28.
Die Abendveranstaltung neigte sich dem Ende zu. Die Musiker des Orchesters hatten ihre Krawatten gelöst und ihre Hemden aufgeknöpft. Die ersten Gäste verabschiedeten sich, begleitet von Küsschen und gekünsteltem Gelächter. Der Abend war ohne Zwischenfälle verlaufen. Und obwohl man die Polizei geholt hatte, weil es angeblich zu einem Raubüberfall gekommen war, hatte diese Befürchtung sich nicht bestätigt. Die Schatzkammer war inspiziert worden, ebenso die Bibliothek von Ahmed III. Sämtliche Wertgegenstände waren in Sicherheit. Die Polizei vermutete inzwischen, dass der Anruf von einem verdrossenen Angestellten getätigt worden war, der beabsichtigt hatte, einen der großartigsten Momente in der Geschichte der türkischen Nation zu stören. Nun, das war nicht geschehen – der Abend war ein voller Erfolg gewesen.
Die Wachmänner entspannten sich. Obwohl die Wachposten nach wie vor besetzt waren, reichte man nun überall Speisen und alkoholfreie Getränke herum. Jetzt nahmen auch sie teil an der Feier zu Ehren eines neuen Zeitalters, das man mit einem Abend erfolgreich gesicherter Fröhlichkeit eingeläutet hatte.
Michael und KC tanzten unter den Planen eines gewaltigen blauen Zeltes. Darin war nicht nur das zehn Mann starke Orchester untergebracht, das auf einem Podest spielte, sondern auch das Meer aus Tischen, an denen die Gäste ihr Abendessen eingenommen hatten, sowie ein langer Parkett-Tanzboden, auf dem sich jetzt nur noch die Schwermütigen, die Betrunkenen und die Geilen bewegten, und von denen hatte jeder andere Vorstellungen davon, wie dieser Abend enden sollte.
Michael tanzte mit KC auf den Zeltpfosten in der Mitte zu, der zehn Meter hoch war und die Mitte der Segeltuchplane stützte, die vom Stil her an ein Zirkuszelt erinnerte. Mit einem Durchmesser von ungefähr zehn Zentimetern sah der Pfosten wie ein dünner weißer Baumstamm aus, der von kleinen Blumentöpfen umstanden war, in denen Tulpen und Wildblumen blühten.
Michael griff in die blaue Tasche, die über KCs Schulter hing, und nahm eines der kurzen Stücke Sprengstoff heraus. Er bückte sich und tat so, als würde er sich die Schnürsenkel binden. KC stellte sich so geschickt vor ihn, dass er die biegsame Masse flink um den unteren Teil des Pfostens schlingen konnte, wo sie hinter den Topfpflanzen nicht zu sehen war.
Michael erhob sich wieder, gab KC einen Kuss, nahm ihre Hand und führte sie an die Bar. Dabei wirkten sie vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Ehepaar.
Die Bar befand sich in einem zweiten Zelt, das direkt neben dem anderen stand. Über die Hälfte der Flaschen war bereits leer. Es waren kaum noch Eiswürfel übrig, und außer einem einzelnen älteren Herrn und dem Barkeeper war niemand mehr da. KC hockte sich an die Bar, bestellte eine Cola Light und verwickelte die beiden Männer in eine Unterhaltung, während Michael zur Seite und vor einen weißen Zeltpfosten trat, der sich gleich neben der Bar erhob. Er hatte die blaue Tasche mit den »Geschenken« in der Hand und stellte sie jetzt auf den Fußboden, sodass er dahinter rasch weiteren Sprengstoff verstecken konnte.
Anschließend ging Michael zurück zur Bar, lächelte den älteren Herrn an und nahm KCs Arm. Sie liefen über das Festgelände und drehten dabei unablässig die Köpfe, sahen sich um und prägten sich die Anlage, auf der die Party stattfand, genauestens ein. Während sie über den offenen Hof spazierten, platzierten sie an strategisch günstigen Stellen weiteren Sprengstoff. Niemand beachtete Michael, der die restlichen drei Stücke an Orten versteckte, an denen sich niemand aufhielt. KC war die perfekte Ablenkung, denn ihre Schönheit zog sämtliche Blicke auf sich, während man ihren Begleiter übersah, der ständig mit seinen Schuhen und Taschen beschäftigt zu sein schien.
Nur war KC leider nicht nur die perfekte Ablenkung, sie war auch nicht zu übersehen. Yasim, der Wachmann, mit dem sie es bei ihrer Ankunft vor dem Palast zu tun gehabt hatte, blickte ihr plötzlich prüfend ins Gesicht. KC versuchte noch wegzuschauen, doch war es bereits zu spät.
Mit einer Dose Sprudelwasser und einem Stück Kuchen in der Hand kam der Wachmann auf sie beide zu. Er schenkte KC ein entwaffnendes Lächeln, das sich sehr von dem gestrengen Gesichtsausdruck unterschied, mit dem er sie bei ihrer Ankunft bedacht hatte. »So sieht man sich wieder.«
»Hallo«, erwiderte KC, griff nach Michaels Hand und legte sich den Trageriemen der blauen Tasche über die Schulter.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass die Geschenkübergabe reibungslos verlaufen ist?«
»Absolut.« KC nickte und lächelte.
»Das freut mich.« Yasim biss in den Kuchen, und einer der anderen Wachmänner stellte sich neben ihn. Yasim nickte KC zu. »Einen schönen Abend noch.«
Er drehte sich um und ging. Dabei fiel sein Blick auf die lederne Rolle, die aus KCs blauer Tasche ragte. Yasim blieb stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Wollten Sie das Behältnis nicht behalten?«
»Nein.« KC strahlte ihn mit ihrem entwaffnenden Lächeln an. »Das war nur für den Transport.«
Yasims Herzlichkeit war mit einem Schlag dahin. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Behältnis zu öffnen?«
Fragend legte KC den Kopf zur Seite.
»Es tut mir leid, aber uns wurde ein Raubüberfall gemeldet, nur konnten wir bisher nicht feststellen, dass irgendetwas gestohlen wurde. Ich bin überzeugt, dass Sie unter diesen Umständen Verständnis haben.« Yasim schaute Michael an. »An Sie kann ich mich gar nicht erinnern.«
Michael lachte und schaute dabei auf die gewaltige Menschenmenge, die um sie her versammelt war. »Wie wollen Sie sich an siebenhundertfünfzig Personen erinnern?«
Yasim sagte nichts dazu. Er stellte seinen Kuchen und das Sprudelwasser auf einen Tisch ganz in der Nähe.
»Ich bin um zwanzig Uhr dreißig hier eingetroffen«, erklärte Michael. »Mein Name ist Michael Paulson. Ich bin ein Gast der Firma Tram Industries.«
»Natürlich.« Yasim nickte. »Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, mir kurz Ihren Ausweis zu zeigen, Mister Paulson.« Er wandte sich wieder KC zu und zeigte mit dem Finger auf die Rolle. »Darf ich?«
Yasim zog das Funkgerät von seinem Gürtel.
Zwei Polizisten, die ein Stück weiter weg standen, begriffen Yasims Körpersprache. Als er sein Funkgerät in die Hand nahm, kamen sie sofort herüber.
Michael tat so, als wäre er außer sich vor Empörung. Dabei schaute er KC flüchtig an. Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln, bückte sich über die blaue Tasche und griff mit der Hand nach der Lederrolle.
Die beiden Polizisten gesellten sich zu ihnen und hielten die Hände dabei über ihren geholsterten Pistolen. Zwischen ihnen und Yasim kam es zu einem raschen Wortwechsel auf Türkisch, dann zeigte Yasim mit dem Finger auf Michael.
»Sir«, sprach ihn einer der beiden Polizisten an, »er muss wirklich Ihren Ausweis sehen.«
»Selbstverständlich.« Michael schob die Hand in die Jackentasche und legte seine Finger um den Zünder.
Unvermittelt lief die Zeit wie in Zeitlupe weiter.
KC erhob sich langsam aus der Hocke und hielt die Rolle mit dem Stab fest in der Hand. Die gesamte Aufmerksamkeit der Polizeibeamten galt ihrem tiefen Ausschnitt. Yasim sprach in sein Funkgerät. Michael konnte es nicht leugnen: Dieser Mann hatte äußerst feine Antennen. Der Lärm der Menschenmenge verstummte; Michael konnte nicht mehr hören, wie das Orchester »We are Family« spielte. Aus den Augenwinkeln verschaffte er sich einen Überblick über sein unmittelbares Umfeld: Wer stand zu seiner Linken, wer zu seiner Rechten? Wo waren die Ausgänge? Wo befanden sich die anderen Wachen und Polizeibeamten?
In der Jacketttasche legte Michael mit dem Daumen den Sicherheitsschalter des Zünders um. Er blickte KC, die sich gerade zu ihrer vollen Größe aufgerichtet hatte, fest in die Augen. Wie aufs Stichwort lächelten sie einander an.
Jetzt lief die Zeit wieder normal.
Michael drückte auf den Knopf.
***
Die fünf Sprengsätze explodierten zeitgleich und zerrissen die Stille der Nacht. Der mittlere Zeltpfosten zerbarst in tausend Stücke, und die riesige blaue Plane fiel auf das Orchester, die Esstische und den Tanzboden mit den betrunkenen VIPs. Das Zelt der Bar begrub den Barkeeper unter sich, und die Eisskulptur zerbröselte zu einem Regen aus Schnee und Dunst.
Chaos breitete sich unter den 750 Leute aus, die panisch zu den Ausgängen flohen. Es herrschte nackte Verwirrung. Verzweifelte Rufe und gellende Schreie waren zu vernehmen. Auf einmal gab es keine gesellschaftlichen Unterschiede mehr zwischen den Partygästen: Ob von königlichem Geblüt oder reicher Emporkömmling, ob Millionär oder Kellner – der Überlebenstrieb vereinte sie alle, und vereint flohen sie, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Wachen am Tor waren bestens geschult. Beim Anblick der auf sie zustürmenden Menschenmassen zogen sie die Tische und Stühle, die Sicherheitsscanner und sämtliche Absperrungen zur Seite, um den einzigen Ausgang zu räumen. Ihre Mahnungen, die Ruhe zu bewahren, wurden jedoch nicht befolgt. Die Leute hatten Todesangst. Es wurde geschoben und gedrückt, als die Massen sich durch das Begrüßungstor zwängten, über den weitläufigen Janitscharenhof zum Großherrlichen Tor rannten und nach draußen in die Freiheit flohen. Einige stürzten und wurden niedergetrampelt; anderen wurde von heldenmutigen Fremden oder von Wachmännern aufgeholfen, die auch in einer solchen Krise ruhig Blut bewahrten.
Yasim, sein Partner und die beiden Polizisten zuckten zusammen, als sich die Explosion ereignete. Instinktiv gingen sie in die Hocke und schützten ihre Köpfe. Doch als Yasim genauer hinsah, entdeckte er keine Leichen und sah keinen Tod. Der Angriff war nur vorgetäuscht – eine List, ein Ablenkungsmanöver, das die Menschen davon abhalten sollte zu sehen, was hier wirklich lief.
Als Yasim sich endgültig von dem Schrecken erholt hatte, musste er gestehen, dass die List perfekt funktioniert hatte. Michael und KC waren verschwunden.
***
Im Augenblick der Explosion rannten Michael und KC inmitten der anderen Fliehenden zum Ausgang. Als der erste Schock der Leute nachließ, wurde der Pulk hinter ihnen rasch so groß, dass es einer Massenflucht glich.
KC und Michael sprinteten durch das Begrüßungstor. Um sie her war ein Meer aus Menschen. Sie liefen über das offene Gelände auf das Großherrliche Tor zu, dem ersehnten Ausgang zur Freiheit. Dann aber sahen sie eine geschlossene Front aus Wachmännern und Polizeibeamten, mindestens fünfundzwanzig Mann, die unmittelbar nach der Explosion auf das Gelände gestürzt war. Beim Anblick der wogenden Menschenmenge wirkten sie zuerst verängstigt, nahmen dann aber eine kampfbereite Haltung ein.
Die Wachen und Polizisten sprachen in ihre Funkgeräte, nickten und suchten die Menschenmenge ab. Plötzlich zeigte einer auf KC, die mit ihren einhundertachtundsiebzig Zentimetern Körperlänge, ihrem langen blonden Haar und dem blauen Abendkleid kaum zu übersehen war.
Als Michael sah, dass die Wachmänner sie erspäht hatten, scherte er nach rechts aus und rannte auf die Mauer auf der anderen Seite zu.
»Ich hasse so was«, keuchte KC, riss sich die Absatzschuhe von den Füßen und rannte barfuß über den Rasen.
»Ich auch.« Michael nahm ihr die Lederrolle aus der Hand und warf sie sich über die Schulter. In unvermindertem Tempo rannten sie weiter.
Die Polizisten und Wachen versuchten, sich einen Weg durch die drückenden, schiebenden Massen panischer Festgäste zu bahnen. Einige wurden zur Seite gestoßen, andere kamen zumindest ein paar Schritte voran. Fünf Männern gelang es schließlich, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen und den beiden Dieben nachzusetzen.
Michael und KC erreichten die Mauer auf der anderen Seite und erklommen die meterhohe Wand. Sie sprangen über die Brüstungsmauer und landeten auf dem flachen Kiesdach des Archäologischen Museums.
»Das war echt clever«, spöttelte KC, zog ihre Ballerinas aus der Tasche und streifte sie über.
Als sie wieder nach unten in den Janitscharenhof blickten, sahen sie die fünf Wachmänner, die mit gezogenen Waffen und wütenden Gesichtern in ihre Richtung stürmten. Und ohne jede Vorwarnung flogen plötzlich die Kugeln.
***
Busch wartete neben der Limousine. Der Kofferraum stand offen, und die Warnblinkanlage blinkte Michael und KC an wie ein Leuchtfeuer. Busch hatte die Explosion gehört. Obwohl sie ihn erschreckte, überraschte sie ihn nicht sehr. Wenn man mit Michael zu tun hatte, musste man mit so etwas rechnen.
Busch beobachtete, wie Scharen elegant gekleideter Festgäste aus dem Großherrlichen Tor strömten und die Straßen und Bürgersteige überfluteten. Autohupen kreischten den Verkehrsstau aus menschlichen Körpern an, und von panischer Angst gezeichnete Stimmen schrien. Andere weinten vor Erleichterung, überlebt zu haben.
Busch ließ den Blick schweifen, entdeckte aber keine Spur von Michael oder KC. Er griff nach seinem Funkgerät und drückte die Sprechtaste, bekam aber keine Antwort. Er nahm sein Mobiltelefon und wählte Michael an, doch niemand meldete sich.
Drei Minuten lang beobachtete Busch die Menschenmassen, die aus dem Eingang strömten. Dann wusste er, dass Michael nicht kommen würde. Es war nicht Instinkt, der ihm dies sagte, es war Erfahrung.
Rasch kam der Verkehr zum Stillstand. Auf den Straßen standen die Wagen dicht an dicht und Stoßstange an Stoßstange und konnten nirgendwohin ausweichen. Nun ging gar nichts mehr. Es herrschte endgültig das Chaos, und es würde Stunden dauern, bis es sich aufgelöst hatte.
Busch schlug den Kofferraum zu, schwang sich auf den Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel. Zur Bestürzung der anderen Verkehrsteilnehmer vollführte er eine schnelle 180-Grad-Wende und fuhr in östlicher Richtung davon. Er wusste zwar nicht genau, wohin er fuhr, aber wenn Michael den Notstand ausrief – und es bestand kein Zweifel, dass er es tun würde –, musste Busch bereit sein. Dann musste er in der Lage sein, so schnell wie möglich zu ihm zu stoßen.
***
Michael und KC rannten über das sechzig Meter lange Dach des Archäologischen Museums. Michael war erstaunt, wie schnell KC laufen konnte; sie hielt mit ihm mit, als würde sie über den Boden schweben.
Die Schüsse hörten nicht auf. Die Kugeln sprangen über den Kies, prallten von den Balken und Geländern ab. Drei ihrer Verfolger hatten es inzwischen auf das Dach geschafft und jagten ihnen hinterher.
»Die Polizei schießt auf uns«, rief KC.
»Das ist nicht die Polizei. Das sind die Wachen, die man dazu abgestellt hat, den Palast zu beschützen, aber sie haben versagt. Die meinen nicht nur, wir hätten was gestohlen, die glauben auch, wir hätten ihr Kulturerbe in die Luft gejagt. In deren Augen könnten wir sogar Terroristen sein. Die sind stinksauer.«
»Gibt es jemanden, der nicht hinter uns her ist?«, keuchte KC.
Sie sahen es beide zur gleichen Zeit. Genau vor ihnen. Am Ende ihres sprichwörtlichen Weges. Das Dach endete.
»Kannst du drei Meter weit springen?«, rief Michael.
»Ich kann es versuchen.« KC rannte noch schneller.
Als sie die Brüstung erreichten, verlangsamte keiner von ihnen das Tempo, im Gegenteil, sie legten beide noch einen Zahn zu. Ohne ihren Laufrhythmus zu unterbrechen, traten sie auf die Brüstung und sprangen hinein in die Nacht. Sie flogen über die drei Meter breite Gasse und landeten auf dem Asphalt- und Kiesdach des unter Denkmalschutz stehenden Kreshien-Gebäudes. Sie rollten sich über die Schulter ab, sprangen sofort wieder auf, rannten weiter und ignorierten die kleinen scharfen Kieselsteine, die sich auf dem Rücken in ihre Haut gebohrt hatten.
Innerhalb von Sekunden hatten sie das Kreshien-Gebäude schon zur Hälfte überquert. »Der nächste Sprung sind zweieinhalb Meter, schaffst du das?«
»Halt die Klappe«, rief KC.
Sie traten auf die nächste Brüstung, flogen über die Lücke und landeten dieses Mal beide auf den Füßen. Das kleine Blumengeschäft war ein halbes Stockwerk niedriger als das Kreshien. Sie rannten quer über das Dach des kleinen Ladens, blieben am Rand stehen und schauten nach unten auf eine Markise. Michael ließ sich über die Seite gleiten, rollte über die Markise und sprang die zweieinhalb Meter nach unten auf den Bürgersteig. Zwei Sekunden später landete KC neben ihm. Die Schießerei hörte auf; es war kein Geräusch mehr zu hören, das darauf schließen ließ, dass noch jemand auf den Dächern war und sie verfolgte.
Sie befanden sich in einem reinen Wohnbezirk. Die Straße war mit Kopfsteinpflaster belegt, die kleinen Häuser mit Stuck verziert. Hier wohnten hauptsächlich junge türkische Akademiker.
»Wir brauchen einen Wagen«, erklärte Michael, als sie über den Bürgersteig spurteten. Die Straße stand auf beiden Seiten voller Autos: BMWs, Fiats, Audis. Michael ignorierte sie alle, bis er das Richtige gefunden hatte: einen Buick, Jahrgang 1988. Von außen war der Wagen sauber, und die Reifen waren neu.
Michael schlug auf der Fahrerseite das Fenster ein. Der Alarm kreischte mit lautem Protest, als er ins Wageninnere griff, die Tür entriegelte und öffnete. KC sprang auf der Beifahrerseite herein und schloss hinter sich die Tür. Im Innern des Wagens zu sitzen vermochte sie nicht zu trösten, denn der Alarm war wie ein Signal für ihre Verfolger, die sie jeden Moment erreichen konnten. Nervös klopfte sie mit der Hand auf die Armlehne, und ihre Gedanken überschlugen sich.
Dann sah sie die fünf Wachen. Sie waren nur noch einen Straßenblock entfernt und blickten genau in die Richtung, aus der sie den Lärm der Alarmanlage vernahmen. Michael warf KC die Lederrolle mit dem Sultansstab zu und lenkte sie damit für einen Augenblick von ihrer Nervosität ab.
Im nächsten Moment griff Michael mit der linken Hand unter das Armaturenbrett, während er mit der rechten das Messer aus der Sicherung zog, die um seinen Fußknöchel geschnallt war. Seine Hände bewegten sich schnell und sicher. In der einen Hand hielt er ein Gewirr aus Kabeln, in der anderen die scharfe Klinge. Mit einem Griff, der ihm so vertraut zu sein schien wie die eigene Haut, durchtrennte Michael die Zündkabel und schloss sie kurz. Grollend erwachte der Motor zum Leben. Zugleich verstummte die Alarmanlage.
Die Wachen waren nur noch fünfzig Meter entfernt. Wieder hatten sie ihre Waffen im Anschlag und brüllten einander auf Türkisch Befehle zu.
Michael tat so, als wären sie gar nicht da, schlug die Wagentür zu, schaltete das Automatikgetriebe auf Drive und fuhr auf die Straße. Die Räder drehten durch bei dem Versuch, auf dem Straßenbelag Haftung zu finden. Die Autos um ihn her wippten und schlingerten, und die Fahrer hupten wild.
»Ein neueres Modell konntest du dir nicht aussuchen?«, schimpfte KC und schaute dabei über die Schulter aus dem Rückfenster. Ihre Verfolger brüllten Befehle in ihre Funkgeräte.
»Bei den meisten Autos, die nach 1995 hergestellt wurden, schaltet die Zündung sich bei Alarm automatisch aus. Die geben keinen Mucks mehr von sich, wenn du dich den Drähten auch nur näherst.«
Drei Polizeiwagen kamen mit kreischenden Reifen um die Ecke und gerieten kurz ins Schlingern, doch die schweren Motoren rissen sie gleich wieder nach vorn. Michael trat das Gaspedal durch und jagte los.
»Hast du irgendeine Vorstellung, wohin du fährst?«, rief KC. Die Polizei kam immer näher, und Panik machte sich in ihr breit. Wenn man sie schnappte, bedeutete das für ihre Schwester und Simon den Tod. Sie umklammerte die Transportrolle mit dem Stab noch fester.
Michael sprach kein Wort, als er sein Mobiltelefon herauszog, aufklappte und eine der Schnellwahltasten drückte, ohne auf das Display zu schauen. Er hatte gerade eben den Lautsprecher des Handys eingeschaltet, als Busch den Anruf bereits entgegennahm. »Was, zum Teufel …«
»Hör zu!« Michael gab wieder Vollgas und jagte an einem Straßenschild vorüber. »Ich bin auf der Atmeydani, der Hauptstraße vor der Blauen Moschee. Du musst mich hier herausdirigieren.«
Am anderen Ende der Leitung machte sich Stille breit. »Paul?«, rief Michael.
»Zwei Sekunden, ich warte auf das GPS.«
»Wir haben keine zwei …«
»Bieg auf Ozbekler rechts ab, und kurz dahinter noch einmal rechts auf Katip Sinin.«
Michael riss das Lenkrad herum.
»Wie nah sind sie?«, fragte Busch.
»Nicht mal einen Straßenblock hinter uns«, antwortete KC und riss Michael das Telefon aus der Hand.
»Was für einen Wagen habt ihr?«
»Einen blauen Buick, der über jede Ampel und jedes Stoppzeichen fährt. Wir sind kaum zu übersehen.«
»Fahr über die nächsten beiden Kreuzungen und bieg dann scharf links ab auf Piyerloti, dann rechts auf Pertev. Die Straße ist sehr eng, aber egal, was du machst, fahr nicht langsamer.«
KC sah sich um. Der erste Polizeiwagen kam immer näher. Michael bog ab. Mit durchdrehenden, kreischenden Reifen, die einen rauchenden Gummistreifen auf dem Belag hinterließen, schoss er nach rechts davon.
»Paul, würdest du mir bitte sagen, was du da treibst?«, brüllte er.
»Ich verschaffe dir Zeit. Ich habe zwar keine Lösung zur Hand, aber ich kann dir dabei helfen, einen größeren Vorsprung vor denen zu bekommen, die hinter deinem Arsch her sind.«
Michael drehte das Lenkrad scharf nach links und bog gleich wieder rechts ab, so wie Busch es ihm vorgegeben hatte. Die Straße war tatsächlich kaum breiter als der Wagen. Die Hauswände peitschten an ihnen vorüber, und die Luft schoss zischend durch das zerbrochene Fenster auf der Fahrerseite ins Wageninnere. Die Polizeifahrzeuge folgten ihnen weiterhin in perfekter Formation – wie Kavallerie, die sich nicht vom Weg abbringen ließ.
Michael beschleunigte, als er die Kreuzung überquerte, und sah in den Augenwinkeln einen schwarzen Wagen, der genau in ihre Richtung flog und um Haaresbreite mit ihnen zusammengeprallt wäre. Plötzlich war ein kreischendes Geräusch zu vernehmen. KC drehte sich um und sah, dass eine dunkle Limousine mitten auf der Kreuzung stand und die Zufahrt zu der schmalen Straße versperrte. Die Fahrer der Polizeiwagen bremsten so vehement, dass die Reifen qualmten.
Michael fuhr auf die Hauptdurchgangsstraße und trat das Gaspedal voll durch.
Als KC sich umsah, konnte sie Busch sehen und die Polizisten, die aus ihren Wagen sprangen und vor Wut mit den Armen fuchtelten. Ihre Körpersprache sprach Bände.
Michael fuhr noch ungefähr acht Blocks weiter, bis er eine Gruppe Halbstarker erblickte, deren großtuerisches Benehmen ebenso wenig von Unschuld zeugte wie ihr äußeres Erscheinungsbild. Mit Wucht stieg Michael in die Bremse.
»Was machst du denn jetzt?«, rief KC.
»Lass uns abhauen.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, sprang Michael aus dem Wagen. »He«, rief er.
Die fünf jungen Burschen drehten sich um. Sie strotzten nur so vor Kraft und waren auf eine Prügelei aus. Der Anführer kam auf Michael zu. Der wies mit einladender Geste auf den Wagen. »Habt euren Spaß damit.«
Die Halbstarken schauten einander verwirrt an und ließen dann misstrauisch die Blicke schweifen, als witterten sie eine Falle. Andererseits wollten sie nicht, dass Michael es sich wieder anders überlegte, also sprangen sie in den Wagen, der mit laufendem Motor dastand, und jagten davon.
Michael rannte die Straße hinauf.
»Warum hast du das getan?«, fragte KC, als sie ihn einholte und neben ihm her rannte, wobei ihr die Lederrolle bei jedem Schritt gegen den Rücken schlug.
Sirenen heulten in der Nacht. Die drei Polizeiwagen, deren Blaulicht den nicht gerade freundlichen Stadtteil erhellte, jagten dem 88er Buick hinterher. Die Sirenen schienen inzwischen aus sämtlichen Richtungen zu kommen. Einige waren vor ihnen, andere hinter ihnen. Viele schlossen sich der Verfolgungsjagd gerade erst an.
Michael wurde nicht langsamer. Er rannte weiter und blickte zwischendurch immer wieder auf KC. Bei ihren bisherigen Einbrüchen und Diebstählen war sie noch nie in einer Situation gewesen, in der Menschenleben an einem seidenen Faden hingen. Mögliche Konsequenzen hatte immer nur sie selbst zu tragen gehabt, niemand sonst. Aber diesmal war es anders. Wenn sie jetzt versagte, wenn man sie schnappte, war das gleichbedeutend mit Cindys und Simons Tod. Das Überleben der beiden hing davon ab, dass sie und Michael ihre Verfolger abschüttelten.
Unvermittelt blieb Michael vor einem unscheinbaren weißen Haus stehen, das sich in der Mitte einer mit Kopfsteinpflaster belegten Straße befand. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich eine heruntergekommene Metzgerei mit einem großen Schaufenster, in dem Pappschilder hingen. In Türkisch waren die Öffnungszeiten und die Sonderangebote aufgelistet.
Gleich neben dem Geschäftseingang war eine fleckige weiße Tür. Michael öffnete sie, führte KC ins Haus und schloss die Tür hinter ihnen. Über schmale Treppenstufen lief Michael die drei Etagen voran. Sie erreichten das Obergeschoss, wo sich vor ihnen ein langer Gang auftat, der zu beiden Seiten offen war, sodass man nach draußen blicken konnte. Michael lief durch den Gang zur letzten Tür auf der linken Seite und drückte die Klinke. Die Tür öffnete sich. Er hielt sie KC offen, folgte ihr dann und verriegelte die Tür hinter ihnen.
Sie standen in einem dunklen Raum, mit pochendem Herzen und keuchender Lunge, während draußen das Heulen der Sirenen allmählich verstummte. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse. Die Lichter der Stadt drangen durch die schmalen Ritzen zwischen den Lamellen der Fensterläden in ein Zimmer, in dem Weiß dominierte: die Wände und die Fußböden waren weiß, ebenso die Möbel und die Laken. Das Zimmer hatte keinerlei Ambiente. Es gab weder Fotos noch Bilder an den nackten Wänden. Der Raum war kaum größer als ein Hotelzimmer. Der Sitzbereich war zugleich der Schlafbereich. Außerdem gab es eine winzige Küche mit Durchreiche und ein noch winzigeres Badezimmer. Vor dem Schlafbereich befand sich ein Balkon, der einen dramatischen Blick über das alte Istanbul bot.
KC rannte zum Fenster und blickte zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch nach draußen.
»Es ist alles okay«, sagte Michael.
»Nein, sie werden uns finden.«
»Wir sind in Sicherheit.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das hier ist ein geheimer Unterschlupf.«
Fassungslos sah KC ihn an. »Wie konntest du denn wissen, dass wir so etwas brauchen?«
»Ich werde häufiger gejagt und habe damit gerechnet, dass es dieses Mal nicht anders sein wird.«
»Und du bist dir absolut sicher?« KC schaute wieder nach unten auf die leeren Straßen.
Michael legte seine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. »Ich verspreche es dir.«
»Und wenn die Polizei kommt?«
Michael schüttelte den Kopf und rieb ihr sanft über die Wange. »Ich verspreche es dir.«
KC erkannte immer deutlicher, dass sie Michael etwas bedeutete. Er sorgte für sie, und das hatte seit ihrer Kindheit keiner mehr für sie getan. Sie hatte nie einen Freund gehabt, nie einen Ehemann. Niemand hatte sie je beschützt; niemand hatte ihr je versichert, dass das Leben auch nach schweren Schicksalsschlägen weitergeht.
Unvermittelt überkam sie Reue. Sie bereute, ihr eigenes Leben einer Schwester geopfert zu haben, die sterben würde – trotz allem, was sie bisher getan hatte, um sie zu schützen. KC hatte keine Kinder, keinen Partner, mit dem sie ihr Leben teilte, keinen Verehrer, mit dem sie eine ehrliche und dauerhafte Beziehung hätte aufbauen wollen. In diesem Moment jedoch durchflutete sie ein Gefühl überwältigender Wärme.
Michael nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf sanft gegen seine Schulter und tätschelte ihren Rücken, als die Tränen zu fließen begannen. All ihre Wut, ihr Schmerz und ihre Angst lösten sich, und KC ließ es heraus.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie keine Träne mehr vergossen. Seit diesem Tag war sie immer die Starke gewesen, hatte diese Stärke ihrer Schwester zuliebe an den Tag gelegt und behauptet, dass Tränen lediglich ein Zeichen von Schwäche seien und dass zu viele Frauen sie zu häufig vergossen, bei viel zu profanen Anlässen. Sie lernte, ihre Gefühle zu verbergen und ihre Seelenqualen für sich zu behalten. Wenn sie und ihre Schwester kein Geld mehr hatten, um Lebensmittel zu kaufen, wenn sie Angst davor hatte, dass man sie auf frischer Tat beim Stehlen erwischte, oder wenn sie schlaflose Nächte verbrachte, weil sie daran denken musste, dass man ihre Schwester von ihr wegholte, verschloss sie dies alles in ihrer Seele. Sie hatte Angst davor, ins Gefängnis zu kommen; sie hatte Angst davor, die Kontrolle zu verlieren; sie hatte Angst davor, allein zu sein. Aber sie zeigte es nie, sondern stellte sich dem Leben mit einem Lächeln auf den Lippen und den Behauptungen, dass es ihr gut gehe und dass sie froh sei, am Leben zu sein.
Aber jetzt, da Michael sie in den Armen hielt, konnte sie es nicht mehr für sich behalten. Es war zu viel. Ihre ganze Welt brach um sie her zusammen.
Trotz der Risiken und Gefahren, trotz der Bedrohungen, der Wut und der bösen Worte, mit denen sie ihn bedacht hatte, war Michael da. Er war nicht davongerannt, hatte sie nicht verdammt.
KC schaute auf und versank in seinem Blick. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, und Michael küsste sie sanft und dennoch leidenschaftlich. Und das war der Schlüssel, mit dem sich ihr Herz für Gefühle öffnete, die KC vor langer Zeit begraben hatte. Sie erwiderte Michaels Kuss. Michael strich ihr mit der Hand übers Gesicht, fuhr ihr durch das blonde Haar, streichelte ihren Rücken.
Dann gaben beide sich ihrer Leidenschaft hin, und ihre Ängste verwandelten sich in Begierde. Es waren Urgefühle, eine Lust, die aus der Seele kam, rein und unschuldig und voller Verheißungen. Beide sehnten sich nach Befreiung und ergaben sich ganz und gar dem Augenblick. Bald lagen ihre Kleider verstreut auf dem Boden. Sie verbannten jeden Gedanken an Schwestern und Freunde, an Auftragsmörder und Polizisten. Beide wollten Erfüllung, und ihre Herzen schlugen im Takt und trugen sie an einen Ort, an dem sie beide noch nie gewesen waren.
Als sie ein paar Wochen zuvor zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, war es anders gewesen. Da war der Sex von Respekt geprägt gewesen, voller Liebe und Zärtlichkeit. Das hier ging weit darüber hinaus. Sie trieben einander in ganz neue Höhen, als könne die Hitze des Augenblicks all ihre Nöte versengen und sie zu einem Menschen verschmelzen.
Endlich erreichten beide körperlich und seelisch den Höhepunkt, den sie einander so lange versagt hatten. Sie fanden Erfüllung und eine Liebe, die nur wenigen Menschen vergönnt war.
Irgendwann später schliefen sie ein und atmeten im Takt und Gleichschlag ihrer Herzen.
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