59.

Hemi Masko bog im ersten Stock um die Ecke. Allmählich wurde ihm wieder warm. Er hatte dem Winter noch nie etwas abgewinnen können; er stand auf Strandkultur. Nur dreimal in seinem Leben war er im Schnee gewesen, und das reichte ihm.

Bei einer Größe von eins fünfundsiebzig und einem Gewicht von hundert Kilo war Hemi so breit wie hoch. Sein Leben war nicht so verlaufen, wie er es sich erhofft hatte. Er war ein Ringer gewesen, spezialisiert auf den griechisch-römischen Stil, aber im Alter von neunzehn Jahren hatte ihm ein Gegner den Arm ausgekugelt und seiner Karriere ein jähes Ende gesetzt.

In den darauffolgenden Jahren stellte Hemi fest, dass er mit seinen kämpferischen Fähigkeiten in den Hinterhöfen Istanbuls sehr viel mehr Geld verdienen konnte, als es auf einer Ringermatte je der Fall gewesen wäre.

Seit zwei Jahren arbeitete Hemi sporadisch für Iblis und hatte bereits Fluchtwagen chauffiert, Schmiere gestanden und als Verstärkung fungiert. Aber bei all diesen Jobs war er nie in eine Situation wie diese geraten, in der er einen vereisten Berg hatte erklimmen und durch einen mit Schätzen vollgepackten Tempel hatte stapfen müssen, der aussah wie aus dem Märchen. Aberglaube und Religion waren noch nie sein Ding gewesen, aber nachdem er diese Räume hier gesehen hatte, in denen Gold und Silber sich häuften, nachdem er dieses unerklärlich grüne Land inmitten eines Berges gesehen hatte, der zurzeit von einem Schneesturm heimgesucht wurde, wollte er sich das mit der Glauberei noch mal gut überlegen und abwägen, ob es nicht doch etwas gab auf dieser Welt, was über die Wirklichkeit hinausging, die er für die Wirklichkeit hielt.

Als Hemi um die Ecke bog, sah er die Frau, die sich in den Schatten des ersten Gangs versteckte, der vom zentralen Mandala-Vestibül abging. Venues Tochter war zurückgekehrt, und dieses Mal hatte sie eine Waffe.

Sofort ging Hemi in die Hocke, hob seine Waffe, legte an und zielte auf die Stirn der blonden Frau. Es war einige Zeit her, seit er zum letzten Mal jemanden getötet hatte. Damals hatte er es weder als erregend noch als verabscheuungswürdig empfunden; er hatte es vielmehr damit verglichen, ein Insekt zu zerquetschen, das an der Wand saß. Hemi schloss das linke Auge und richtete die Waffe genau auf sein Ziel.

Da vernahm er hinter sich plötzlich einen Laut. Mit gehobener Waffe drehte er sich um, entspannte sich aber sofort wieder, als er sah, dass es Iblis war, der sich ihm näherte. Hemi wandte sich wieder seiner Zielscheibe zu und richtete den Gewehrlauf erneut auf KC. Er krümmte den Abzugsfinger …

… und hatte auf einmal kein Gefühl mehr im Körper. Hemi fiel nach hinten und konnte seine Beine plötzlich ebenso wenig spüren wie seine Arme. Sein ganzer Körper war gefühllos. Er versuchte zu atmen, aber seine Lunge gehorchte ihm nicht mehr. Er versuchte zu schreien, doch der einzige Laut, den er hörte, war das entsetzte Kreischen in seinem Kopf.

All seine Sinne hatten Hemi verlassen, nur sehen konnte er noch. Als er nach oben blickte, überschlugen sich seine Gedanken, denn KCs Retter blickte auf ihn hinunter – sein Mörder, der Mann, der ihn von der Straße geholt und ihm all die Jahre Arbeit gegeben hatte. Der Letzte, von dem Hemi erwartet hätte, dass er ihm den Rückenmarkskanal durchtrennte.