und das ist Paul Busch.«
Cindy schüttelte seine Hand. »Angenehm.«
»Ganz meinerseits.« Busch, der die Frau um Haupteslänge überragte, gab ihr vorsichtig die Hand.
Cindy war etwa zehn Zentimeter kleiner als KC, und ihre Augen waren dunkelblau, doch war die Ähnlichkeit nicht zu bestreiten. Trotzdem wirkten sie völlig unterschiedlich. KC war groß und schlank, und vom Wesen her war sie lebendig und direkt. Cindy war zurückhaltend. Es war, als wären sie in zwei verschiedenen Welten aufgewachsen.
Cindy hängte sich bei KC ein, und gemeinsam gingen sie über das private Terminal. KC drehte sich um und sagte zu Michael: »Du hast gesagt, das Flugzeug müsse gewartet werden, bevor es weiterfliegen kann, richtig?«
»Ja, stimmt«, erwiderte Michael.
»Dann lasst uns in Istanbul frühstücken gehen. Man weiß schließlich nie, ob und wann man die Stadt wiedersieht.«
»Ich habe schon genug gesehen«, meinte Busch. »Ich habe Angst, noch mehr zu sehen.«
»Es geht doch nur um ein Frühstück. Vor morgen können wir hier eh nicht weg«, sagte Michael.
»Was? Davon hast du gar nichts gesagt«, klagte Busch.
»Die Maschine muss alle fünfzehntausend Kilometer gewartet werden. Ich will lieber nicht herausfinden, was passiert, wenn man die Wartung verpasst, schon gar nicht mitten über dem Atlantik.«
»Prima, dann kannst du Jeannie ja erklären, warum wir später kommen … wieder mal.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Michael und lief den beiden Frauen nach. »Ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«
***
Eine schwarze Stretchlimousine fuhr den Kennedy Caddesi hinunter, eine breite Schnellstraße, die von einem Meer hupender Wagen verstopft wurde, deren Fahrer wild fluchend mit den Armen fuchtelten, als könnten sie auf diese Weise den Stau auflösen. Kleine gelbe Taxis schwärmten wie Bienen in den Stau hinein und wieder heraus; sie konnten dem Gewühl wesentlich geschickter entgehen als die Stretchlimousine. Der Chauffeur riskierte Kopf und Kragen, bog von der Schnellstraße ab und machte sich auf den Weg in Richtung des Basarviertels, wobei er Abkürzungen durch die Seitenstraßen nahm und damit das morgendliche Verkehrschaos von Istanbul großräumig umfuhr.
Der Wagen fuhr am Großen Basar vorüber, einem Labyrinth aus Straßen, die überdacht wurden von buntbemalten Gewölben, in denen es mehr als viertausend kleine Geschäfte gab, in denen alle möglichen Waren angeboten wurden – eine erstaunliche Ansammlung von Geschäften, an der sich seit Jahrhunderten nichts geändert hatte. Hier konnte man fast alles finden: Gold, Silber, Edelsteine, Antiquitäten, Leder, Stoffe, Kleidung und Elektrogeräte.
Die Limousine fuhr weiter über die schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen und vorüber am Ägyptischen Basar, dem zweitgrößten Istanbuls, in dem es Gewürze aller Art für jeden Geschmack gab – ein Universum der Speisewürzen, wie man es sonst nirgends auf Erden fand. Hier konnte man Kräuter bekommen, Honig, Nüsse, Bonbons oder ein Rinder-Dörrfleisch namens Pastırma. Außerdem gab es ein breites Angebot exotischster Aphrodisiaka.
KC ließ die Fensterscheibe herunter. Die Luft roch nach Essen, und der Lärm der Verkäufer und der Autohupen war ohrenbetäubend. KC nahm die exotische Atmosphäre in sich auf, genoss die Eindrücke trotz Lärm und Chaos.
»Warum ist hier so viel Verkehr?«, fragte sie den Chauffeur.
»Am Freitagabend findet im Topkapi-Palast ein großer Empfang statt. Im Rahmen der Feierlichkeiten anlässlich des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union«, erwiderte der Fahrer.
Michael schaute Simon an, sagte aber kein Wort, denn das enorme Sicherheitsaufgebot war ihnen längst aufgefallen. Es waren Soldaten, Polizeibeamte und zusätzliche private Sicherheitskräfte. Bewaffnet und mit wachen Augen hinter dunklen Sonnenbrillen suchten sie die Menschenmenge ab und überprüften die Gebäude.
»Das ist ja massenhaft Polizei«, sagte Cindy und ließ den Blick schweifen.
»Ja«, entgegnete der Chauffeur. »Sie behalten die Moscheen und den Topkapi-Palast im Auge. Man weiß ja nie, was irgendein Verrückter vorhaben könnte.«
Michael sah, dass Cindy bedrückt wirkte, beugte sich vor und lächelte sie an. »Was machst du eigentlich beruflich?«
»Um ehrlich zu sein«, Cindy wurde schlagartig munter, »fange ich am Montag mit einem neuen Job an.«
»Was?« KC riss sich vom Anblick der Straßen los und schloss das Wagenfenster. »Und wann hattest du vor, mir das zu sagen?«
»Tut mir leid, wir unterhalten uns ja nicht gerade häufig«, gab Cindy zurück. »Wenn ich mich recht erinnere, bist du sechs Wochen durch die Weltgeschichte gereist und im Gefängnis geendet.«
»Was stimmte nicht an Goldman Sachs?« Man konnte den Zorn in KCs Stimme hören. »Etwas Besseres ist kaum zu finden.«
»Und was wirst du machen?«, fragte Michael. Er hoffte, die Unterhaltung in andere Bahnen lenken zu können, bevor es zwischen den Schwestern zum offenen Streit kam.
»Ich bin Finanzchefin von SQS Capital Partners«, antwortete Cindy. »Einen besseren Job könnte ich mir nicht wünschen. Sie haben mit einem attraktiven Angebot an meine Tür geklopft und geben mir die Chance, einem Konzern anzugehören, der weltweit tätig ist.«
»Was ist das für ein Unternehmen?«
»Ein Finanzkonzern.«
»Du hättest das mit mir besprechen müssen, bevor du eine Entscheidung triffst«, sagte KC. »Zumindest hättest du dir meine Meinung anhören sollen.«
»Ich wusste vorher, was du sagen würdest – nämlich das, was du jetzt sagst. Entspann dich.« Cindy musterte ihre Schwester, und ihre Stimme wurde sanft. »Meine Karriere ist wie ein Puzzle. Ich muss verschiedene Teile zusammensetzen, bis ich so weit bin, dass ich meine eigene Firma gründen kann. Du weißt doch, dreißig Millionen, bis ich dreißig bin, dreihundert Millionen, bis ich vierzig bin. Die Uhr tickt.«
KC lächelte Cindy an. »Wenn es das ist, was du aus einem Studium in Oxford gemacht hast … na ja, wir können uns später unterhalten. Dann kannst du es mir erklären.«
»Gern«, erwiderte Cindy. »Und dann kannst du mir erklären, was du im Gefängnis getrieben hast und weshalb du nicht nach Hause kommen konntest, sondern unbedingt nach Istanbul musstest.«
Schlagartig herrschte dicke Luft. Busch, Simon und Michael mieden jeden Blickkontakt, und die nächsten fünf Minuten herrschte Schweigen. Der Wagen fuhr an immer größeren Touristenströmen vorüber, die sich über die Bürgersteige schoben, vorbei an gewaltigen Moscheen mit zierlichen Minaretten, an uralten Steinmauern aus dem Mittelalter und an sandfarbenen Bauwerken, die aussahen, als wären sie einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entsprungen.
Mitten im Altstadtviertel kam die Limousine zum Stehen. KC stieg aus und stellte sich mitten auf die schmale Straße. Hinter ihr tat sich eine beeindruckende Mauer auf, ungefähr zehn Meter hoch, von Zinnen gekrönt und von Toren und Türmen aus verschiedenen Epochen unterbrochen.
KC drehte sich zu Michael um. »Hast du Lust, einen Spaziergang zu machen?«
Michael war überrascht über das plötzliche Angebot.
»KC«, rief Cindy, »ich dachte, wir bekämen eine Chance, uns zu unterhalten und …«
»Das werden wir, ich versprech’s. Wir bleiben nicht lange weg.«