40.
KC lag in der Privatkabine im Heck des Royal Falcon Jets auf dem Bett. Sie waren inzwischen seit ungefähr acht Stunden in der Luft und flogen Richtung Osten über die felsigen Wüstenebenen der Türkei. KC hatte gelegentlich aus dem Fenster geschaut, um sich die Sterne anzuschauen; dabei hatte sie festgestellt, dass sie ihren Kurs nicht geändert hatten. Sie waren auf dem Weg ins Herz Indiens. KC wusste, wohin. Zwar kannte sie den Namen des Ortes nicht und wusste auch nicht, wo genau er sich befand, aber sie hatte ihn deutlich markiert auf der Karte gesehen.
Iblis hatte bekommen, was er gewollt hatte. Besser gesagt: Venue hatte es bekommen. Simon hatte KC beschworen, die Karte nicht in Venues Besitz fallen zu lassen, und jetzt … KC fühlte sich, als habe sie ihm die Karte ausgehändigt.
Sie fragte sich, ob Simon wusste, wer Venue in Wirklichkeit war, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Simon war ein viel zu guter Freund, um ihr ein solch verheerendes Geheimnis zu verschweigen.
Sie hatte zum ersten Mal von Venue gehört, als sie und Simon in sein Büro einbrechen wollten, um den historischen Brief zu stehlen. Sie wusste von seinen skrupellosen Geschäftspraktiken, mit denen er schwächste Konkurrenten vernichtete, und dass er weltweit enge Beziehungen zur Unterwelt unterhielt, doch nie wäre sie auf die Idee gekommen, er könne ihr Vater sein.
Er hatte seine kriminelle Vergangenheit gekonnt im englischen Shrewsbury auf dem Friedhof von St. Thomas begraben. Damals, vor all den Jahren, war Finbar Ryan tatsächlich gestorben; KC hatte neben ihrer Mutter gestanden und der Beisetzung beigewohnt. Ihr Vater verschwand von dieser Erde, nur um als Philippe Venue wiedergeboren zu werden, der seinen Holster gegen einen Aktenkoffer eintauschte.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Venue in einem Akt psychotisch väterlicher Fürsorge Iblis losgeschickt, damit er ihrer beider persönlicher Lehrmeister wurde. KC wusste nicht, welchen Beweggrund Venue gehabt hatte oder warum er nie versucht hatte, Kontakt zu ihnen aufzunehmen oder ihnen Geld zu schicken. Sie war dankbar, dass er sich nie gemeldet hatte.
Die Tatsache jedoch, dass er ihren Lebensweg vorbestimmt und Iblis geschickt hatte, damit er eine Kriminelle aus ihr machte, indem er ihre Liebe zu ihrer Schwester benutzte, versetzte KC einen Stich ins Herz. Ihre Mutter hatte ihr immer gesagt, ihr Vater sei ein von Grund auf verderbter und krankhaft gleichgültiger Mann – einer, der nur nehmen konnte. KC verstand nur zu gut, warum ihre Mutter diesen Mann hasste und dass sie Cindy und sie, KC, zu seiner Beerdigung mitgeschleift hatte, damit sie Zeugen seiner Beisetzung wurden.
Aber ihr Zorn auf Venue – als ihren Vater würde sie ihn nie betrachten können – und ihre Wut auf Iblis waren nichts verglichen mit dem Schmerz und der Enttäuschung, die sie ihrer Schwester gegenüber empfand. Sie hatte Cindy großgezogen, hatte alles für sie geopfert, hatte sie ernährt und versorgt. Cindy hatte sich unzählige Male an ihrer Schulter ausgeweint, weil sie keine Eltern hatten oder wegen der Schule und der Jungen. Ihr war nie bewusst gewesen, dass KC niemanden hatte, bei dem sie sich hätte ausweinen können. KC hatte ihrer Schwester zugehört, wenn sie ihr erzählt hatte, wer ihr wann und wie das Herz gebrochen hatte; sie hatte nie zugegeben, dass sie sich dabei jedes Mal fragte, wie es wohl sein mochte, sich zu verlieben, was ja die Voraussetzung dafür war, dass einem jemand das Herz brach.
Mit zunehmendem Alter war Cindy vom Erfolg und vom Geld getrieben gewesen und konnte plötzlich gar nicht mehr aufhören, damit zu prahlen, wie gut sie eines Tages für KC sorgen würde, sobald sie erst ihre Millionen gescheffelt hatte. Sie verlor sich im Materialismus der Jugend und verlor den Blick dafür, was wirklich wichtig war im Leben. Deshalb hatte Iblis es leicht gehabt, Cindy in eine Welt der leeren Versprechungen zu locken, des illusorischen Reichtums, in die Welt des Philippe Venue.
Als KC über das ganze Durcheinander und die vielen Täuschungen und Irreführungen nachdachte, erfasste sie ein Zorn, der ihr beinahe den Verstand raubte. Zorn auf Iblis, der ihr so viel Schlimmes angetan hatte. Zorn auf Cindy für ihren Verrat. Vor allem aber Zorn auf den Drahtzieher, den Mann, der sie alle wie Marionetten manipuliert hatte und den ihre Mutter sie hassen gelehrt hatte: ihren Vater.
Die Tatsache, dass er noch lebte und dass sie in sein Büro eingebrochen war, um den Brief des Großwesirs zu stehlen … Auf einmal war ihr sonnenklar, warum das erste Gemälde, das sie je gestohlen und verhökert hatte, »Das Leiden« von Goetia, bei ihm an der Wand hing. Es war eine Trophäe, die er voller Stolz zur Schau gestellt hatte, wie ein Trainer die Fotos seines Schützlings zeigt, der bei den Olympischen Spielen eine Goldmedaille gewonnen hat.
Und dann drang die letzte Wahrheit an die Oberfläche, die schlimmste von allen. Es war Venue gewesen, der sie ins Staatsgefängnis von Chiron und in den Tod geschickt hatte, und das, obwohl er genau gewusst hatte, dass sie sein eigen Fleisch und Blut war. Gab es etwas Verabscheuungswürdigeres, als sein eigenes Kind zum Tode verurteilen zu lassen?
Ein Fülle von Gedanken jagten KC durch den Kopf. Sie hatte ihr Leben unter Vortäuschung falscher Tatsachen gelebt und fühlte sich mit einem Mal wie eine lächerliche Kreatur. Sie ließ die Jahre Revue passieren, die vielen Opfer, die sie gebracht hatte, die Entbehrungen, ihre Sehnsucht nach Normalität, nach einem Menschen, der sich um sie kümmerte, sie umarmte, sie liebte und ihre Welt wieder heil machte.
Und ihre Gedanken konzentrierten sich auf Michael. Sie hatte sie beinahe gehabt, eine wirkliche, echte Beziehung, die das Herz und die Seele mit Freude erfüllt. Sie hatten für eine Weile ihr Leben geteilt, und dabei hatte es keine Rolle gespielt, ob sie mürrisch oder müde waren, denn mit dem Herzen waren sie einander immer gleichermaßen nahe gewesen. Jetzt verzehrte sie sich nach ihm; sie sehnte sich nach seinen tröstenden Armen, danach, dass er ihr sagte, dass alles gut werden würde.
Für diese Augenblicke der Liebe, so kurz sie auch gewesen waren, für diesen einen Akt der Selbstsucht wurde sie jetzt bestraft, an das Ende der Welt verschleppt von den beiden verachtenswertesten Männern, die ihr je begegnet waren; dem einen, der sie gezeugt hatte, und dem anderen, der sie gedrillt hatte. Und der eine Mensch, von dem sie geglaubt hatte, sie könne sich auf ihn verlassen, ihre eigene Schwester, hatte sie betrogen und sich mit diesen Männern verbündet.
KC tigerte durch die kleine Kabine, durchsuchte den Kühlschrank und fand italienische Salami und Käse. Sie machte sich eine Flasche Wein auf. Sie hatte nicht vor, hier die Märtyrerin zu spielen und nichts zu essen; sie wollte Energie und Kraft haben, wenn sie über Cindy herfiel. Sie legte die Lebensmittel auf einen kleinen Schreibtisch und setzte sich. Sie griff in ihr T-Shirt nach dem Anhänger mit der Gravur, nahm die Kette vom Hals, die Michael ihr geschenkt hatte, legte sie auf die Tischplatte und las die hoffnungsvollen Worte: Morgen ist ein neuer Tag. Und zum ersten Mal, seit sie Michael begegnet war, bezweifelte sie diese Verheißung, bezweifelte nicht nur den Wahrheitsgehalt der Worte, sondern auch, dass sie Michael jemals wiedersehen würde. Sie durchwühlte die Schubladen des kleinen Schreibtischs und fand einen Block und einen Kugelschreiber.
Und als ihr das Herz endgültig brach, schenkte sie sich ein Glas Wein ein und begann zu schreiben.
Liebster Michael,
es tut mir so leid …