27.
KC rannte über die Dächer des Topkapi-Palasts, hatte sich die Lederrolle fest auf den Rücken gezurrt und umklammerte mit der rechten Hand ihre Tasche. Sie lief über den Harem, arbeitete sich vor zum dritten Hof und hielt sich dabei die ganze Zeit geduckt und im Schatten der Dunkelheit. Hin und wieder warf sie einen flüchtigen Blick auf die unüberschaubaren Menschenmassen, die im zweiten Hof feierten, Alkohol tranken und sich gegenseitig zu Leistungen beglückwünschten, die ganz sicher andere vollbracht hatten, die sie sich aber als persönliche Verdienste anrechneten. Die Feiernden bemerkten nicht, was sich über und unter ihnen abspielte.
KC schaltete ihr Funkgerät ab aus Angst, dessen Kreischen könne die Aufmerksamkeit auf sie richten. Sie hielt sich nahe an den Schornsteinen und suchte die Dächer nach Wachpersonal ab, nach Stolperdrähten, nach allem, was nicht dorthin gehörte. Sie war vorsichtig, rannte aber trotzdem schnell. Ihr blaues Abendkleid hatte sie hochgezogen und um der Taille verknotet, damit es sie beim Laufen nicht behinderte.
Sie erreichte das Gebäude, in dem die Miniaturen und Manuskripte ausgestellt waren, und blickte vom Dach auf den Bagger im dritten Hof hinunter. Das mit Absperrungen gesicherte Loch war ein schwarzer Fleck inmitten des nächtlich dunklen Geländes. Auf dem Gelände war keine Menschenseele, sah man von den beiden Wachen ab, die in der Ferne am Tor der Glückseligkeit postiert waren. Deren Aufmerksamkeit war jedoch ganz auf die Festivitäten gerichtet und darauf, die Menschenmenge in Schach zu halten. Dass sich hinter ihrem Rücken etwas abspielte, war den Wachen bisher entgangen.
KC bekreuzigte sich, griff mit den Händen an die Dachrinne, hängte sich daran und sprang. Sie landete in der Hocke inmitten niedriger Büsche und einem Gewirr von Gartenschläuchen. Ihr Körper reagierte auf den Sprung aus drei Metern Höhe mit einer Woge aus Schmerz, die ihren gesamten Körper durchflutete.
Sie huschte hinüber zur Baustelle und kauerte sich zwischen Schaufeln, Harken und Hacken hinter den Bagger. Dann zog sie das Funkgerät aus ihrer Tasche, stellte die Lautstärke so niedrig wie möglich ein und drückte die Sprechtaste. »Michael«, wisperte sie. »Bist du da, Michael?«
Im nächsten Moment erübrigte es sich für KC, auf Antwort zu warten; ihre Angst hatte sich bestätigt, denn sie sah das Seil auf dem Boden liegen. Es führte von der Achse des Baggers, an dem es verknotet war, in Richtung des Baulochs, endete aber, bevor es das Loch erreichte, und lag durchtrennt und zerfranst da.
Ohne auch nur einen weiteren Gedanken zu verschwenden, schnappte KC sich einen der langen Gartenschläuche aus den Büschen, zog ihre Taschenlampe heraus und leuchtete damit in das dunkle Loch hinein. Es war genau so eng, wie sie es in Erinnerung hatte, und sie konnte das Wasser glitzern sehen, als das Licht ihrer Lampe durch den Schacht der Zisterne tanzte. Sie zog ihr Kleid aus und steckte es zusammen mit der Taschenlampe in die Tasche. Ihre nackte Haut glänzte im Licht des aufgehenden Mondes, als sie rasch das lange schwarze Hemd überzog und ihr Haar auf dem Scheitel zusammenband. Dann wickelte sie den Schlauch zweimal um den Rahmen des Bagger-Fahrgestells und verknotete ihn.
KC schaute auf die Lederröhre, in der sie den Sultansstab transportierte. Sie konnte nur hoffen, dass das Behältnis wirklich so wasserdicht war, wie Michael behauptet hatte. Sie nahm zwar nicht an, dass Feuchtigkeit dem Objekt aus Holz und Edelmetall wirklich etwas anhaben konnte, aber sie wollte nicht, dass es nass wurde oder sonst wie zu Schaden kam, bevor sie ihre Schwester zurückhatte. Sie erwog, den Stab zusammen mit ihrer Tasche zu verstecken, entschied sich dann aber dagegen, dieses Risiko einzugehen. Murphy lauerte hinter jeder Ecke, allzeit bereit, die Unvorbereiteten und Törichten mit seinem Gesetz zu konfrontieren. KC hängte sich ihre Tasche quer über Schulter und Brust; anschließend verfuhr sie mit der ledernen Transportrolle genauso. Die beiden Tragegurte sahen aus wie ein schicker Bandelier.
Schließlich wand KC sich den Gartenschlauch um den Körper, hielt sich daran fest und begann mit dem Abstieg in die Dunkelheit. Sie glitt die zwölf Meter hinunter in die Schwärze, entschlossen, ihrer Phobie keinen Raum zu geben, und tauchte ein in das kalte Wasser, das eisige Schauer durch ihren Körper jagte.
Im nächsten Moment spürte sie es: Das Wasser war nicht ruhig wie bei ihrem ersten Besuch. Diesmal schien sie inmitten von Stromschnellen zu stehen, in denen das Wasser um ihren Körper herumwirbelte, ein tosender Strom unbekannter Herkunft, der sich gewaltig von dem stillen Gewässer unterschied, das es vierundzwanzig Stunden zuvor gewesen war. Und wo sie gestern noch in einer stillen, unberührten Welt ein bisschen Frieden empfunden hatte, erschallte jetzt donnerndes Dröhnen aus der Zisterne.
KC klammerte sich an den Gartenschlauch, zog ihre Taschenlampe aus der Tasche und schaltete sie ein. Sie sah sich in der Zisterne um, leuchtete mit ihrer Lampe in sämtliche Richtungen. Das bitterkalte Wasser strömte wie ein Gebirgsfluss im Frühling, der von der Schneeschmelze angeschwollen war. Es floss an ihr vorüber in Richtung der südlichen Mauer, wo die Wellen sich brachen. Vor allem aber war das Wasser gestiegen. KC war überzeugt, dass es ihr am Vortag bis zur Brust gestanden hatte; jetzt umspülte es ihre Schultern.
Endlich fiel ihr Blick auf die Wurzel des Übels. Das Wasser schoss aus der Wand auf der anderen Seite hervor und schickte Strudel und Fontänen in sämtliche Richtungen. Die Mitte der Wand sah wie ein brodelnder Kessel aus, aus dem Wogen und Wellen schäumten.
Unvermittelt schlug irgendetwas gegen KCs Körper, und sie erschrak. Glitschig wand es sich auf der Wasseroberfläche: Michaels Seil, das oben festgeknotet gewesen war, trieb auf dem tosenden Wasser. Obwohl es ausgefranst und nass war, konnte KC deutlich erkennen, dass es mit einem Messer durchtrennt worden war.
Sie schaute auf die Wand am anderen Ende der Höhle, auf die das Wasser der Zisterne zuströmte, und überlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Dort drüben verringerte sich die Stärke der Strömung, sodass das Wasser dort nahezu ruhig war. Sie wusste, dass man niemals etwas erreichte, indem man den einfachen Weg ging; also drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zum Hexenkessel.
Sie watete gegen die Strömung an. Ihre Füße hatten Mühe, auf dem glitschigen Boden den Halt zu wahren. Verzweifelt versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten, klammerte sich mit jedem Schritt, mit dem sie sich den Sturzfluten näherte, fester an die Wand aus Fels und Ziegel. Sie betete, dass Michael noch am Leben war. Zugleich verdrängte sie ihre Angst und ihre Nervosität, genau, wie Michael gesagt hatte: Konzentriere dich ausschließlich auf das, was als Nächstes ansteht. Lass nicht zu, dass deine Gefühle deine Urteilsfähigkeit beeinträchtigen.
Als KC die Wand am anderen Ende erreichte, arbeitete sie sich zentimeterweise auf den Schaum und die Blasen zu, die sich an der Stelle bildeten, an der das Wasser in die Wand gischtete. Der Sog war gewaltig. Wenn sie es richtig in Erinnerung hatte, war das Rohr breit und kurz, kaum länger als anderthalb Meter bei einem Durchmesser von etwa einem Meter. Sie zog zwei Leuchtstäbe aus der Tasche, schüttelte und brach sie und beobachtete, wie das grüne Licht die Wand und den umliegenden Raum erhellte. Sie legte die Stäbe auf den Mauerrand, knipste die Taschenlampe aus und steckte sie in ihre Handtasche.
Ohne auch nur noch eine Sekunde Zeit zu verschwenden, tauchte sie unter Wasser und hielt geradewegs auf das Rohr zu, klammerte sich verbissen an den Rand, weil ihr das Wasser gegen den Körper schlug. Sie stieß sich mit den Beinen vom Boden ab, zog sich mit aller Kraft, die sie aufzubringen vermochte, hinein in die tosenden Fluten und quälte sich gegen die Kraft des tosenden Wassers in das Rohr hinein, wurde dann aber von der Strömung erfasst, wieder nach hinten gerissen und aus dem Rohr herausgeschleudert wie ein Stoffpuppe. Zornig tauchte sie auf und stürmte gleich wieder auf das Rohr zu, als wäre es ein Zweikampf. Sie überprüfte den Sitz ihrer Tasche und der Lederrolle, die sie nach wie vor auf dem Rücken trug, stellte sicher, dass die Tragegurte hielten, holte tief Luft und tauchte erneut unter. Wieder klammerte sie sich am Rand des Rohres fest und zog sich hinein in die Strömung. Ihre Muskeln protestierten und brannten wie Feuer, als sie versuchte, auf dem abgerundeten Boden des glitschigen Rohres Halt zu finden, aber wieder siegte die Gewalt des Wasserdrucks, und sie wurde erneut aus dem Rohr gespien. Sie tauchte auf und spuckte Wasser aus, das ihr in Mund und Nase gedrungen war. Wenn sie nichts fand, woran sie sich festhalten konnte, und ohne halbwegs festen Boden unter den Füßen würde sie es nicht schaffen, durch das Rohr zu schwimmen. Sie war frustriert, nur brachte sie das erst recht nicht weiter; es sorgte lediglich dafür, dass sie noch mehr Zeit verlor, um Michael zu finden.
Sie zog ihre Taschenlampe heraus, knipste sie an und leuchtete an der Mauer empor, um einen Weg zu finden, auf die andere Seite zu gelangen. Doch sie entdeckte nichts. Wenn es ihr gelang, an der anderen Seite des Rohres ein Seil zu befestigen, konnte sie sich daran durch das Rohr hindurchziehen, nur war das ohne Werkzeuge nicht zu schaffen, und es gab auch nirgendwo etwas …
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie drehte sich um und eilte zurück zu dem baumelnden Gartenschlauch. Es klappte im Nu, denn die Strömung half ihr bei jedem Schritt.
Sie steckte ihre Taschenlampe wieder in die Tasche, umfasste den grauen Gummischlauch fest mit den Händen und begann zu klettern. Sie war dankbar für die angeraute Oberfläche des Gummis, denn dadurch hatten ihre nassen Hände und Füße einen besseren Halt. Als sie sich wieder auf dem Gelände des Topkapi-Palasts befand, sah sie sich vorsichtig um und kletterte dann aus dem Loch. Sie erblickte die Gartengeräte, die neben dem Bagger lagen, schnappte sich eine Harke und eine Hacke und ließ sich wieder nach unten in die Zisterne gleiten.
Rasch gelangte sie zurück zu dem Rohr, denn jetzt halfen ihr die beiden Geräte, gegen die Strömung anzukämpfen. Beide Werkzeuge waren etwa anderthalb Meter lang und hatten dicke Holzgriffe. Die Harke hatte am Ende die Form eines großen »T«, und die Hacke war ein perfekter Haken. Beide waren ideal, um durch das Rohr gesteckt zu werden und den Rand auf der anderen Seite zu fassen.
KC tauchte unter und stieß Hacke und Harke ins Rohr hinein, wobei die Strömung gegen sie arbeitete. Sie drehte jedes der Geräte so lange, bis sie spürte, dass sie fest am Rand auf der anderen Seite klemmten. Ohne sich die Mühe zu machen, vorher noch einmal tief Luft zu holen, begann sie, sich an den Geräten durch das Rohr zu ziehen. Die Strömung ließ ihren Körper zittern, peitschte ihr blondes Haar nach hinten, dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte spüren, wie die Rolle und die Tasche auf ihrem Rücken flatterten, weil sie sich loszureißen versuchten.
Innerhalb weniger Sekunden war sie durch, schwamm schnell zur Seite, tauchte auf und hielt die Gartengeräte dabei fest in den Händen. Dankbar füllte sie ihre Lunge mit Luft, während in ihren Ohren immer noch der Lärm des Wasserfalls toste. Der Raum erstrahlte in einem schwachen orangefarbenen Licht, das von Michaels allmählich verglühenden Leuchtstäben stammte.
Im Vorraum der Zisterne toste das Wasser. Während KC es auf der anderen Seite der Mauer mit einer starken Strömung zu tun gehabt hatte, war das, was sie hier sah, eine Art Tsunami, der aus der Wand auf der anderen Seite der Höhle stürzte. Wasser, das unterhalb der Wasseroberfläche hereinströmte, schoss explosionsartig mindestens drei Meter in die Höhe und wie ein Geysir zu den Seiten weg. Der Wasserdruck war ungeheuer.
KC sah sich in dem kleineren Vorraum um. Das Wasser reichte ihr bereits bis zum Kinn. Wenn der Zufluss nicht aufhörte, würde der Raum bis zum Morgen unter Wasser stehen.
Und dann sah sie das Loch in der Seitenwand. Sie kämpfte gegen die Wogen an und kletterte auf den Felsvorsprung. Die Ränder des einen Meter breiten Loches waren schwarz von der Explosion. KC zog ihre Taschenlampe hervor, leuchtete in das Loch hinein und sah den Altar, spürte die Ruhe, die der Raum verströmte, und ließ den Blick über die verschiedenen religiösen Symbole für Frieden und Hoffnung schweifen. Im nächsten Moment sah sie die zertrümmerte Wand. Bunte Mosaikfliesen lagen auf dem Fußboden. Darüber befanden sich drei Löcher von unterschiedlicher Größe. Was immer man dort versteckt hatte, war nicht mehr da. Sie betete, dass Michael in diesem Raum gewesen war und nicht Iblis.
»Michael«, rief sie in die Kapelle hinein und hoffte, er würde antworten, doch es blieb still. Noch einmal rief sie seinen Namen, dieses Mal lauter, bekam aber wieder keine Antwort. Er war also nicht in der Kapelle, und er war auch nicht in dem großen, mit Wasser gefüllten Vorraum oder im Hauptbereich der Zisterne. Als KC zu dem Geysir blickte, der aus dem Rohr unter der Wasseroberfläche schoss, wusste sie, dass sie es niemals schaffen würde, dort hindurchzukommen. Selbst wenn es ihr gelang, sich dem Rohr zu nähern, würde die Gewalt des Wasserdrucks sie zerquetschen.
Wieder schaute sie in die Kapelle, und Entsetzen überkam sie. Als sie sich dann wieder umdrehte und auf das Chaos aus explodierendem Wasser blickte, gab es für sie keinen Zweifel mehr, wo Michael war.
Furcht und Zorn auf Iblis packten sie; Wut auf ihre Mutter, weil sie sich das Leben genommen hatte; Wut auf ihren Vater, weil er sie verlassen hatte, als sie noch Kinder gewesen waren, und Zorn auf die Welt, weil sie so grausam war. Ohne die Karte würden Simon und ihre Schwester sterben. KC rechnete jetzt mit dem Schlimmsten, was Michael betraf. Er war ihretwegen hier unten, riskierte selbstlos sein Leben, nur um …
Über den Lärm der donnernden Kaskaden hinweg rief sie lauter als je zuvor, schrie ihren Zorn in die Welt hinaus, ihr Hilflosigkeit, ihre verlorene Liebe, ihre seelische Qual: »Michael!«
***
Iblis verließ unbehelligt den Topkapi-Palast, telefonierte dabei und informierte die örtliche Polizeibehörde über verdächtige Aktivitäten im Palast. Schnurstracks eilte er zu seinem Wagen. Als er davonfuhr, blickte er zur Sicherheit kurz in seinen Innenspiegel. Der große blonde Amerikaner, der ihm am frühen Abend ständig gefolgt war, saß noch immer vorn in seiner Limousine und schien nicht die leiseste Ahnung zu haben, was ihm soeben durch die Finger geglitten war.
Iblis fuhr die Straße hinauf und parkte hinter der Hagia Sophia. Er öffnete die lederne Transportrolle, ließ die Karte auf den Sitz fallen und starrte auf die hellbraune Gazellenhaut, erstaunt über die präzise Detailarbeit: die tiefen Rot- und Brauntöne, die sorgfältig eingezeichneten Gebirge und Ozeane. Bilder von Tieren auf dem Festland, Bilder von Schiffen auf den Wassern. Inseln und Atolle, Korallenriffe und felsige Küstenstreifen, alle dargestellt mit einem atemberaubenden Maß an Aufwand zu einer Zeit, als es noch keine Theodoliten gegeben hatte, kein GPS, keine Satelliten und keine Kameras – zweihundert Jahre, bevor John Harrison mittels seiner Uhren ermöglicht hatte, den genauen Längengrad auf See zu bestimmen.
Wie die andere Hälfte der Piri-Reis-Karte, die unter einer Eisschicht von anderthalb Kilometern Dicke die Antarktische Landmasse darstellte, die erst in den späten Fünfzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts kartographiert worden war, waren auch auf dieser Karte Geheimnisse verborgen – Geheimnisse, die noch sehr viel größer waren.
Die Handschrift war kunstvoll, stammte von geschulter Hand, und die Anmerkungen waren bildhaft und präzise. Als Iblis die türkischen Worte las, die fünfhundert Jahre zuvor geschrieben worden waren, machte plötzlich alles Sinn. Er begriff, wohin die Karte wies und warum Großwesir Sokollu Mehmet beschlossen hatte, sie vor der Welt zu verstecken. Das hier war nicht nur einfach eine Seekarte, es war in Wahrheit eine Landkarte, eine Darstellung der Welt, die man unter Benutzung vieler Quellen angefertigt hatte und die den Weg zu Orten und Gegenständen wies, die zur damaligen Zeit als extrem kontrovers gegolten hatten. Es war eine Karte, die genaue Wegbeschreibungen zu Geheimnissen enthielt, die ausschließlich Sultanen, Königen und Göttern vorbehalten waren. Iblis wurde klar, warum Philippe Venue diese Karte besitzen wollte. Hier ging es nicht nur um irgendeine Beute, die man einstreichen wollte. Hier ging es um einen legendären Ort, um ein Mysterium, nach dem Herrscher, Könige und Despoten seit Jahrtausenden suchten.
Die Karte, die Iblis in den Händen hielt, führte in eine Welt, um die sich die Nebelschwaden einer uralte Legende rankten.
***
Michael schlug hart auf dem Boden auf, denn das Abflussgitter, das mit der Handschelle an seinem Handgelenk verankert war, riss ihn mit sich und zog ihn hinab in den Tod. Kaum dass er den Boden berührte, wurde sein Körper von der Strömung mitgerissen – eine reißende Flut, die ihn gewaltsam mit sich zerrte und mit den Füßen voran in das Rohr am Fuß der Mauer sog. Doch unmittelbar davor blieb er stecken, denn das Gitter schlug gegen die Wand, und sein Arm, der ja am Gitter festhing, wurde brutal gezerrt. Sein Körper wurde hin und her geworfen von der Kraft des Wassers. Die Strömung wirbelte um ihn herum, um dem gewaltigen Druck zu entkommen. Michaels Neoprentasche mit den Handwerkszeugen schlug ihm gegen die Lenden wie ein Sack, der mit Steinen gefüllt war. Er versuchte, irgendetwas zu erkennen, doch außer Schaum und Blasen, die aus dem Loch schossen und um ihn herumpeitschten, konnte er nichts erkennen.
Es waren erst fünf Sekunden vergangen, aber seine Lunge brannte bereits wie Feuer. Nach dem Kampf oben und dem Kampf unten wusste Michael, dass ihm weniger als dreißig Sekunden blieben. Dann würde ihm die Luft ausgehen.
Michael griff an seinen Gürtel und fand den Schraubenzieher auf Anhieb. Fest umklammerte er ihn mit der rechten Hand, zog ihn aus dem Gurt und bewegte ihn nach oben auf die Handschellen zu. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Griffe vorzustellen, die er bei Tageslicht schon viele Male vollführt hatte – ohne Belastungen durch Wasser, Druck und Strömungen. In Michaels Brust brannte es immer mehr, und sein Handgelenk war blutverschmiert und gefühllos. Langsam machte sich Verzweiflung in ihm breit, doch er bemühte sich mit aller Macht, die Hand ruhig zu halten und präzise zu arbeiten.
Geschickt schob er die dünne Klinge an seinem Arm entlang zum Handgelenk, schlug die Spitze des Schraubenziehers in den Rand des Armschlitzes der Handschelle, traf aber nicht und rammte sich den Schraubenzieher in die Handfläche. Doch er ignorierte die tosende Strömung und den Schmerz in seiner Hand, konzentrierte sein ganzes Denken und Trachten ausschließlich auf das Schloss, versuchte es noch einmal, ganz langsam, ganz so, als fädelte er einen Faden in eine Nadel ein. Und dieses Mal glitt die dünne Klinge hinein in den Schlitz, drückte die Arretierung von den Zähnchen weg, und sein Handgelenk war frei.
Jetzt, da das Abflussgitter nicht mehr an ihm hing und sein Körper nicht mehr festgehalten wurde, wurde Michael mit gewaltiger Kraft in das Rohr und in die Fluten des tosenden Wassers gesaugt. Er wurde gegen die Wände des zwölf Meter langen Rohres geschleudert. Sein Kopf und sein Körper schlitterten an den Seiten entlang, bis er schließlich in das Wasserbecken im Vorraum der Zisterne geworfen wurde. Er tauchte auf und schnappte gierig nach der feuchten Luft. Mit geschlossenen Augen ließ er sich auf dem Rücken treiben, gewann allmählich die Fassung zurück und bekam den Kopf wieder frei, obwohl der Schmerz, der sich in seinem ganzen Körper Kämpfe lieferte, ihn abzulenken versuchte.
Iblis hatte ihn besiegt.
Michael wusste nicht, was er KC sagen sollte, aber bis dahin blieb ihm ja noch Zeit. Da der Zugang durch den Harem überschwemmt war und man sein Seil zerschnitten hatte, würde er einen anderen Weg finden müssen, hier herauszukommen. Wenigstens war KC in Sicherheit – hoffte er zumindest.
Endlich öffnete Michael die Augen, sah sich um und war erstaunt, dass seine Leuchtstäbe noch nicht ganz verglüht waren. So gern er hier herauswollte – er war glücklich, diesen Raum zu sehen. Es bedeutete, dass er noch am Leben war.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es hallte von den Wänden wider und kam näher, direkt auf ihn zu. Sekunden später blickte er geradewegs in KCs Gesicht.
Beide waren völlig durchnässt und grenzenlos erschöpft.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte KC mit müder Stimme.
»Ja.« Michael nickte.
Betreten starrten sie einander an, und in ihren Augen spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle. Keiner berührte den jeweils anderen; dieser fehlende Körperkontakt machte die ohnehin unbehagliche Situation noch unbehaglicher. Nachdem sie einander eine kleine Ewigkeit angeschwiegen hatten, ergriff Michael schließlich das Wort.
»Was treibst du hier unten?«, fragte er verwirrt. »Du solltest bei Busch sein.«
»Ich bin hergekommen, um dir zu helfen«, erwiderte KC.
»Ich brauche keine Hilfe.«
»Tatsächlich?«, vergewisserte KC sich ungläubig und erschrak, als sie sah, wie geschunden Michaels durchnässter Körper war.
»Hast du den Stab geholt?«, fragte er.
KC drehte sich um, zog die Rolle herunter, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatte, und hielt sie ihm unter die Nase wie einen Pokal. »Und du?«, fragte sie spitz zurück. »Hast du die Karte gefunden?«
»Schon …«, begann Michael, verstummte dann aber.
»Da drin?« KC wies auf die zertrümmerte Mauer, die in die Kapelle führte.
Michael nickte.
KC betrachtete seinen Körper, entdeckte aber nirgendwo einen Hinweis, dass er die Karte mit sich führte.
»Nun ja …«, meinte Michael abwehrend und griff dabei unbewusst an die Neoprentasche, die um seine Lenden baumelte.
KCs Blick wurde ernst. »Iblis?«
»Sei unbesorgt.«
»Unbesorgt?« KC drehte Michael den Rücken zu und schaute sich um in der vergessenen Welt, die sie umgab, blickte auf das Wasser, das brodelnd aus dem Rohr strömte. »Wie sollen wir meine Schwester zurückbekommen, wo er jetzt weiß, dass wir versucht haben, die Karte zu stehlen?«
»Iblis hat vielleicht die Karte, aber was er wirklich braucht«, Michael zeigte auf KCs Lederrolle und senkte die Stimme, sodass sie einen beruhigenden Tonfall annahm, »hast du da in der Hand. Er wird nicht riskieren, dass du ihm das nicht gibst. Cindy und Simon wird nichts geschehen, solange du das da festhältst.«
KC stand da, ohne auf Michael oder seine Worte einzugehen. Sie schaute nur auf die Lederrolle in ihrer Hand, die über das Schicksal von Cindy und Simon entschied.
»Aber zuerst das Wichtigste«, fuhr Michael fort bei dem Versuch, KC dazu zu bringen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Wir müssen wieder nach oben.«
KC drehte sich um und sah Michael endlich wieder an. »Das habe ich geregelt.«
»Ach, wirklich?« Michael versuchte seine Skepsis mit einem Lächeln zu mildern.
»Wirklich«, erwiderte KC. »Ich schaffe uns hier ruckzuck raus.«
»Also gut«, sagte Michael, wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Mauer auf der anderen Seite und zu dem Rohr, aus dem es nach draußen ging. Er ließ sich auf dem Rücken treiben. Die Strömung trug ihn auf das anderthalb Meter lange Rohr zu, das jetzt wie ein Abfluss arbeitete. KC schnallte sich die Lederrolle auf den Rücken und folgte ihm.
Als Michael das Rohr erreichte, holte er tief Luft, tauchte unter und wurde mit den Füßen voran hineingesaugt. Die Arme streckte er zu beiden Seiten aus, um zu verhindern, dass er gegen die Innenwand des Rohres geworfen wurde. Er wurde ausgespien und landete in der Hauptzisterne. Die Welt um ihn her war pechschwarz; hier drinnen glühten keine Leuchtstäbe mehr. Michael griff in seine Tasche und zog die Taschenlampe heraus. Als er sie einschaltete, brach sich der Lichtstrahl an den Wänden. Michael drehte sich um und leuchtete in Richtung der Wand, wo KC gerade aus dem Rohr gespien wurde. Kaum dass sie aufgetaucht war, rieb sie sich das Wasser und das blonde Haar aus dem Gesicht. Michael musste grinsen, als er an ihre Vorliebe für Extremsport denken musste und sich fragte, ob das hier wohl sportlich und extrem genug für sie war.
Er und KC wateten durch das schulterhohe Wasser der Zisterne. Beide zitterten am ganzen Körper, weil das Wasser bitterkalt war.
»Bevor wir aus dem Haupteingang nach draußen gehen«, sagte Michael, »müssen wir irgendwie hier unten rauskommen.«
Als KC nicht antwortete, blickte Michael sie fragend an.
Ohne ein Wort zu sagen, leuchtete KC mit der Taschenlampe an dem Gartenschlauch entlang, der unten im Wasser hing und oben in der Decke verschwand.
»Okay.« Michael grinste. »Dann sind wir ja fast schon zu Hause.«
***
Geplagt von banger Erwartung saß Busch noch immer hinter dem Steuer der Limousine. Die letzten VIP-Partygäste waren längst in den Palast gegangen, und die Paparazzi hatten sich erst einmal verzogen, um sich einen Drink zu genehmigen und neue Kräfte zu sammeln, um später das vor die Linse zu bekommen, was da unweigerlich kommen würde: das trunkene Taumeln irgendwelcher Damen und Herren der besseren Gesellschaft.
Die Welt schien sich ein wenig beruhigt zu haben, und Stille hatte sich über die Altstadt Istanbuls gesenkt, da das bunte Treiben der Party jetzt nur noch hinter den Mauern des Topkapi-Palasts stattfand. Da kam plötzlich eine ganze Kolonne von Polizeiwagen schlitternd vor dem Haupteingang zum Stehen. Aus den acht Wagen sprangen dreißig Polizisten, die zwar mit gezogenen Waffen in verschiedene Richtungen ausschwärmten, aber alle das gleiche Ziel hatten. Je eine Vierergruppe rannte nach Osten und nach Westen, während weitere vier Gruppen auf das Palastgelände stürmten.
Busch schlug das Herz bis zum Hals. Er wusste, dass die Polizisten nur aus einem einzigen Grund hier sein konnten.
***
Nachdem sie sich am Gummischlauch nach oben gezogen hatten und aus dem Bauloch geklettert waren, sprangen Michael und KC auf und schauten sich auf dem Hof um, der in völliger Dunkelheit lag. Der Partylärm drang durch das Tor der Begrüßung, das als eine Art Trennwand zwischen dem zweiten und dritten Hof fungierte. In der Blüte des Osmanischen Reiches war der dritte Hof das Allerheiligste des Sultans und seiner Familie gewesen, ein Refugium, das ausschließlich die Familie des Sultans zu Gesicht bekam und die wenigen Mitarbeiter, denen er vertraute. Zur Linken befanden sich die Schatzkammer und das Kostümmuseum; davor stand der weiße Marmorbau der Bibliothek von Ahmed III. Die beiden Wachmänner standen immer noch vor dem Tor der Glückseligkeit, mit dem Rücken zum dritten Hof, nicht ahnend, das nur siebzig Meter hinter ihnen zwei Diebe standen.
Als Michael und KC die Blicke über das Gelände schweifen ließen, die Ohren spitzten und lauschten, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, ob die Luft wirklich rein war, stellten sie fest, dass sich nirgendwo weitere Wachmänner oder Polizisten befanden, doch sie wussten beide, dass es nicht so bleiben würde.
»Also«, flüsterte KC, als sie in nordöstlicher Richtung auf die Marmormauer zuliefen, wo sich am Ende des Gehweges eine große schwarze Eisentür befand. Sie schaute Michael über die Schulter an. »Die Zeit läuft.«
»Wo willst du denn hin?« Michael zeigte auf die Mauer hinter ihnen. »Wir müssen über die Mauer und hinten raus.«
»Wir gehen durch den Harem«, entgegnete KC.
»Da verlaufen wir uns.«
»Auf der Mauer schnappen sie uns. Selbst wenn wir es bis auf die Straße schaffen sollten – sieh uns doch an. Wenn uns irgendein Bulle zu Gesicht bekommt, sind wir geliefert.«
Michael musste ihr recht geben: Sie beide sahen aus wie Penner. »Gehe ich recht in der Annahme, dass im Harem die Möglichkeit besteht, sich umzukleiden?«
KC lächelte und nickte.
Unter diesen Umständen war nichts gegen KCs Vorschlag einzuwenden, und so eilten sie und Michael über den kopfsteingepflasterten Gehweg auf die Eisentür zu. Ohne stehen zu bleiben, griff KC in ihre Tasche, zog eine lederne Brieftasche heraus und klappte sie auf.
»Hübsch«, meinte Michael, als er ihr über die Schulter blickte und einen Satz kleiner schwarzer Werkzeuge sah, von denen keines länger war als ein Bleistift. »Sonderanfertigung?«
KC nickte. Ihre Einbruchsutensilien waren zwölf Jahre alt und paradoxerweise ein Geschenk von Iblis gewesen – was sie aber niemals zugegeben hätte. Sie erreichten die große schwarze Tür. Michael beugte sich vor, hielt den richtigen Dietrich bereits in der Hand und steckte ihn in das Türschloss. »Ich fertige meine Werkzeug selbst an.«
KC schüttelte den Kopf und ließ die Brieftasche wieder in ihre Tasche gleiten.
Michael blieb kurz stehen, zog den Reißverschluss seiner schwarzen Tauchtasche auf, nahm zwei handgroße rechteckige Platten heraus und reichte sie KC. Wortlos, als hätten sie das Ganze geprobt, drückte KC ein Ohr an die Tür und fuhr mit den beiden Magneten an der Oberseite des Türpfostens entlang, hielt inne, als sie das leise Klicken vernahm, und ließ den ersten Magneten los. Mit dem zweiten Magnet arbeitete sie sich auf die gleiche Weise an der Seite des Türpfostens entlang, bis ein neuerliches Klicken ihr verriet, dass auch der zweite Alarmsensor reagierte. Dann ließ sie auch diesen Magneten los, dessen Anziehungskraft verhinderte, dass die Alarmanlage auf der anderen Seite der Tür reagieren konnte. Es war einer der simpelsten Tricks überhaupt: ein Magnet, der gerade mal fünfzig Cents kostete, setzte einen Tausend-Dollar-Schaltkontakt außer Gefecht.
Jetzt befasste Michael sich wieder mit der Tür und drückte mit geschickter Hand die kleinen innenliegenden Stifte des Zylinders zurück, entriegelte auf diese Weise das Schloss und öffnete die Tür.
Die beiden schlüpften in den im Dunkeln liegenden Korridor. Zu ihrer Rechten befanden sich die Gemächer und der Innenhof der Favoritinnen, der Lieblingsfrauen des Sultans. Je tiefer Michael und KC in den Harem vordrangen, desto mehr wurde ihr Umfeld zu einem osmanischen Labyrinth mit unzähligen Korridoren und Hunderten von Zimmern. Sie konnten sich nicht erinnern, bei ihrer Tour am Vortag auch nur einen einzigen dieser Rundbogengänge gesehen zu haben.
Sie liefen an der Hünkâr Sofası vorbei, dem Sultanssaal, einem dunkelrot, blau und gold verzierten Raum, in dem der Sultan sich auf jede nur denkbare Weise unterhalten ließ, sei es von Vorlesern, die Prosa rezitierten, von europäischen Schauspielern oder Minnesängern, von fernöstlichen Zauberern, indischen Schlangenbeschwörern oder afrikanischen Stammesfürsten, die ihm mit Löwen, Zebras und anderen exotischen Tieren ihre Aufwartung machten.
Michael und KC rannten an Treppenaufgängen und Säulengängen aus weißem und tiefrotem Marmor vorüber und durch blau gekachelte Korridore. Nichts von alledem hatte auf ihrem Besichtigungsprogramm gestanden. Sie rannten schneller, als sie den von Säulen gestützten Eingang zu jenem Teil des Harems erreichten, in dem einst die schwarzen Eunuchen residiert hatten. Hier stießen sie auf einen offenen Gang, aus dessen kleinen Fenstern man auf das Gelände des Palasts und die Party blicken konnte, die an diesem Abend dort stattfand.
Beide schauten auf die Menschenmenge.
»So wie wir aussehen, können wir da nicht raus«, sagte Michael und wies dabei auf ihre durchnässte Kleidung.
KC huschte um die Ecke und zog das blaue Abendkleid aus ihrer Tasche. Zum Glück hatte die wasserdichte Beschichtung ihrer Tasche das Kleid trocken gehalten. Sie glättete die Falten und Knitter, so gut es ging, und streifte das Kleid über. Dann bürstete sie ihr langes blondes Haar aus, band es sich hinten zusammen und schlüpfte in die Pumps mit den hohen Absätzen. Sie hoffte, dass die Knitter in der nächtlichen Beleuchtung nicht allzu sehr auffielen.
Michaels Herz setzte einen Schlag aus, als er sie erblickte, so unglaublich war die Veränderung.
KC reichte Michael ihre Handtasche und die Lederrolle, die den Stab des Sultans enthielt.
»Wo willst du jetzt hin?«, fragte Michael.
»Ich werde dir einen Anzug besorgen«, erwiderte KC, schlich aus der Tür des Harems und versteckte sich in den Schatten des Diwans, dessen Überdachung und dicke Säulen gegen die Lichter der Party schützten, sodass niemand bemerkte, dass KC aus einer Tür kam, zu der Unbefugten der Zutritt verboten war. Mit einem Satz stand sie unter dem Torbogen, lief majestätischen Schrittes weiter und mischte sich unter die Menschenmenge. Das Fest hatte monumentale Ausmaße; es gab siebenhundertfünfzig Gäste. Vor dem Tor der Glückseligkeit befand sich der Empfangsbereich, wo man ein großes Podest errichtet hatte, genau so, wie es vor fünfhundert Jahren gewesen war, als der Sultan dort auf seinem Thron gesessen hatte, um die Massen zu begrüßen. An der Seite, gleich neben dem Küchenbereich, stand ein Podium für das Orchester, und ein riesiges Zelt erhob sich über den mehr als einhundert Tischen, die mit weißen Leinentüchern gedeckt und mit frischen blauen Schwertlilien geschmückt waren. Auf jedem Tisch standen große königsblaue Taschen, die mit Partygeschenken für die Gäste und Werbeartikeln gefüllt waren, darunter Segeltaschen. KC betrat das Zelt und nahm sich eine dieser Taschen. Sie wusste nicht, was darin war, hoffte aber, dass sie den Inhalt irgendwie würde gebrauchen können.
Sie drehte sich um und ließ den Blick über die Menschenmasse schweifen: die Power-Elite, leicht zu erkennen an ihrem jugendlichen Alter und ihrer Ausstrahlung, die förmlich herausschrie, dass sie auf dem Weg nach oben waren; die Geschäftsleute, die in ihren Armani-Anzügen einzelne Grüppchen bearbeiteten in der Hoffnung, Geschäftsabschlüsse tätigen zu können; die Politiker, die eifrig potentielle Wählerhände schüttelten und dabei strahlten wie die Honigkuchenpferde. KC fragte sich, ob auch nur einer von diesen Leuten noch daran dachte, weshalb diese Party gegeben wurde und was für ein Meilenstein es für ein vorwiegend islamisches Land war, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Damit wurde eine Brücke zwischen zwei Welten geschlagen.
KC schaute zum Haupttor und sah zwei Polizisten, die sich mit den Wachen unterhielten. Als sie ihre Blicke über das Gelände schweifen ließ, erspähte sie weitere Wachmänner, die sich mit Polizeibeamten zusammengetan hatten und die Runde machten.
Im nächsten Moment spürte KC, das jemand sie anstarrte. Dieser Jemand war weder ein Wachmann noch ein Polizeibeamter. Er stand inmitten einer Gruppe von Männern mittleren Alters, die alle Drinks in der Hand hielten, und grinste sie anzüglich an. KC betrachtete den Mann genauer. Er war eins achtzig groß, breitschultrig und tadellos gekleidet. Der schwarze Anzug war von Zegna, und die Hermès-Krawatte passte genau zu dem Einstecktuch, das die blaue Farbe der Flagge der Europäischen Union hatte.
Der Mann löste sich aus der Gruppe, kam auf KC zu und nahm im Vorübergehen zwei Champagnerflöten vom Tablett eines Kellners. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, und seine braunen Augen lagen unter schweren dunklen Lidern. Er lächelte, als er sich KC näherte, und reichte ihr eines der Gläser.
»Guten Abend.«
KC erwiderte sein Lächeln.
»Jean Frank Gittere«, stellte der Mann sich vor, und sie stießen miteinander an.
»Katherine«, erwiderte KC.
»Sind Sie allein hier?«
KC nickte.
»Was für ein Zufall!«
KC warf einen verstohlenen Blick auf den Ehering, den er am Finger trug.
»Haben Sie schon zu Abend gegessen?«, fragte Jean Frank.
»Zu viel, fürchte ich. Ich werde morgen ein paar Extrarunden joggen müssen.« KC fuhr sich bedächtig mit der Hand über den Kopf, mit einer geübt langsamen, verführerischen Bewegung.
Jean Frank lächelte und schaute in Richtung des Orchesters, das gerade mit einem neuen Stück begann. Leute erhoben sich von ihren Stühlen und begaben sich auf die Tanzfläche. »Darf ich Sie um einen Tanz bitten?«
»Vielen Dank.« KC lächelte. »Aber nein. Ich bin eine entsetzliche Tänzerin und möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen. Ein Spaziergang vielleicht?«
Jean Frank nickte und hob galant den Arm. KC hakte sich bei ihm ein, und sie schlenderten sie auf den Diwan zu.
»Warum sind Sie heute Abend hier?«, fragte KC.
»Meine Firma unterhält enge Kontakte zu sämtlichen EU-Mitgliedsstaaten. Wir haben die Feierlichkeiten heute Abend in erheblichem Maße mitfinanziert.«
»Was machen Sie genau?« KC tat so, als wäre sie ernsthaft interessiert. Gemächlich schlenderten sie unter der Überdachung des Diwans dahin. Da es dunkel war, konnte KC nur ahnen, wie der Mann in den tiefen Ausschnitt ihres Kleides spähte. Schließlich blieben sie stehen, genau vor dem Eingang zum Harem.
»Import und Export.«
»Waren oder Menschen?«, witzelte KC. Sie stellte sich vor ihn, sah ihm fest in die Augen und sprach damit eine deutliche Einladung aus.
»Wein«, sagte er und versank dabei in ihren Augen. »Nur der allerbeste.«
»Ich liebe Wein«, hauchte KC so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
»Und Sie?«, fragte er. »Was führt Sie hierher?«
»Ich bin wegen meiner Schwester hier«, sagte KC die volle Wahrheit.
Jean Frank erhielt nie die Gelegenheit, KC weiter nach ihrer Schwester zu befragen, weil Michael von hinten zupackte, ihm seinen Unterarm um die Kehle schlang und zudrückte, bis der Körper erschlaffte. Michael zog den Bewusstlosen durch die offene Tür in den Harem.
»Du liebst Wein?«, fragte er, während KC die Tür hinter sich schloss.
»Nun mach aber halblang! Ich habe ihn geschnappt, oder?«
»Du hast dabei ausgesehen, als hätte es dir Spaß gemacht«, erwiderte Michael, halb im Scherz, halb aus Eifersucht.
»Kann sogar sein.« KC kniete sich auf den Boden, machte sich an den Schuhen des Mannes zu schaffen und schnürte sie auf.
Michael zog Jean Frank die Sachen vom Leib und streifte sie seinerseits schnell über. Dann hüllte er den bewusstlosen Mann in seine nassen Kleidungsstücke und fesselte ihn mit seinem Gürtel und KCs nassem Hemd.
»Er wird seiner Frau so einiges erklären müssen.« KC sah, dass Michael nach draußen auf das Partygewühl schaute. »Da sind sehr viele Polizisten«, murmelte er. »Was ist in der Zaubertasche?«
KC leerte die blaue Segeltuchtasche mit den Partygeschenken und breitete auf dem Fußboden Zeitschriften, Parfums und Prospekte aus.
»Nein, ich meinte die da«, sagte Michael und zeigte auf KCs Handtasche, die ebenfalls auf dem Fußboden lag.
»Außer Make-up? Ein Messer, Mobiltelefon, Taschenlampe … nicht viel, was uns jetzt helfen könnte. Wie steht es bei dir?«
Michael öffnete seine Neoprentasche. »Sprengstoffschnüre, ein paar elektronische Sprengkapseln, Zünder, Taschenlampe, mein Handy und mein Funkgerät, Hammer und Meißel … mein Stemmeisen und meinen Schraubenzieher habe ich im Wasser verloren, aber das Messer habe ich noch.« Michael schaute wieder nach draußen auf das festliche Treiben.
»Wenn Iblis die Polizei einschaltet, ist hier der Teufel los. Dann würden wir ein massives Ablenkungsmanöver brauchen, um hier rauszukommen.«
»He.« Michael konnte in KCs Augen sehen, wie angespannt sie plötzlich war. »Wir werden Cindy und Simon zurückbekommen.«
»Aber Iblis hat die Karte. Was, wenn er das hier jetzt gar nicht mehr braucht?« KC hielt die Transportrolle mit dem Sultansstab hoch.
»Und ob er das braucht.«
»Woher willst du das wissen?«
Michael dachte an den Brief von Bora Celil, dem Kapitän, dem Kemal Reis vertraut hatte, und an seine geheimnisvollen, warnenden Worte, die sich nicht nur darauf bezogen, wohin die Karte führte, sondern auch auf den Stab an sich. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass die beiden Dinge zusammengehörten. Venue brauchte sowohl die Karte als auch den Stab, um sein Ziel zu erreichen, was immer das auch sein mochte. Es stand außer Frage: Iblis würde Istanbul nicht verlassen ohne den Stab, den KC in den Händen hielt.
»Ich weiß es einfach«, gab Michael endlich zur Antwort. »Und mach dir keine Sorgen um die Karte, die hole ich uns zurück.« Michael zeigte auf die lederne Transportrolle, die den Stab enthielt. »Halt das ganz fest, okay?«
»Wie willst du dir denn die Karte zurückholen?«
»Da musst du mir einfach vertrauen«, erwiderte Michael.
»Es tut mir leid«, meinte KC, und ihre Miene entspannte sich. »Es tut mir leid, dass ich dich in diese Sache hineingezogen habe.«
»Machst du Witze? Was sollte ich an einem Samstagabend denn sonst tun?«
KC lächelte. Sie war froh, dass Michael selbst im Angesicht der Gefahr noch Sinn für Humor hatte.
»Ich will dich zwar nicht verrückt machen, KC, aber noch einmal: Egal, was wir tun, lass den Stab nicht aus den Augen!«
Michael zog eine der Schnüre aus formbarem Sprengstoff aus der Tasche und schnitt sie in fünf jeweils dreißig Zentimeter lange Stücke. In jedes drückte er eine elektronische Sprengkapsel und verstaute sie dann in der blauen Tasche.
»Michael, dabei werden Menschen zu Schaden kommen«, warnte KC.
Michael legte den Kopf zur Seite. »Ich werde niemanden in die Luft jagen. Vertrau mir.«
Er überprüfte das Messer, das an seinem Fußknöchel klemmte, und stellte fest, dass es an seinem Platz war. Er strich die Krawatte glatt, durchsuchte die Hosen- und Jacketttaschen und fand eine Brieftasche. Er zog sie heraus und warf sie dem bewusstlosen Mann am Boden auf die Brust. Dann förderte er den kleinen Sprengzünder zutage, kontrollierte die Not- und Sicherheitsschalter und steckte das Gerät in die Tasche seines Jacketts.
Er öffnete seine Neoprentasche, nahm sein Mobiltelefon und das Funkgerät heraus und steckte sie zu dem Zünder in die Tasche. Als Nächstes griff er sich die Sprengkapseln, die noch übrig waren, sowie den Hammer und den Meißel, legte alles neben dem bewusstlosen Jean Frank auf den Boden und hängte die schwarze Tauchtasche um die Schulter des Mannes.
KC hob die blaue Segeltuchtasche vom Boden und steckte die lederne Transportrolle mit dem Stab hinein. Obwohl sie nicht ganz hineinpasste und leicht überhing, würde sie so nicht die Aufmerksamkeit erregen, die sie auf sich ziehen würde, wenn sie die Rolle über ihrem rückenfreien Kleid trug. Sie hielt Michael die offene Tasche hin, und er hob die Magazine und die Poster vom Boden und legte sie auf ihr illegales »Mitnehmsel«, sodass die Tasche jetzt einigermaßen typisch aussah für jemanden, der die Veranstaltung verließ. KC warf sich ihre Handtasche über die Schulter, drehte sich um und lächelte.
Michael öffnete die Haremstür. Sofort drang Musik zu ihnen herüber. Noch einmal drehte er sich zu KC um und streckte ihr die Hand entgegen. »Hättest du Lust zu tanzen?«
***
Busch saß in der Limousine und wartete. Er hatte das Gefühl, als würde er immer warten. Er wartete auf Michael, er wartete auf seine Frau Jeannie, er wartete auf seine Kinder. Normalerweise machte ihm das Warten nichts aus, aber da er hier das Spiel der Yankees gegen die Red Sox nicht im Radio empfangen konnte – es schien in Istanbul keinen einzigen Radio-Sportkanal zu geben –, wurde die Sache langsam zu einer schier endlosen Warterei. Michael ging in den Topkapi-Palast, Iblis ging hinein, KC ging hinein, und er, Busch, hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier lief. Und jetzt war auch noch massenhaft Polizei auf der Party, und die suchten ohne jeden Zweifel nach seinen Freunden.
Sein Mobiltelefon läutete. Busch antwortete sofort. »Wird aber auch Zeit.«
»Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören«, erwiderte Michael.
»Würde es dir etwas ausmachen, mir zu verraten, was ihr treibt?«, wollte Busch wissen.
»Wir tanzen.«
»Du willst mich wohl verarschen.«
»Hör zu, wir werden in ein paar Minuten herauskommen, allerdings zusammen mit etwa siebenhundert unserer engsten Freunde. Mach also bitte den Kofferraum auf, damit wir den Wagen erkennen können.«
»Du zapfst da jetzt nicht irgendeine Scheiße an, oder?«
»Du kennst mich gut genug, um so etwas eigentlich nicht fragen zu müssen, aber bitte«, gab Michael zurück. »Falls du sehen solltest, dass uns irgendwelche Cops auf den Fersen sind, ignoriere uns einfach und mach, dass du wegkommst.«
»Da fühle ich mich schon sehr viel besser«, erwiderte Busch. »Muss ich dich daran erinnern, dass ich einst derjenige war, der Leuten wie dir hinterhergerannt ist, statt mit Leuten wie dir wegzurennen?«
»Paul …?«
»Ich werde dich nicht im Stich lassen«, sagte Busch trotzig.
»Und du wirst nicht mit uns im Gefängnis enden.«