8.

Michael blickte die gewaltige Festungsmauer hinauf, die fünfzehn Meter breit und zehn Meter hoch war. Wehrhaft und imposant. Zwei bewaffnete Wachen in Militäruniform flankierten das über sechs Meter breite, bogenförmige Tor.

»Das ist der Topkapi-Palast«, sagte Michael.

»Eigentlich ist es ein Museum«, erwiderte KC. »Der Sultan hat seine Koffer schon vor sehr langer Zeit gepackt.«

»Sag mir nicht, dass dies hier der Ort ist, an dem sich deine Karte befindet.«

»Schauen wir uns doch einfach mal um!«

»Willst du das hier wirklich durchziehen?«

KC zog die Augenbrauen hoch und ging auf das gewaltige Bogentor zu. Michael folgte ihr.

Das Großherrliche Tor, der Haupteingang zum Topkapi-Palast, war ein gewaltiges Monument aus Granit und gemeißeltem Marmor. Die Archivolte über dem sechs Meter breiten Portal zierten mit Gold eingelegte, kalligraphische Inschriften in arabischer Sprache sowie die Monogramme der Sultane Mehmet II. und Abdülaziz I. Durch den Mittelgang gelangte man in eine Passage mit hohem Gewölbe; dahinter tat sich der erste Hof des Palastgeländes auf, das mit einer Grundfläche von über 69 Hektar eine Welt für sich war, umgeben von einer Festungsmauer, die auf einer Gesamtlänge von fünf Kilometern zahnartige Zinnen krönten. Die Mauer war durchsetzt von siebenundzwanzig Türmen und umschloss eine Welt, in der die Zeit seit Jahrhunderten stillgestanden hatte.

Topkapi Sarayı – wörtlich übersetzt »Kanonentor-Palast« – war einst der großartigste Palast der Welt gewesen. Als das Osmanische Reich seinen Höhepunkt erlebte, wohnten mehr als viertausend Menschen in seinen Mauern. Nach dem Untergang des Reiches im Jahre 1921 war der Palast per Regierungsbeschluss in ein Museum umgewandelt worden und hatte Ende der Zwanzigerjahre seine Tore der Welt geöffnet.

Aus strategischen Gründen hatte man den Topkapi-Palast auf einem Hügel an der Spitze einer Halbinsel errichtet, an der auf der europäischen Seite Istanbuls die Wasser des Marmarameeres, des Bosporus und des Goldenen Horns zusammenströmten. Dort wurde er auf Geheiß von Sultan Mehmet dem Eroberer im Jahre 1459 auf das Gelände der Byzantinischen Akropolis gebaut. Die erfahrensten Baumeister und Handwerker der Welt kamen von weither. Sie benutzten erlesene Materialien, denn Kosten spielten keine Rolle. Mit Fertigstellung des Topkapi-Serails im Jahre 1465 hatte das Osmanische Reich den ersten Schritt getan, den einstigen Glanz Konstantinopels wiederherzustellen.

Durch seinen asymmetrischen Baustil unterschied sich der Topkapi-Palast sehr von den europäischen Palästen. Obwohl er riesengroß war, bestand Topkapi aus vielen kleineren, miteinander verbundenen Gebäuden, die angenehmere Wohnmöglichkeiten boten als die riesigen Säle und Kammern seiner europäischen Gegenstücke. Der Gebäudekomplex dehnte sich nicht um einen zentralen Mittelpunkt aus, sondern erstreckte sich auf verschiedenen Tangenten in sämtliche Richtungen.

Der Grundriss basierte auf einer konzentrischen Bauweise, bei der vier Höfe ineinander übergingen – eine Architektur, die aus dem Zeitalter Konstantinopels stammte und von den Architekten vieler europäischer Schlösser übernommen wurde, weil sie dem regierenden Monarchen eine viel bessere Befestigungsanlage verschaffte und somit mehr Schutz boten. Der erste Hof des Topkapi-Palasts, den man auch »Hof der Janitscharen« nannte, war eine gigantische Parkanlage, zu der Museen, Kirchen und idyllische Gärten gehörten.

Michael und KC gingen an der Hagia Eirene vorüber, der byzantinischen Irenenkirche, die auch unter der Bezeichnung »Kirche des göttlichen Friedens« bekannt war. Sie war im sechsten Jahrhundert erbaut worden und eine der wenigen Kirchen, die nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen nicht in eine Moschee umgewandelt worden war. Ihr Weg führte Michael und KC an der Kaiserlichen Münze vorbei; dann stiegen sie unter den Kronen majestätischer Zypressen einen breiten Gehweg hinauf.

KC verschwand in einem flachen Ziegelhäuschen und kam mit Eintrittskarten in der Hand wieder zum Vorschein. Sie zeigte auf einen kunstvoll verzierten römischen Marmorbrunnen, der sich in einer Ecke verbarg. »Der Brunnen des Henkers. Da haben sich die Scharfrichter nach öffentlichen Enthauptungen die Hände gewaschen und ihre Schwerter gesäubert. In die abgeschlagenen Köpfe haben sie Baumwolle und Stroh gestopft und zur Abschreckung auf Marmorpfeiler aufgespießt. Eine Art Strafbank, nur dass die Strafe in diesem Fall ewig währte.«

»Na, herzlichen Dank.« Michael musste schlucken. »Du bist schon mal hier gewesen?«

»Dreimal.«

»Und mich schleppst du hierher, weil …«

»Nicht, weil mir an deiner Gesellschaft liegt.« KC grinste. »Ich muss mir zwei Dinge ansehen.«

»Aber du sagtest doch, dass du schon dreimal hier gewesen bist.«

»Ja. Aber das war, bevor ich den Brief gesehen habe.«

»Was stand in dem Brief?«

»Sieh mal an! Ich wusste, dass ich dich neugierig machen kann.«

Sie schlenderten über einen Parkweg, der von Bäumen gesäumt war und auf ein gewaltiges Tor zuführte, das aussah, als hätte man es aus einer deutschen Burg importiert. Gut zwanzig Meter hohe, achteckige Türme standen zu beiden Seiten des Bogenportals aus Granit. Das Mittelstück krönten Zinnen, und die gewölbte Toröffnung sah aus, als verberge sie eine Zugbrücke. Das alles passte überhaupt nicht zur gewohnten Architektur im osmanischen Stil.

Als Michael und KC unter goldenen arabischen Schriftzeichen durch den Torbogen schritten, hatte das einundzwanzigste Jahrhundert sie wieder. Vor ihnen tat sich eine Sicherheitsschleuse auf, an der Wachen vor Scannern, Drehkreuzen und Metalldetektoren standen. Mit einem freundlichen Nicken zeigte KC die beiden Eintrittskarten vor. Sie und Michael wurden durch die Ganzkörperscanner geschleust.

Als sie das eigentliche Palastgelände des Topkapi-Serails betraten, fühlte Michael sich wieder in die Vergangenheit zurückversetzt. Vor ihm tat sich eine Welt auf, die aus Granit- und Marmorgebäuden, stillen Gärten, gewaltigen Säulengängen und Gehwegen bestand, deren Wände mit aufwendigen Kacheln verziert waren und von kunstvollen Marmorsäulen gestützt wurden. Die Dächer vieler Gebäude zeigten eine stumpfblaue Farbe, die durch die Bleipatina entstanden war, mit der man sie gefirnisst hatte. Schachbrettartige Rundbögen aus rosafarbenem Marmor und weißem Granit akzentuierten die Gebäude. Die Touristen waren hingerissen von ihrer Umgebung und sprachen nur im Flüsterton miteinander, als befänden sie sich in der Gegenwart von Göttern.

Der Einfluss von Architekten und Kunsthandwerkern aus fernen Ländern hatte zu der sich ständig weiterentwickelnden Struktur des Palasts beigetragen, in dem der Sultan des Osmanischen Reiches zu Hause gewesen war. Das Gesamtbild besaß keine einheitlichen Züge, war eher etwas Organisches – eine Vielzahl ineinander verschachtelter und miteinander verbundener Gebäude, die sich über mehr als siebenhunderttausend Quadratmeter erstreckten.

Michael und KC hielten sich im Schatten der Zypressen, die mit ihrem tiefen Grün den Gehweg säumten, der sich durch den Garten des Paradieses schlängelte, wie man einst tatsächlich geglaubt hatte. Sie gingen auf den Turm der Gerechtigkeit zu, das höchste Gebäude der Palastanlage. In der Spitze des Marmorbaus befand sich ein Raum, der ganz aus Fenstern bestand, aus denen der Sultan hinunterblicken konnte auf die Weite seines gewaltigen Besitzes. Die blaugraue Patina des oxidierten Bleis, die das Dach der Turmspitze färbte, war in ganz Istanbul zu sehen und kündete von der Macht des Sultans.

Direkt unter dem Turm wurde ein breiter, mit kunstvollen Kacheln geschmückter Bogengang von Säulen aus grünem Marmor und rosafarbenem Basalt getragen. Die prachtvolle Bauweise des Diwans fand sich in der ganzen Stadt wieder und war eine typische türkische Stilrichtung geworden.

Michael war überwältigt von der minuziösen Kleinarbeit und Komplexität, mit der selbst die winzigste Kachel gefertigt war; die Handwerkskunst und der Stil waren mit nichts zu vergleichen, was er bisher auf seinen Reisen um die Welt gesehen hatte.

Er riss sich vom Anblick der Bauwerke des zweiten Hofes los und wandte sich an KC. »Was ist denn jetzt? Erzählst du mir, wohin wir gehen? Wo ist diese sogenannte Karte?«

»Du meinst, ich könnte das nicht schaffen«, sagte KC mit selbstsicherem Lächeln. »Stimmt’s?«

»Du musst dein Arbeitsfeld besser kennen als dein eigenes Spiegelbild am Morgen. Schau dich um, KC«, forderte Michael sie auf und wies dabei fast unmerklich auf die fünf Wachmänner in ihrem Blickfeld, die auf dem Gelände patrouillierten. »Wenn man nicht alles weiß über das, was man stehlen will, und über den Ort, an dem es sich befindet … Nein, ich glaube nicht, dass du es schaffen kannst.«

KC schaute auf die Armbanduhr und ging schnellen Schrittes davon, als hätte sie Sorge, einen Zug zu verpassen. Michael stand einen Augenblick da, verwirrt und erheitert zugleich über ihre plötzliche Zielstrebigkeit. Dann folgte er ihr.

Sie überquerten den Haupthof und gingen auf ein niedriges Gebäude zu, das sich über die gesamte Nordseite des zweiten Hofes erstreckte. Sie gelangten unter ein goldenes Vordach und schritten durch das sogenannte Tor der Glückseligkeit, das aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammte und den Eingang zum dritten Hof bildete, in dem sich die privaten Wohnbereiche des Palasts befanden. Zu Zeiten des Osmanischen Reiches durfte dieses Tor niemand ohne die ausdrückliche Genehmigung des Sultans passieren.

Der Sultan benutzte dieses Tor ausschließlich für besondere Zeremonien, wenn er auf seinem goldenen Thron saß, während seine Untertanen und Bediensteten ihm huldigten.

KC führte Michael über den mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Weg des dritten Hofes durch weitere Gartenanlagen zu einem langen, monumentalen Säulengang. Sie ging an einer mit Rundbögen verzierten Kolonnade entlang zu einer aufwendig geschnitzten Tür aus dunklem Holz und betrat die Schatzkammer. Michael folgte ihr auf dem Fuße.

Als KC und Michael den ersten Saal betraten, fiel ihr Blick auf einen gewaltigen Glaskasten, der die mittelalterliche Rüstung von Sultan Mustafa III. enthielt, die aus einem eisernen Kettenhemd bestand, das mit Gold und Diamanten verziert war, sowie Schwert und Schild. Sie liefen an einem zweiten Kasten vorüber, der Ausgaben des Korans enthielt, die der persönlichen Benutzung durch die Sultane vorbehalten gewesen waren und deren kunstvolle Einbände Perlen und Juwelen schmückten. Da stand der Ebenholz-Thron von Sultan Murad IV., den Intarsienarbeiten aus Elfenbein und Perlmutt zierten. Es waren Töpfe und Vasen ausgestellt, die ganz aus Jade gefertigt waren, goldene ägyptische Kandelaber, eine Wasserpfeife aus Gold aus dem achtzehnten Jahrhundert und der mit Brillanten besetzte Gehstock von Abdülhamid II., ein Geschenk von Kaiser Wilhelm. In der Mitte des Saales befand sich ein Schaukasten, der reich verzierte militärische Gegenstände enthielt, für die sich eine Gruppe französischer Touristen interessierte.

KC und Michael gingen weiter in den zweiten Saal, der unter der Bezeichnung Smaragdsaal bekannt war. Hier wurden eine Kollektion von Kopfschmuck sowie Anhänger ausgestellt, die mit Smaragden, Diamanten und anderen Edelsteinen besetzt waren.

Sie kamen an Schaukästen vorbei, die Gebetsperlen aus Smaragd enthielten und Pfeilköcher, die mit Gold überzogen waren, und bewunderten einen Anhänger, der Sultan Abdülhamid I. gehört hatte. Er war in Gold gefasst und bestand aus drei großen Smaragden, die ein Dreieck bildeten, sowie aus einer Quaste, die aus achtundvierzig Perlensträngen gefertigt war.

KC blieb vor einem Kasten stehen, der den kostbaren und berühmten Topkapi-Dolch enthielt. Der Dolch war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Geschenk an den persischen Herrscher Nadir Schah vorgesehen, der jedoch ermordet wurde, bevor der osmanische Gesandte die Grenze zum Iran überquert hatte. Deshalb hatte der Sultan den Dolch behalten und in seiner Sammlung aufbewahrt. Den Griff zierten drei große Smaragde, und in die Dolchspitze war eine Uhr eingebaut, ebenfalls in Smaragde gefasst. Die Dolchscheide war mit Brillanten besetzt, der Griff war auf der Rückseite mit Perlmutt und Emaille verziert.

KC schaute auf ihre Armbanduhr und ging weiter. Michael hielt sich zwei Schritte hinter ihr, als sie sich durch die Menschenmengen in den dritten Saal schoben, in dem Emaillestücke ausgestellt waren, Orden und Auszeichnungen, die den Sultanen von ausländischen Monarchen verliehen worden waren. Hier stand auch der goldene Thron, den die Sultane für ihre Krönungszeremonien und anlässlich religiöser Feiertage benutzt hatten. Eine große Menschenmenge hatte sich vor einem der berühmtesten Steine der Welt versammelt, dem Löfflerdiamanten, einem tropfenförmigen Edelstein von sechsundachtzig Karat, den ein armer Fischer in einem Abfallhaufen gefunden und einem Händler für eine läppische Summe verkauft hatte.

Wegen der Renovierungsarbeiten an der Bibliothek des Topkapi-Palasts wurden derzeit einige ihrer bedeutenderen Werke im dritten Salon der Schatzkammer ausgestellt, unter anderem Bücher über islamische Gesetze, Theologie und Weltgeschehen, Koranausgaben von historischer Bedeutung sowie Bücher und Karten, die den Aufstieg und Zerfall des Osmanischen Reiches dokumentierten. Die in türkischer, arabischer und persischer Sprache verfassten Werke der Topkapi-Bibliothek galten als wichtige Sammlung nicht nur der muslimischen Welt, sondern weltweit.

Michael hielt sich immer noch dicht hinter KC, die plötzlich stehen blieb und den Blick auf das Ziel ihres Ausflugs richtete. Sie standen vor einer großen Glasvitrine, in der etwas ausgestellt war, das von einem sanften gelben Licht erhellt wurde. Der Gegenstand bestand aus gegerbter Gazellenhaut und zeigte eine Zeichnung, die mit sattbrauner, tiefroter und pechschwarzer Tinte angefertigt worden war. Die neunzig mal sechzig Zentimeter große, sehr detaillierte Karte zeigte die Westküste Afrikas bis hinauf zum Mittelmeer, die Iberische Halbinsel und den Atlantik einschließlich der Karibik und Südamerika bis hinunter zur Nordküste der Antarktis. Zahlreiche Inselgruppen waren zu sehen, angefangen von den Azoren über die Kanaren bis hin zur mythischen Insel Antilia. Die Gebirgsketten der peruanischen Anden waren ebenso dargestellt wie die verschiedenen gewaltigen Flüsse des Kontinents einschließlich des Amazonas, des Orinoco, des Rio Magdalena und des Rio So Francisco, die alle in den Atlantik mündeten.

Die Karte war eine Portolankarte mit einem von der Mitte ausstrahlenden Liniennetz, das Schiffe von Hafen zu Hafen führte. Statt Breiten- und Längengrade anzugeben, hatte man an Schlüsselpunkten Windrosen eingezeichnet mit Azimuten, die den Weg in ferne Länder wiesen.

Auf dem afrikanischen Kontinent fanden sich minuziöse Darstellungen von Elefanten und Straußen, Königen und Sultanen, während auf dem südamerikanischen Kontinent Affen, Pumas, Rinder und wilde Männer tanzten.

Überall auf der Karte waren umfangreiche Vermerke, die sich auf alles Mögliche bezogen, angefangen bei Christoph Kolumbus und seiner Entdeckung der Neuen Welt über südamerikanische Eingeborene bis hin zu Meeresungeheuern und Monstern auf dem Festland. Die Karte war durch mehrere Risse beschädigt, ansonsten aber gut erhalten. Die Touristen jedoch schienen sich nicht für diesen Schaukasten zu interessieren; sie bestaunten die Juwelen- und Dolchsammlung nebenan.

»Ist dir bekannt, dass ein Türke diese Karte gezeichnet hat? Piri Reis? Im Jahre 1513?«

»Und?«, entgegnete Michael, der wusste, dass sie auf irgendetwas hinauswollte.

»Sie haben den Umfang des Globus damals sehr genau berechnet. Sie lagen nur achtzig Kilometer daneben.«

»Eratosthenes hat bereits 230 vor Christus den Erdumfang berechnet«, zeigte Michael sich wenig beeindruckt.

»Dann schau dir mal das da an«, erwiderte KC und wies auf den untersten Teil der Karte. »Siehst du es?«

»Ja.«

»Das ist die Landmasse der Antarktis. Die Menschen hatten keine Vorstellung davon, wie diese Landmasse aussah, bis die US-Marine 1960 Satellitenbilder geschossen hat. Und weißt du, was sie darauf gefunden haben?«

»Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.« Michael lächelte.

»Das, was du hier vor dir siehst«, antwortete KC und zeigte auf die Darstellung, »ist auf beinahe schon beängstigende Weise genau. Piri Reis hat behauptet, seine Karte basiere auf über zwanzig verschiedenen Seekarten. Eine stammte von Christoph Kolumbus, wodurch Piri in der Lage war, die Karibik darzustellen. Andere Karten stammten von den Portugiesen, den Italienern und den Chinesen. Viele hat Piri auf seinen Reisen erworben. Einige sollen sogar aus der Bibliothek von Alexandria gestammt haben.«

»Und wer hat ihm die Karte der Antarktis gegeben? Etwa die Atlantier?«

KC hob die Augenbrauen, als wolle sie sagen: Wer weiß?

»Du willst mich veräppeln, ja?«

»Ich habe keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.« KC lachte. »Es wirft aber die Möglichkeit auf, dass die Menschen die Meere schon seit sehr viel längerer Zeit besegelt haben, als die Experten es bisher vermutet haben.«

»Experte ist ein relativer Begriff, mit dem heutzutage viel zu locker umgegangen wird.«

»Da kann ich dir nur beipflichten.« Wieder schaute KC auf die Karte, als würde sie magisch davon angezogen. »Kannst du dir vorstellen, dass man diese Karte 1929 in einem Abfallhaufen gefunden hat? Sie war für die Welt nicht unbedingt von Interesse, bis es plötzlich um diese Antarktis-Sache ging.«

Michael betrachtete die Karte, beeindruckt von ihrem Detailreichtum und KCs märchenhaften Geschichten.

»Was hältst du davon?«, fragte KC.

»Ich halte es für eine schlechte Idee.«

»Kribbelt es dir nicht in den Fingern?«

Michael riss seinen Blick von der Karte los und schüttelte bedächtig den Kopf. »Nicht im Geringsten.«

»Aber wenn es dir in den Fingern kribbeln würde, wie würdest du die Karte an dich bringen?«

Michael liebte das Planen; die Schwächen im Gebäude und in den Sicherheitsvorkehrungen und Alarmanlagen zu entschlüsseln war ebenso spannend, wie ein Rätsel zu lösen. Michael sah sich um und betrachtete die Touristen, die im Saal umherliefen, sowie die Wachmänner, die so kerzengerade an der Tür standen, als hätten sie Stöcke verschluckt.

»Nun ja«, sagte er schließlich, »wenn ich Zeichnungen vom Grundriss des Gebäudes hätte …«

»Die haben wir.«

»Aber warum sollte man die Karte stehlen, wo man doch im Souvenirshop eine perfekte Kopie kaufen kann?«

KC lächelte. »Weil«, sie blickte flüchtig auf ihre Armbanduhr und wandte sich zum Gehen, »das hier nicht mal die Hälfte der Karte ist, nach der ich suche.«

***

Die Limousine, die bis eben vor dem Vatikanischen Konsulat gestanden hatte, fuhr los und fädelte sich in den morgendlichen Verkehr Istanbuls ein. Cindy und Busch waren in ein Gespräch vertieft, während Simon das große Paket auspackte, das er abgeholt hatte. Er förderte eine Aktentasche aus Leder zutage, prallvoll mit Landkarten und Recherchematerial. Bereits seit Jahren stellte er Nachforschungen über die Karte des Piri Reis an und war allen historischen Spuren gefolgt. Er wusste, wo der westliche Teil aufbewahrt wurde; über den Verbleib des östlichen Teils jedoch kursierten nur Legenden und Spekulationen. Aufgrund seiner Recherchen hatte er schließlich ermitteln können, dass sich der östliche Teil der Karte ebenfalls im Topkapi-Palast befand, doch um die genaue Stelle zu finden, an der sie versteckt war, hatte er einen Brief gebraucht, den der Großwesir geschrieben hatte und aus dem angeblich genau hervorging, wo der Wesir den fehlenden Teil der Karte verborgen hatte.

Simon öffnete den ersten Umschlag, fand den in einer Plastikhülle steckenden historischen Brief und war dankbar, dass er seinen Weg durch die Post zum Vatikan gefunden hatte. Dem Brief lagen zwei beidseitig bedruckte Kopien bei. Auf der Vorderseite war jeweils eine Abbildung der Original-Briefseite zu sehen, während auf der Rückseite die englische Übersetzung zu lesen war.

»Was ist das?«, fragte Cindy, als sie das vergilbte historische Schreiben sah.

Simon lächelte. »Nur ein bisschen Recherche.«

Cindy blickte Busch an. »Darf ich dich mal etwas fragen?«

»Nur zu.«

»Sind KC und Michael ernsthaft zusammen, oder ist das nur ein Abenteuer?«

»Nun ja …« Für einen Moment war Busch sprachlos, denn zum jetzigen Zeitpunkt wussten Michael und KC nicht einmal selbst, wie es um ihre Beziehung stand. »Man könnte sagen, dass sie jetzt ungefähr einen Monat zusammen sind.«

»Na, Gott sei Dank.« Cindy richtete den Blick auf Simon. »Darf ich fragen, warum du und meine Schwester im Gefängnis wart?«

»Ich glaube, das fragst du deine Schwester am besten selbst.«

»Hat es mit dem da zu tun?«, fragte Cindy und zeigte auf den Brief.

»Nein, es war alles nur ein Missverständnis«, gab Simon zurück und betete sogleich um Vergebung für diese Lüge. »Ich bin überzeugt, dass KC dir alles darüber erzählen wird, wenn sie zurück ist.«

Cindy ließ den Blick zwischen Busch und Simon schweifen. Simon konnte sehen, dass sie ihm kein Wort abgekauft hatte.

»KC wollte nicht, dass ich herkomme«, sagte Cindy in nüchternem Tonfall.

»Warum bist du dann gekommen?«, fragte Busch unschuldig.

»Sie ist gerade aus dem Gefängnis geflohen.« Cindy starrte Busch an. »Was würdest du da tun?«

Busch nickte, als hätte er vollstes Verständnis.

»Wenn meine perfekte Schwester im Gefängnis endet, wirft das Fragen auf.« Sie blickte Busch an. »Du wirst mir auch nichts erzählen, oder?«

»Ich glaube nicht, dass mir das zusteht. Das ist eine Sache zwischen dir und KC. Ich bin sicher, sie wird dir alles erklären, wenn sie zurückkommt.«

Cindy zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte eine Nummer.

»Hallo, Lara, hier Cindy. Du musst mein gesamtes Büro einpacken. Sorg dafür, dass du die Zahlen des Pliant-Vertrages hast, bevor wir am Montag bei SQS anfangen … und du musst mir in Istanbul ein nettes Hotel besorgen. Und wenn du schon dabei bist …« Cindy war nun ganz in ihr Telefonat vertieft.

Simon nutzte die Gunst des Augenblicks und las die Übersetzung des Briefes. Er ließ sich Zeit, nahm jedes einzelne Wort in sich auf und war am Ende umso verwirrter. Er las den Brief erneut, dieses Mal noch langsamer.

Patriarch Makarije I.
Erzbischof Makarije Sokolovi
Maka

Ich schreibe diesen Brief, weil ich fürchte, dass ich den Winter nicht mehr erleben werde. Vieles hat sich verändert, seit Sultan Murad III. den Thron bestiegen hat; er ist leicht zu beeinflussen von seiner Mutter, der Valide Sultan, die mächtig geworden und eifersüchtig ist auf die Menschen, mit denen ich Umgang pflege. Meine engsten Freunde, Vertrauten und Verbündeten sind unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen, und wenn es Allahs Wunsch ist, diesen alten Mann zu holen, so werde ich den Tod, der mir das Paradies verheißt, das mich auf der anderen Seite erwartet, mit offenen Armen begrüßen.

In diesem siebten Jahrzehnt meines Lebens werde ich immer nachdenklicher. Ich vermisse unser Zuhause, unsere Kindheit, die Zeiten, da unsere Bedürfnisse schlichter Natur waren und wir nur wenige Sorgen hatten. Immer häufiger ertappe ich mich dabei, wie ich an die dichten grünen Wälder zurückdenke und an die Hügel und Berge, in denen wir gespielt haben und noch keine Ahnung hatten von der Verderbtheit der Menschen, von der Gier, dem Bösen und der Furcht, die sich in den Herzen so vieler einnistet.

Wer hätte ahnen können, welches Schicksal uns bestimmt war und welchen Einfluss wir haben würden auf die Welt? Unsere Eltern haben uns Werte und Lehren vermittelt, die wir beide auf unser gesamtes Leben angewendet haben. Als Söhne Abrahams haben wir eine Verantwortung, nicht nur unserem eigenen Glauben gegenüber, sondern auch gegenüber den Religionen dieser Welt. Und für Männer wie uns wird die Verantwortung auch dann nicht enden, wenn wir unsere körperlichen Hüllen abgestreift haben.

Ich fürchte mich vor der Karte, die ich dir bei deinem letzten Besuch gezeigt habe, der Karte meines verstorbenen Freundes Piri Reis, und ich fürchte mich vor dem Ort, zu dem sie führt. Ich war bemüht, dir die Karte im letzten Monat zukommen zu lassen, weil ich hoffte, dass du sie so sicher aufbewahren kannst, wie ich es in den letzten zwanzig Jahren getan habe, doch habe ich keine Dienerschaft mehr, der ich noch vertrauen kann. Und da ich es nicht ertragen könnte, sie zu zerstören, da sich ihr Sinn und Zweck eines Tages vielleicht weiseren Männern offenbaren wird, als wir es sind, habe ich sie hinter unserem gemeinsamen Vater versteckt. Er war ein weiser Mann, ein Prophet, der in die Zukunft blicken konnte und dessen Söhne Größe erreicht haben in den Augen unseres gemeinsamen Gottes.

Obwohl unser beider Glauben verschiedene Wege eingeschlagen hat, sind wir einander immer noch verbunden als die Söhne Abrahams.

So sage ich dir Lebewohl, mein Bruder, und freue mich auf unsere Unterhaltungen in der Ewigkeit. Ich bitte dich lediglich, deine Reise noch lange aufzuschieben.

Salaam, mein Bruder,

Bajica

Simon hatte geglaubt, dass der Brief genauere Angaben über den Aufbewahrungsort der Karte mache und keine Rätsel aufgebe, doch als er ihn dreimal hintereinander gelesen hatte, wusste er, dass Letzteres der Fall war.

Obwohl er enttäuscht war, konnte er sich vorstellen, dass es Venue und seine Männer noch mehr frustrierte. Simon hatte durch einen anonymen Hinweis, den seine Dienststelle erhalten hatte, erfahren, dass Venue den Brief zwei Wochen zuvor von einem Schwarzmarkthändler gekauft hatte. Obwohl Simon die Quelle des Hinweises nicht hatte ermitteln können, erwies der Hinweis selbst sich als zutreffend, was die Tatsache bestätigte, dass er jenen Brief in der Hand hielt, den er und KC aus Venues Büro gestohlen hatten.

Simon war zuversichtlich, dass Venue weder hinter die Bedeutung des Briefes gekommen war, noch den genauen Ort kannte, an dem sich die Karte befand; sonst wäre er jetzt bereits auf dem Weg nach Osten gewesen, statt in seinem Büro in Amsterdam zu sitzen.

Denn Simon wusste, dass der Ort, zu dem die Karte führte, Venues letzte, verzweifelte Hoffnung war. Und soweit es die Welt betraf, war es der letzte Ort auf Erden, zu dem ein Mensch wie Venue je Zutritt gewährt werden durfte.

***

Michael und KC verließen die Schatzkammer und gingen an der Bibliothek vorbei zurück zum Tor der Glückseligkeit, geradewegs auf eine Gruppe zu, die im Säulengang des Diwans stand. Plötzlich griff KC nach Michaels Hand und ging zu einem Mann hinüber, der einen blauen Hut trug.

»Hallo«, sagte KC mit einem Lächeln. »Charlie und Elaine Sullivan. Es tut uns leid, dass wir spät dran sind.«

Michael blickte KC an und hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

»Guten Morgen. Mein Name ist Hamer.«

Der Mann trug ein weißes Hemd und eine weiße Leinenhose. Auf seiner langen Nase saß eine Brille mit Metallgestell, und ein buschiger dunkler Oberlippenbart zierte sein Gesicht. Er war Anfang zwanzig und wahrscheinlich Student der Bilkent-Universität in Ankara.

Michael schaute sich die zwölfköpfige Gruppe an, die sich aus Europäern und Amerikanern zusammensetzte.

Hamer ging voraus, und die Gruppe folgte ihm zu einer massiven schwarzen Doppeltür. Hamer ergriff den Ring, der als Klinke fungierte, zog die Türflügel auf und hielt sie geöffnet, damit die Gruppe eintreten konnte.

»Wenn die Mädchen dieses Tor erreichten, das Equipagentor, und zum ersten Mal den Harem betraten«, erzählte Hamer und blickte dabei über die Schulter, »erklärte man ihnen, dass sie nun zum letzten Mal Berührung zur Außenwelt hatten. Selbstverständlich werden wir von dieser Regel heute keinen Gebrauch machen, meine Damen.«

Hamers Witz brachte die sechs Männer in der Gruppe zum Lachen.

»Wir besichtigen den Harem?«, flüsterte Michael KC ins Ohr.

»Ich wusste, dass du das aufregend findest«, witzelte KC.

Michael und KC begaben sich ganz ans Ende der Gruppe, die geschlossen einen langen Korridor hinuntermarschierte und dabei der geübten Ansprache des Fremdenführers lauschte.

»Harem. Schon das Wort beschwört in der westlichen Welt eine Vielzahl von Bildern herauf. Ein Ort, an dem nackte Frauen in Türkischen Bädern orgienhaften Sex mit dem Sultan haben. Frauen, deren einziger Lebenszweck darin besteht, ihren Besitzer sexuell zu befriedigen. Tatsache ist, dass der Harem der Bereich des Palasts war, in dem die Familie des Sultans lebte, und diesen Bereich nannte man das Serail. Obwohl es hier Hunderte schöner Konkubinen gab, ging es viel förmlicher zu, als Sie sich vorstellen können. Es war eine Welt für sich, eine Welt mit einer gestaffelten Hierarchie, in der es eine Schulausbildung gab, Liebe, Intrigen und den Tod.

Der kaiserliche Harem des Topkapi-Palasts setzte sich aus mehreren Einzelhaushalten zusammen. Die Mutter des Sultans, die man Valide Sultan nannte, war die mächtigste Frau des Reiches. Sie hatte die Kontrolle über den Harem und war Beraterin ihres Sohnes. Manchmal handelte sie auch an seiner Stelle. Die Lieblingskonkubinen des Sultans, die sogenannten Kadinen, wurden als Ehefrauen betrachtet. Der Gesetzgeber gestand dem Sultan nur vier Gattinnen zu. Ebenfalls im Harem waren die Sultanas untergebracht, die Töchter des Sultans, sowie ihre Dienerinnen. Sie waren Sklavinnen, sogenannte Odalisken oder Haremsdamen. Und wie Sie sich bestimmt schon gedacht haben, gab es eine Vielzahl von Konkubinen im Alter zwischen siebzehn und dreiundzwanzig, deren einzige Aufgabe darin bestand, den Sultan in seinem Schlafzimmer zu unterhalten. Aber um mit einem Mythos aufzuräumen: Hier gab es keine Orgien, nicht mehrere Partnerinnen in der gleichen Nacht. Die Konkubinen waren nicht nur wunderschön, sie waren auch gebildet und kultiviert, nachdem sie in den Haremsschulen eine strenge Ausbildung genossen hatten.

Die meisten Mädchen waren entführt worden, oder man hatte sie auf dem Sklavenmarkt ersteigert. Manche wurden ihren Eltern abgekauft, die meist arme Bauern waren. In aller Regel waren sie zwischen sieben und fünfzehn Jahren alt, wenn sie hierherkamen, und längst nicht alle kamen aus dem Osmanischen Reich. Während man einige Mädchen im Land des Sultans fand, kamen viele von weither. Zumeist handelte es sich um Europäerinnen, darunter Deutsche und Ungarinnen. Sie wurden nur an den Hof gebracht, um dem Sultan zu dienen. Obwohl sie verschiedenster Nationalität waren, hatten sie eines gemein: außerordentliche Schönheit.

Sie wurden in den Künsten unterwiesen, in Poesie und Gesang. Sie lernten Instrumente zu spielen, zum Beispiel die Harfe. Man lehrte sie, Türkisch zu sprechen und zu lesen, und brachte ihnen alles bei, was sie über die Etikette und Sitten des Harems und des Reiches wissen mussten. Sie lernten zu nähen, zu sticken, und die Kunst der erotischen Genüsse …«

»Ich habe diese Worte noch nie im gleichen Satz gehört«, warf ein hässlicher, übergewichtiger Amerikaner ein.

Hamer ignorierte die Bemerkung. »Vor allem aber waren die Frauen, die in den Harem kamen, fast alle Christinnen. Sie wurden ausnahmslos gezwungen, zum islamischen Glauben überzutreten.

Im Schnitt befanden sich etwa vierhundert Konkubinen im Harem, doch gab es Zeiten, da die Zahl auf über tausend stieg. Eine Konkubine hatte nur ein einziges Mal Geschlechtsverkehr mit dem Sultan, es sei denn, sie besaß eine besondere Fähigkeit oder wurde eine der Lieblingsfrauen des Herrschers. Wenn sie nicht schwanger oder seine Lieblingsfrau wurde, schenkte man sie den Wesiren – den Beratern des Sultans – oder Generälen, anderen Würdenträgern und bedeutenden Persönlichkeiten.

Der Harem umfasst mehr als vierhundert Zimmer, die allesamt exquisit dekoriert sind mit kunstvollen Kacheln und Gemälden mit einmaligen Motiven …«

Der Reiseführer redete weiter, doch Michael und KC schenkten ihm nur wenig Beachtung, als sie durch das Labyrinth der Korridore an Hunderten von Zimmern vorüberschlenderten. Es gab Schlafbereiche, große Badehäuser, Schwimmbecken, geräumige Gärten, Brunnen, endlose Flure sowie Wohnungen für die Kadinen des Sultans und die Valide Sultan. Es gab Dutzende von Räumlichkeiten, die einst von den jungen Haremsschülerinnen benutzt worden waren, und nicht überdachte Innenhöfe und Balkone. Jedes Zimmer, jede Wand war mit großartiger Kunst geschmückt – Mosaike, Gemälde und Kalligraphie.

Michael und KC schauten sich um, als studierten sie für ein Examen, saugten ihre Umgebung förmlich in sich auf und prägten sich jeden Gang und jede Tür ein.

»Der Harem war in drei Bereiche unterteilt«, fuhr Hamer fort. »Es gab den eigentlichen Harem, in dem sich die Konkubinen, die Haremsschülerinnen, die Odalisken und die anderen Frauen aufhielten; dann gab es die Privatgemächer des Sultans, die er jederzeit aufsuchen konnte, um sich dort von den Frauen unterhalten zu lassen, und schließlich gab es die Kasernen für die schwarzen Eunuchen, die Haremswächter.

Nach muslimischer Tradition durfte kein Mann ein Auge auf den Harem eines anderen Mannes werfen. Eunuchen wurden aufgrund ihrer Kastration im Hinblick auf die Unantastbarkeit des Harems als harmlos betrachtet, da die Frauen keine Verlockung für sie darstellten, sodass sie als uneingeschränkt loyal gegenüber dem Sultan galten. Eunuchen waren vorwiegend männliche Kriegsgefangene oder Sklaven, die man vor der Pubertät kastrierte und zu einem Leben in Sklaverei verdammte. Auf dem Höhepunkt des Osmanischen Reiches haben bis zu siebenhundert Eunuchen im Serail gedient.

Weiße Eunuchen kamen aus den eroberten christlichen Gebieten in Georgien, Armenien, Ungarn, Slowenien und Deutschland. Schwarze Eunuchen wurden gefangen genommen oder waren Geschenke aus Ägypten, dem Sudan und vom Oberen Nil. Man transportierte sie auf die Sklavenmärkte von Mekka, Medina, Istanbul und im Mittelmeerraum. Alle Eunuchen wurden auf dem Weg zu diesen Märkten von ägyptischen Christen oder von Juden kastriert, da der Islam zwar das Kastrieren untersagte, aber nicht den Einsatz kastrierter Sklaven.

Weiße Eunuchen dienten in der Verwaltung und hatten keinerlei Kontakt zu den Konkubinen. Die schwarzen Eunuchen, bei denen man anders als bei den weißen die gesamten Geschlechtsteile entfernt hatte, dienten den Frauen des Harems entweder direkt, als Sklaven der Kadinen, oder sie fungierten als Wachen der Konkubinen oder deren Aufseher.

Den obersten schwarzen Palasteunuchen nannte man den Kızlar Agˇası. Er war nach dem Sultan und dem Großwesir der dritthöchste Offizier des Reiches. Er war Kommandeur der Hellebardenträger und bekleidete den Rang eines Paschas, was dem eines Generals entsprach. Er hatte jederzeit Zugang zum Sultan und war der persönliche Kurier zwischen Sultan und Großwesir.

Jeden Abend führte der Kızlar Agˇası die ausgewählte Konkubine in das Schlafgemach des Sultans. Zu seinen Pflichten zählte, den Schutz der Frauen sicherzustellen, die Konkubinen für den Harem zu kaufen und den Werdegang der einzelnen Frauen und Eunuchen zu überwachen. Er war Zeuge bei den Hochzeitsund Geburtszeremonien des Sultans und arrangierte alle offiziellen Feierlichkeiten wie Beschneidungsfeste, Hochzeiten und sonstige Zusammenkünfte. Er verurteilte Haremsfrauen, die Verbrechen begangen hatten, und war dafür verantwortlich, die schuldig gesprochenen Frauen zum Scharfrichter zu bringen, der sie dann in Säcke steckte und im Bosporus ertränkte.

Obwohl die schwarzen Eunuchen die Konkubinen mit Hingabe vor der Außenwelt schützten und bereit waren, ihr Leben für sie zu opfern, gab es im Harem sehr häufig Intrigen, Verrat und Zerwürfnisse. Die meisten Frauen wollten unbedingt Kadins werden und schmiedeten Komplotte, um die Konkurrenz möglichst kleinzuhalten. Es wurde als höchste Ehre betrachtet, die einer Konkubine zuteil werden konnte, wenn sie schwanger wurde und einen Sohn gebar, der eines Tages Sultan werden konnte und seine Mutter dadurch zur Valide Sultan machte, der mächtigsten Frau im Reich. Infolgedessen gab es Konkurrenz und Eifersucht. Oft schreckte man nicht einmal vor Mord zurück, den die Konkubinen selbst begingen. Es kam häufiger vor, dass man eine Konkubine tot auffand oder dass sie spurlos verschwand. Diese Todesfälle waren verhängnisvoll, denn sie führten dazu, dass viele der Frauen sich in ihrem Palastkäfig nicht sicher fühlten.

Während der Herrschaftszeit Sultan Ibrahims I. gab es eine entsetzliche Tragödie. Seine Geliebte, Sechir Para, erzählte ihm, eine seiner Konkubinen träfe sich heimlich außerhalb des Palasts mit einem Mann. Ibrahim tobte vor Zorn und Eifersucht und wies seinen obersten Palasteunuchen an, mehrere Konkubinen zu foltern, um die Identität des Mädchens in Erfahrung zu bringen. Niemand gab den Namen der Verräterin preis, und so ließ Ibrahim jede seiner Haremsfrauen – man geht von einer Zahl von mindestens 250 aus – an einen mit Steinen beschwerten Sack binden und in den Bosporus werfen. Nur eine der Konkubinen überlebte, weil sie von einem französischen Schiff gerettet wurde. Die Valide Sultan, Ibrahims Mutter, wurde daraufhin so eifersüchtig auf Sechir Para, die offensichtlich sehr viel Macht über ihren Sohn besaß, dass sie sie mitten in der Nacht von ihrem persönlichen Eunuchen erwürgen ließ.«

Betretenes Schweigen machte sich in der Gruppe breit, da das Haremsleben immer mehr von seiner Romantik verlor.

Hamer führte seine Schützlinge eine lange Treppe hinunter in einen großen Raum, der mit blauen und weißen Kacheln gefliest war. In die Wände waren Wasserbecken aus Marmor eingelassen. Über jedem befand sich ein goldener Wasserhahn. In den vier Ecken des Raumes standen große Wannen und Bänke aus Marmor.

»Das war der Hamam des Harems, ein Dampfbad – das, was die Europäer zu dem Begriff ›Türkisches Bad‹ verschandelt haben. Der Hamam hatte größte Bedeutung, da man glaubte, man reinige hier nicht nur den Körper, sondern auch den Verstand und die Seele. Es war der Ort, an dem eine Frau ihren Kopf von den Sorgen ihres Lebens befreien konnte.«

In der Mitte des Fußbodens befand sich ein großer Abfluss mit einem Rost aus poliertem Messing. Er war nicht eingelassen, sondern befand sich auf gleicher Höhe wie der Marmorboden, und sein Gitter hatte jeweils zweieinhalb Zentimeter große Löcher, damit das Wasser des Hamams abfließen konnte.

Hamer stieg wieder die Treppe hinauf und dozierte dabei weiter über den Hamam, dessen Geschichte und seinen vermeintlichen medizinischen Nutzen, aber weder KC noch Michael hörten zu. Beide standen vor dem Abfluss. KC zog eine Münze aus der Tasche, ließ sie durch das Gitter fallen und wartete, bis sie auf dem Boden aufschlug. Drei Sekunden später ertönte ein platschendes Geräusch.

»Mist«, sagte KC. »Da unten ist eine Zisterne. »Ich hasse es, im Wasser arbeiten zu müssen.«

»Musst du da denn rein?«

»Das hier ist nicht mehr der Raum, der er vor Hunderten von Jahren war. Inzwischen ist er verschönert und renoviert worden. Die Karte des Piri Reis, die du im Schaukasten der Schatzkammer gesehen hast, wurde hier unten in einem Abfallhaufen gefunden, aber es war eben nur die Hälfte der Karte, denn sie wurde in zwei Teile zerrissen. Die andere Hälfte hat man vor nahezu fünfhundert Jahren irgendwo hier unter uns versteckt.

Es gab unter dem Palast geheime Gänge, die dazu genutzt wurden, Konkubinen aus dem Harem heraus-und wieder hineinzuschleusen. Sie wurden von den schwarzen Eunuchen bewacht, die über den Harem herrschten. Es gab hier früher versteckte Treppenhäuser, nur sind die längst verfallen, und die Zugänge hat man versiegelt.«

»Entschuldigen Sie, Mr. und Mrs. Sullivan.«

KC und Michael erschraken, als sie Hamers Stimme vernahmen. Sie drehten sich um und sahen, dass er dastand, auf seine Armbanduhr schaute und auf die Treppe wies, die nach oben führte.

»Entschuldigung«, sagte KC; dann sahen sie und Michael zu, dass sie aus dem Hamam herauskamen. Wieder schlossen sie sich der Gruppe an, hielten sich aber auch dieses Mal ganz hinten.

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich«, erwiderte Michael.

»Warum hast du es getan?«

»Was getan?«, fragte Michael verwirrt.

»Gestohlen.«

Michael dachte über ihre Frage nach, konnte ihr aber nicht antworten. Dieses Thema war zu persönlich. Michael hatte noch niemals einem Menschen erlaubt, ihm in die Seele zu blicken. Nicht einmal mit seiner verstorbenen Frau Mary hatte er je darüber gesprochen, warum er ein Dieb war. Niemand kannte Michaels Gründe. Also antwortete er ihr auf die einzige Weise, auf die er ihr antworten konnte. »Warum hast du es getan?«

KC sah Michael an. Sie hasste Fragen, denen mit Gegenfragen begegnet wurde, aber wer wollte, dass man ihm traute, musste zuerst einmal selbst lernen, anderen zu vertrauen. »Wegen meiner Schwester.«

»Hat deine Schwester dich dazu getrieben?«, witzelte Michael.

KC lächelte. »In gewisser Weise. Unsere Mutter starb, als ich fünfzehn war. Wir hatten kein Geld.« KC schwieg einen Moment, denn sie erinnerte sich plötzlich an die Ereignisse, die hinter diesen Worten standen. »Manchmal«, fuhr sie schließlich fort, »zwingt uns das Leben, gewisse Dinge zu tun für die Menschen, die wir lieben und die uns etwas bedeuten – egal, wie widerwärtig diese Dinge sind.«

Michael nickte.

»Sie wollten uns trennen und Cindy in eine Pflegefamilie stecken.« Trauer schwang in ihrer Stimme mit. »Sie war erst neun. Und es war die einzige Möglichkeit, die mir eingefallen ist, an genug Geld zu kommen, damit wir überleben konnten.«

»Hast du sie großgezogen?«

KC nickte, und Michael fühlte sich scheußlich. Das war eine ganz neue Seite an ihr, mit der er nicht gerechnet hatte – ein Kind, das gezwungen gewesen war, ein Kind großzuziehen und sich in der Welt zu behaupten.

»Ich wurde ihre Mutter, ihre Freundin. Ich musste ihr bei den Hausaufgaben helfen. Stell dir vor: Ich bin von der Schule abgegangen, um zu arbeiten, aber ich musste ihr bei den Mathematikaufgaben und bei Fremdsprachen helfen. Aber es hat geklappt. Im Lauf der Jahre habe ich alles gelernt, was sie studiert hat. Ich spreche vier Sprachen und kenne mich ziemlich gut mit trigonometrischen Gleichungen aus. Ich habe nur keine Zeugnisse.«

»Und du bist nie erwischt worden?«

»Nein.« KC schüttelte den Kopf. »Ich habe immer nur ein, zwei hochkarätige Jobs im Jahr durchgezogen. Kunstgegenstände und Juwelen. Dinge, die man leicht in die Tasche stecken kann.«

Michael nickte, und sie gingen weiter.

»Und weißt du«, fuhr KC fort, »ich habe mich jedes Mal dafür gehasst. Ich hatte Todesangst, dass man mich schnappt und ins Gefängnis steckt und dass Cindy auf der Straße endet. Aber am meisten hat mir Angst gemacht hat, dass sie herausfinden könnte, was ich tat. Diese Angst hat mich oft mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Ich war eine Verbrecherin geworden. Ich predigte Cindy über Recht und Unrecht, über Ehrlichkeit und Integrität, verstieß selbst aber dagegen. Ich hatte ihr eine Art Bild gemalt von dem, was nicht stimmte mit der Welt – und weißt du was? Dieses Bild war ich. Ich war, was sie auf keinen Fall werden sollte. Ich wollte, dass sie eine Ausbildung bekam und den besten Beruf ergriff. Ich wollte Sicherheit für sie. Und um das zu erreichen, musste ich meine moralischen Anschauungen außer Acht lassen und tun, was ich tun musste.«

Michael konnte den Schmerz in ihren Augen sehen. Er verstand sie sehr viel besser, als ihr bewusst war – sie hatte ihre Kindheit geopfert, um einem anderen Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen.

»Manchmal sind wir gezwungen, schwierige Dinge zu tun«, erwiderte Michael. »Schreckliche Dinge. Für die Menschen, die wir lieben. Und wir können nicht zulassen, dass wir wegen unserer Handlungen die Ehrbarkeit unserer Absichten vergessen, egal, wie kläglich wir sie selbst finden.« Michael stockte und drehte sich zu ihr um. »Deine Schwester kann sich glücklich schätzen. Und dass du sie zu einer Zeit großgezogen hast, als du selbst fast noch ein Kind warst …«

Michael brauchte nicht weiterzusprechen. Er verstand, und er verurteilte sie nicht mehr.

»Bei mir hat es damit angefangen …« Michael musste beinahe lachen und hoffte, der Melancholie des Moments damit ein Ende zu bereiten. »Ich habe einem Freund bei so einer Sache in der Schule geholfen. Es lässt sich natürlich nicht damit vergleichen, eine Schwester großzuziehen, aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass es mir Spaß gemacht hat.«

»Du hast es getan, weil du Freude daran hattest?«

Michael überlegte. »Zuerst ja. Ich bekam dieses Gefühl, diesen Adrenalinrausch.«

KC grinste. »Das Gefühl kenne ich.«

»Es war wie eine Droge. Es fühlte sich gut an, aber gleichzeitig fühlte man sich schuldig.«

KC nickte.

»Ich habe niemals etwas gestohlen, was der andere nicht verschmerzen konnte«, fuhr Michael fort. »Es waren fast immer Dinge, die Leuten gehörten, die sie selbst gestohlen hatten. Ich hatte nie böse Absichten. Und irgendwie habe ich das alles hinter mir gelassen, als man mich vor ein paar Jahren geschnappt hat.« Michael hatte nicht vor, darauf hinzuweisen, dass man ihn nur deshalb gefasst hatte, weil er einer Frau das Leben hatte retten wollen. »Seit damals habe ich es nur noch gezwungenermaßen getan.«

»Hat Simon dich dazu gezwungen?«, fragte KC.

»Nein. Wenn überhaupt, habe ich ihn gezwungen. Wie war es bei dir?«

»Wir hatten ähnliche Ziele.«

»Wie oft hast du Simon schon geholfen?«

KC lächelte, denn sehr viel mehr wollte sie jetzt nicht beichten. »Belassen wir es einfach dabei, dass wir einander von Zeit zu Zeit geholfen haben.«

»Und jetzt musst du ihm wieder helfen?«

KC schaute weg. »Ich habe es ihm versprochen, Michael.«

»Ich weiß«, erwiderte Michael verständnisvoll. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken und sie berühren, damit sie spürte, was in ihm vorging. »Simon ist ein großer Junge, er kann es allein schaffen.«

Gedankenverloren stand KC da.

»Warum fliegst du nicht morgen früh mit uns zurück?«

»Ich habe ein Versprechen gegeben«, erwiderte KC und blickte Michael dabei fest in die Augen.

»Denk einfach mal darüber nach«, gab Michael lächelnd zurück. »Sag jetzt nichts dazu, denk einfach nur darüber nach.«