43.
Banyo Chodan hielt den Steuerknüppel des Helikopters ganz fest und lenkte ihn zum zweiten Mal innerhalb von vier Stunden über die sattgrüne Landschaft. Der ehemalige indische Militärpilot liebte seinen Job. Es machte ihm Spaß, reiche Europäer und Amerikaner durch die Gegend zu fliegen, die sich aus Katalogen Berge ausgesucht hatten, nur um behaupten zu können, dass sie schon mal auf dem Gipfel gewesen waren. Früher war das Bergsteigen den widerstandsfähigsten und abenteuerlustigsten Männern vorbehalten gewesen. Zum ersten Mal bezwungen hatte man die gewaltigen Gipfel erst in den Fünfzigerjahren, und in den nachfolgenden Jahrzehnten hatten sich nur selten weitere Bergsteiger daran versucht. Es war ein Sport, den nur intelligente, athletische und risikofreudige Menschen betrieben, und er nahm häufiger als jede andere Sportart ein tragisches Ende und führte sogar in den Tod. Aber heutzutage gab es viele Leute, die sehr viel Geld hatten und deshalb glaubten, sich ihren Weg zum Gipfel einfach kaufen zu können, so wie sie sich ein neues Paar Schuhe kauften. Banyo hatte nichts dagegen, dass die Jetsetter lieber nach Kangchendzönga reisten als nach Aspen, Tahiti oder Afrika. Er durfte sich nur nicht allzu sehr mit ihnen anfreunden, da die Überlebensrate längst nicht so hoch war wie in Aspen, und das Ableben seiner Kunden schlug ihm immer wieder aufs Gemüt.
Banyo war gerade wieder auf dem Flugplatz gelandet, als der Boeing Business Jet auf ihn zurollte. Er war größer als Venues Maschine, die ein Stück abseits stand. Wenn man berücksichtigte, was heutzutage das Kerosin kostete, war ein größeres Flugzeug gleichzusetzen mit größeren Geldmitteln – eine Theorie, die der dunkelhaarige Amerikaner und sein großer blonder Freund bestätigten, als sie ihm fünftausend Dollar in die Hand drückten.
Banyo erzählte ihnen alles, was er über die europäische Gruppe und ihren Unverstand wusste, in der Nachsaison zu reisen. Er beschrieb die elf hünenhaften Männer und ihr militärisches Auftreten, die beiden Bergführer, die als die besten galten, die es in dieser Gegend gab, den Europäer Venue, seinen schmächtigen, dunkelhäutigen Gehilfen und seine junge Tochter. Zu guter Letzt schwärmte er von der Schönheit der hochgewachsenen Blondine mit dem trotzigen Blick – der zweiten Tochter, der aufmüpfigen, eigenwilligen jungen Frau.
Banyo rieb sich im Stillen die Hände, als die beiden Amerikaner erklärten, sie müssten zu der gleichen Stelle gebracht werden. Zwei Dreißig-Millionen-Dollar-Privatflugzeuge an einem Tag konnten kein Zufall sein.
Dann hatte Banyo seine beiden Cousins Achyuta und Max angerufen, sie gegen eine Gebühr von fünftausend Dollar als Sherpas angeboten und die beiden Amerikaner für Kleidung, Stiefel und Kletterausrüstung noch einmal um zweitausend Dollar erleichtert. Sie drückten ohne Protest immer weiter die Scheine ab, sodass Banyo zusehends von Schuldgefühlen geplagt wurde.
Am Ende hatte Banyo zwanzigtausend Dollar dafür eingesackt, seine zweite Gruppe zum Berg zu fliegen und sich anschließend abrufbereit zu halten, um sie jederzeit wieder dort abzuholen. Endlich konnte er mal wieder mit seiner Frau auf den Seychellen Urlaub machen.
Banyo führte die Männer hinter die Hütte, damit sie sich umziehen konnten, und wies durch die Hintertür auf ein großes natürliches Dampfbad, aus dem blubbernd Nebelschwaden in die kühle Luft stiegen.
»Heiße Quelle – das wird Ihnen gefallen«, hatte Banyo angeregt. »Keine schlechte Idee als Vorbereitung auf den eisigen Ort, an den Sie sich jetzt begeben.«
»Nein, vielen Dank«, erwiderte Busch, den die Bemerkung nicht gerade fröhlich stimmte.
»Die Quellen gibt es überall im Himalaja, aber diese hier sind Heilquellen, ohne Schwefelgeruch.« Banyo schnüffelte. »Riechen Sie das?«
»Tut uns leid, wir müssen uns wirklich sofort auf den Weg machen«, hatte Michael geantwortet.
Und so flogen sie über die hügelige, grüne Vorgebirgslandschaft geradewegs auf die Gipfel des Kangchendzönga zu, und die Rotoren des Helikopters verkündeten dem Berg, dass neue Opfer angeliefert wurden.
***
Busch und Michael saßen im hinteren Teil des Hubschraubers. Beide trugen große gelbe Kopfhörer, die mit Mikrofonen ausgestattet waren, sodass sie trotz des Motorenlärms miteinander kommunizieren konnten. Achyuta und Max saßen ihnen gegenüber und studierten die vergrößerte Fotokopie der nicht ins Englische übersetzten Karte, die Michael ihnen gegeben hatte. Die beiden jungen Männer sikkimischer Herkunft waren höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, und ihre mahagonifarbene Haut schien noch nicht zu wissen, was Bartwuchs war. Beide waren spindeldürr; das konnte selbst ihre dicke Bergsteigerkluft nicht verbergen. Sie freuten sich diebisch und hatten den buchstäblichen Schalk im Auge, als sie auf die Karte blickten, darauf zeigten und in ihrer nepalesischen Muttersprache miteinander flüsterten; die Aufregung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie waren auf dem Weg in unerforschtes Land, genau wie ihre Väter und Großväter vor ihnen.
Allerdings würde ihr Abenteuer nur von kurzer Dauer sein. Michael hatte bereits beschlossen, die Brüder zurückzuschicken, sobald sie nur noch etwa eine Stunde von ihrem Ziel entfernt waren.
»Ich vermisse Istanbul jetzt schon«, sagte Busch, als er sah, wie sein Atem in der kalten Luft weiße Wölkchen bildete.
»Ich wette, Sie denken jetzt an die schöne heiße Quelle und ihr schönes heißes Wasser«, schallte Banyos Stimme durch den Kopfhörer.
»Ja«, gestand Busch widerwillig und zog sich seinen Rucksack auf den Schoß. Er griff hinein, nahm das Navigationsgerät heraus und schaltete es ein. Er vergrößerte das Bild auf dem Monitor und stellte fest, dass die beiden roten Punkte sich getrennt hatten: Der eine rührte sich nicht mehr, der andere bewegte sich in nordwestlicher Richtung. Er hielt Michael das Gerät unter die Nase. »Sieht so aus, als hätten sie sich aufgeteilt.«
Michael erhob sich von der Lederbank, hielt sich mit einer Hand an der Decke des Hubschraubers fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und ging in den vorderen Teil des Helikopters.
»Wie weit nach oben können Sie uns bringen?«, fragte er und war dankbar für den Kopfhörer, weil er dadurch nicht brüllen musste.
»Nicht sehr weit.« Banyo schüttelte den Kopf. Er wies mit der Hand auf den Berg, der sich in all seiner Größe vor der Windschutzscheibe erhob. Um den Gipfel herum hingen schwarze, drohende Wolken. »Ein Sturm kommt auf. Vielleicht überlegen Sie sich das Ganze noch mal und warten einen Tag. Ich würde es Ihnen nicht berechnen.«
Michael schüttelte den Kopf. »Bringen Sie uns so weit, wie Sie können.«
Der Hubschrauber flog über grüne Hügel, die sich in Felsen verwandelten, auf denen nur noch Gestrüpp wuchs. Dieser Teil der Welt wirkte verlassen, rein und unbefleckt von der Menschheit, als hätte Gott seine kleinen Geheimnisse.
Busch gesellte sich zu Michael nach vorn, zeigte Banyo den Bildschirm des Navigationsgeräts und wies auf den Punkt, der sich nicht rührte. »Können Sie uns dahin bringen?«
Banyo nickte. Fünf Minuten später landeten sie an genau derselben Stelle, an der er die erste Gruppe abgesetzt hatte. Keine Menschenseele war zu sehen, als alle ausstiegen und mit anpackten, um die Rucksäcke und Vorräte auszuladen.
Ihre Ausrüstung war auf das absolut Notwendige beschränkt; was vor ihnen lag, war keine Kletterpartie, für die man Steigeisen, Seile und Haken benötigte. Sauerstoff brauchten sie auch nicht, denn sie würden unterhalb der Fünfeinhalbtausend-Meter-Marke bleiben; damit wurde die Atmung nicht beeinträchtigt, obwohl Müdigkeit ein ausschlaggebender Faktor sein würde.
Michael konnte die Verbissenheit nicht nachvollziehen, die Venue und Iblis antrieb. Sobald sie dreitausend Meter erreichten, würden sie zum ersten Mal die Anflüge von Höhenkrankheit spüren. Und der Aufstieg zu ihrem Ziel, das sich nach ihren Schätzungen in einer Höhe von knapp
viertausenddreihundert Metern befand, würde zu purer Erschöpfung führen. Das Gelände war felsig, und in den höheren Lagen lag Schnee, was selbst für trittsichere Bergsteiger gefährlich war, aber zumindest würde das Gefälle zwanzig Grad nicht übersteigen.
Mit der Fotokopie der Karte in den Händen liefen Achyuta und Max in dem verlassenen Lager umher. Immer wieder zeigten sie auf die Karte, schauten hinauf zu dem dräuenden Berg und unterhielten sich im Flüsterton.
»Funken Sie mich auf dem Walkie-Talkie an, wenn Sie zurück wollen«, sagte Banyo, der neben der geöffneten Tür seines Hubschraubers stand. »Und seien Sie nicht dumm. Hier oben sterben immer die, die zu stolz sind.«
Michael nickte und schüttelte die Hand, die Banyo ihm entgegenstreckte. »Danke.«
Banyo sprang in seinen Helikopter, ließ den Motor an und erhob sich in den Himmel. Michael beobachtete, wie er in südlicher Richtung verschwand. Dann drehte er sich um.
Busch stand zwischen den zehn großen Holzkisten, die alle mit dicken Bolzen und Schlössern gesichert waren. Er klopfte mit dem Finger auf eine der Kisten und zeigte dann auf den Bildschirm seines Navigationsgeräts.
»Meinst du, sie haben hier irgendwas vergessen?«
Michael ging zu ihm, zog eine Kletteraxt aus dem Rucksack und schlug das Schloss herunter. Dann hob er den großen Deckel der Kiste an und klappte sie auf. Er wühlte sich durch Zelte und Reisetaschen, drückte einen zusammenklappbaren Tisch zur Seite, fand schließlich die Lederrolle, nahm sie heraus und öffnete sie. Dann warf er Busch einen kurzen Blick zu und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Röhre. Es waren zwei Seiten. Er faltete sie auseinander und begann zu lesen:
Liebster Michael,
es tut mir leid, dass ich dir diesen Brief hinterlasse. Ich weiß, dass deine Frau das bei vielen Gelegenheiten getan hat und dass es zwischen euch beiden etwas Besonderes war, nur ist das jetzt meine einzige Möglichkeit, Kontakt zu dir aufzunehmen.
Ich kann nicht gut mit Worten umgehen. Was ich weiß, habe ich vom Leben gelernt und nicht aus Büchern, aber eine Sache weiß ich ganz sicher, und dafür bin ich dankbar. Ich weiß jetzt endlich, was es bedeutet, geliebt zu werden und einen Menschen zu haben, der bedingungslos zu mir steht. Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn du meine Seele in deiner warmen Hand hältst. Ich weiß jetzt, wie es ist, mich in einer Umarmung zu verlieren, ein Gefühl völlige Ruhe zu empfinden und von der Gewissheit erfüllt zu sein, geliebt zu werden. Du hast mir das Herz geöffnet.
Ich liebe dich von ganzem Herzen, Michael. Du bist das Erste, woran ich denke, wenn ich aufwache, und mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe. In der kurzen Zeit, die uns beschert war, habe ich eine Liebe gefunden, die andere in einem ganzen Leben nicht kennenlernen. Mein Herz und meine Träume gehören dir. Es tut mir leid, dass ich böse Worte zu dir gesagt und an dir gezweifelt habe, und ich bereue, dich vor meiner Tür abgewiesen zu haben, statt dich hereinzubitten. Du sollst wissen, dass die Leidenschaft, die ich empfunden habe, als wir uns geliebt haben, wundervoll war. Es waren die erfüllendsten und schönsten Augenblicke meines Lebens.
Wenn du diesen Brief liest, bedeutet das, dass ich unterwegs zum Berg bin. Ich bitte dich, mir nicht zu folgen. Wir sind auf dem Weg in den sicheren Tod, und ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass du meinetwegen stirbst.
Ich liebe dich und werde dich immer lieben,
Katherine Colleen
PS: Ich bitte dich, das hier an dich zu nehmen. Es war das erste und einzige Geschenk der Liebe, das ich je bekommen habe, und ich bekam es von dir. Ich habe es in den letzten Wochen stets getragen, weil es mir Kraft gab, wenn ich dachte, ich könnte nicht weiter. Jetzt bitte ich dich, es zurückzunehmen. Jedes Mal, wenn du es in der Hand hältst und an mich denkst, werde ich bei dir sein.
Michael griff nach der ledernen Transportrolle. Er streckte die Hand aus, drehte die Röhre um, und die silberne Halskette von Tiffany’s fiel in seine Handfläche.