Mr Lawrence Talbot saß in der Lobby des Hotels Zum wilden Eber am Tisch und nippte an einem Gin Tonic. Seit mehr als zwei Stunden schon wartete er vergebens darauf, dass ihn die junge Dame an der Rezeption mit dem Rumänischen Konsulat in London verband.
Mr Talbot war ein großer, dunkelhaariger Mann mit buschigen Augenbrauen, dem man ansah, dass er gern einen trank.
Augenblicklich studierte er einen Zeitungsartikel über den Tod einer jungen Frau, die am Tag zuvor in einem öffentlichen Park im Südlondoner Vorort Wandsworth ermordet aufgefunden worden war.
STARLET STIRBT UNTER MYSTERIÖSEN UMSTÄNDEN
London – Die Nachwuchsschauspielerin Megan Torring (23) wurde gestern gegen 14:00 Uhr von Passanten in einem Gebüsch im Uferbereich des Ententeichs auf dem Wandsworth Common gefunden. Die Leiche wies Schussverletzungen auf. Scotland Yard geht nach ersten Erkenntnissen nicht von einem Sexualdelikt aus.
Wie aus Polizeikreisen verlautete, sei das Opfer möglicherweise bei einer misslungenen Drogenübergabe getötet worden. Torring, die erst vor wenigen Monaten aus Sudbury nach London gekommen war, feierte mit kleineren Rollen erste Erfolge in diversen Westend-Musicals. Die Ermittlungen dauern zur Stunde an.
Das schmale Gesicht auf dem Foto glich auf beunruhigende Weise dem seiner Auftraggeberin. Allerdings hatte er sie nur ein einziges Mal getroffen, und das in einer schlecht beleuchteten Kneipe in Soho – es war also durchaus möglich, dass er sich irrte. Fahrig fuhr sich Mr Talbot mit dem Hemdsärmel über den Mund. Er faltete die Zeitung zusammen und warf sie neben den überquellenden Aschenbecher auf den Tisch vor sich.
»Mr Talbot?« Die junge Dame berührte ihn zaghaft an der Schulter, als sie ihn ansprach. S. Mertens stand auf dem dezenten Namensschild an ihrer Bluse.
Talbot fuhr herum. »Ja? Haben Sie jemanden erreicht?« Er sprach Deutsch, mit starkem britischem Akzent.
»Nein.« Das Mädchen strich sich eine widerspenstige blonde Haarsträhne hinters Ohr und sah ihn ein wenig mitleidig an. »Tut mir leid, Mr Talbot«, fügte sie etwas leiser hinzu. »Den Anschluss gibt es gar nicht.«
»Was?« Talbots rechte Hand schoss vor und ergriff den linken Unterarm der Frau. »Das kann doch gar nicht sein. Haben Sie auch die richtige Nummer gewählt?«
»Au! Sie tun mir weh!« Sie versuchte, ihren Arm wegzuziehen. »Bitte lassen Sie mich los.«
»Sie haben doch die richtige Nummer gewählt, nicht wahr?«
»Ja. Ja, natürlich.«
»Bitte entschuldigen Sie.« Ruckartig ließ er sie los und versuchte ein Lächeln, aber alles, was er zustande brachte, war, den Mund zu einer Grimasse zu verziehen. »Es tut mir sehr leid. Ich wollte Ihnen nicht wehtun.«
»Ich weiß.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ist schon okay.«
»Wirklich?«
Sie sah ihn an. Er war jetzt seit über einer Woche bei ihnen. Kein wirklich gut aussehender Mann, fand sie, aber doch einer, den man nicht mehr so schnell vergaß. Lawrence Talbot war definitiv ein Mann, der einen gewissen Eindruck machte. Und eigentlich mochte sie ihn. Er war ihr und den anderen Angestellten gegenüber stets freundlich und unaufdringlich gewesen. Sie fragte sich, warum er heute so anders war.
»Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann –«
»Danke«, sagte er. »Danke, ich weiß das zu schätzen.« Diesmal gelang das Lächeln. »Aber ich glaube, ich gehe jetzt besser zu Bett. Das wird ein anstrengender Tag morgen.«
»Ganz wie Sie meinen, Mr Talbot.« Sie sah ihn an, den Kopf leicht zur Seite geneigt und die Augen zusammengekniffen. »Aber wenn Sie doch noch etwas benötigen sollten, zögern Sie bitte nicht zu klingeln.«
Er nickte. »Das werde ich.« Er stand auf, steckte die Zigaretten ein und klemmte sich die zusammengerollte Zeitung unter den linken Arm. »Ach ja«, sagte er, »eines könnten Sie vielleicht noch tun. Schicken Sie mir doch eine Flasche Gin aufs Zimmer. Bitte.«
»Mach ich.«
»Danke Ihnen.«
Als er die Lobby verließ und zum Treppenhaus ging, konnte er in den Spiegeln erkennen, dass sie ihm nachsah. Er mochte sie, auch wenn er sie kaum kannte und sie bislang noch nicht einmal nach ihrem Vornamen gefragt hatte. Sie war nett. Ihre Blicke taten ihm gut. Sie waren wie ein warmes rotes Licht in seinem Rücken.
Talbot hatte das Zimmer 13 im ersten Stock. Wohin er auch kam, er nahm immer das Zimmer mit der Nummer 13. Oder eben irgendeine andere ungerade Zahl, wenn es nicht anders ging. Schließlich gab es sogar Hotels, in denen die 13 gar nicht existierte, obwohl sie Hunderte von Zimmern hatten; man übersprang die Zahl einfach.
Talbot war seit einer Woche in Deutschland und langsam gewöhnte er sich auch wieder an die Sprache. Früher – in einem anderen Leben, wie es ihm manchmal schien – hatte er öfter in Berlin zu tun gehabt. Er mochte die Stadt. Es gab eine kleine Kneipe dort, die er dann jedes Mal aufsuchte – nicht weit vom S - Bahnhof Friedrichstraße: Die ständige Vertretung. Was für grandiose Abende hatte er dort mit Bernie Taylor oder Maxwell Purdy verbracht, wenn sie gerade wieder einmal die Welt gerettet hatten. Bei dem Gedanken daran wurde er unwillkürlich ein bisschen wehmütig.
Irgendwie hatte er immer angenommen, die Agency würde über ein Gerät zur Auslöschung der Erinnerung verfügen, und als er damals seinen Abschied nahm, hatte er fest damit gerechnet, es nun zum ersten und letzten Mal zu Gesicht zu bekommen. Aber der alte Mr Night hatte ihm in seinem Büro lediglich die Hand geschüttelt, sich für seinen jahrelangen Einsatz bedankt und ihm für die Zukunft alles Gute gewünscht. Talbot war völlig überrascht gewesen.
Manchmal wünschte er, sie hätten tatsächlich ein solches Gerät gehabt.
Seit seinem Ausscheiden aus der Agency schlug er sich mehr schlecht als recht als Privatdetektiv durch. Gegenwärtig arbeitete er für eine junge Rumänin, die bei ihrer Botschaft in London untergekrochen war. So wie es aussah, war ihr ein Koffer mit kompromittierenden Unterlagen abhandengekommen, den er jetzt so schnell wie möglich wiederbeschaffen sollte. Dummerweise war das Ding bei einer Versteigerung im Internet aufgetaucht – was die Sache zusätzlich erschwerte.
Er erinnerte sich noch ganz genau an ihr Treffen. Es war kurz gewesen – 15, vielleicht 20 Minuten lang – und hatte im Wood Horse stattgefunden, einer kleinen, verwinkelten Kellerbar in Soho. Hier war alles auf rustikal getrimmt: von den geteerten Balken des Fachwerkimitats, über die rostigen Eisenlampen mit schwach flackernden Glühbirnen bis hin zu den Sägespänen, die den schmuddeligen Dielenfußboden bedeckten.
Sie war schon dort, als er ankam. Saß in einer dunklen Ecke wie ein Häufchen Elend und wirkte in dieser grob gezimmerten Umgebung so zerbrechlich, als sei sie aus hauchdünnem Glas. Auf dem wurmstichigen Eichenholztisch stand eine einzelne flackernde Kerze. Als Erkennungszeichen war eine auf dem Kopf stehende Zigarettenschachtel ausgemacht gewesen.
Er bestellte sich an der Bar ein Bier und ging damit zu ihrem Tisch hinüber.
Erschrocken sah sie auf, als er das Bierglas hinstellte. »Mr Talbot?«
»Ja, hallo.« Er zog sich einen dreibeinigen Schemel heran und setzte sich. »Miss Camataru, nehme ich an. Wir haben heute Vormittag telefoniert. Sie klangen sehr aufgeregt.«
Sie nickte und hielt ihm ihre schlanke Hand hin. Als er sie vorsichtig ergriff, sagte sie: »Ich bin Ilena Camataru. Danke, dass Sie so schnell kommen konnten, Mr Talbot. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie müssen mir helfen. Bitte!«
»Verraten Sie mir, wer mich empfohlen hat?«
Sie sah erstaunt aus. »Niemand.«
»Tatsächlich? Und woher haben Sie dann meinen Namen?«
»Aus dem Telefonbuch.« Sie blinzelte mit zusammengezogenen Augenbrauen, blickte verschämt auf ihre Hände. Dann schaute sie auf und sagte: »Ich habe einfach in den Gelben Seiten nachgesehen und dann die erstbeste Nummer gewählt.«
Er musste über sich selbst lächeln. Was hatte er sich gedacht, wie sie auf ihn gekommen war? Womöglich auf Empfehlung Ihrer Majestät? »Also schön, Miss Camataru, worum geht es denn?« Als sie nichts darauf erwiderte und ihn nur unverwandt anschaute, nahm er seine Zigaretten aus der Innentasche seines Jacketts, zog eine aus der Schachtel und steckte sie sich an. Dann hielt er ihr die Schachtel hin. »Möchten Sie auch eine?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich rauche nicht.«
»Na, dann schießen Sie mal los.« Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Mr Talbot.« Abermals schlug sie die Augen nieder. »Es ist … es ist mir, ehrlich gesagt, sehr peinlich.«
»Das muss es nicht«, sagte er. »Das muss es wirklich nicht. Erzählen Sie einfach, was geschehen ist.«
»Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht«, sagte sie. »Ich habe einem Mann vertraut, dem ich nicht hätte vertrauen sollen. Und diese Tatsache verfolgt mich jetzt. Wenn ich nicht sofort etwas unternehme, werde ich niemals wieder ein glückliches Leben führen können.« Sie sah ihn an, mit flackerndem Blick. »Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll.«
»Versuchen Sie es einfach, Miss Camataru«, sagte er. »Was ist denn so Schlimmes passiert, dass Sie nicht darüber sprechen können? Soll ich jemanden für Sie finden? Oder hat man Sie betrogen? Geht es um Geld?«
Augenblicklich, wenn auch fast unmerklich, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Das Thema Geld war ihr also durchaus unangenehm. Talbot hätte wetten mögen, dass sich ihr Puls um eine Nuance beschleunigt hatte. Doch zu seinem Erstaunen sagte sie: »Nein, um Geld geht es nicht. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn.« Ein nervöses Lächeln folgte. »Ich habe ein bisschen was gespart, wissen Sie? Es ist nicht viel, aber ich denke, es wird reichen, Sie zu bezahlen. Es geht um diesen Mann, den ich eben erwähnte; er hat etwas in seinem Besitz, das mir gehört.«
»Warten Sie, lassen Sie mich raten: Er hat ein Video von Ihnen gemacht, nicht wahr?«
Ihr Blick war auf die Tischplatte geheftet. »Fotos«, sagte sie leise und nickte.
»Und nun erpresst er Sie damit«, vermutete Talbot.
»Es geht ihm nicht um Geld, Mr Talbot. Er will mich einfach nur fertigmachen. Er will sich rächen, weil ich seine Drohungen und Gewaltausbrüche nicht länger ertragen und mit ihm Schluss gemacht habe. Wir haben zusammengelebt, seit wir aus Rumänien nach England kamen. Er hatte einen kleinen Job, aber er hat ihn verloren wegen seiner Trinkerei. Er hat den ganzen Tag nichts anderes mehr gemacht. Von morgens bis abends nur noch getrunken, getrunken, getrunken. Dabei hatte er versprochen, für uns zu sorgen. Und dann kam er eines Tages heim und sagte, er habe eine Arbeit für mich gefunden – als Bedienung in einem Lokal. Ich habe mich zuerst riesig gefreut, können Sie sich vorstellen. Doch als ich dort hinkam, entpuppte sich der Laden als Nachtklub.«
»Und, haben Sie den Job angenommen?«
Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
»Die Aufnahmen sind auch dort entstanden?«
Wieder nickte sie stumm, fing an zu schluchzen und wischte sich mit dem rechten Ärmel über die Augen. »Ich habe von den Fotos erst erfahren, als ich drohte, ihn zu verlassen. Da hat er gesagt, er würde sie meiner Familie zeigen. Oh Gott, es ist alles so furchtbar.«
Er sah, dass sie log, zumindest etwas verschwieg, doch er ließ sich nichts anmerken. Was ging ihn das auch an? Schließlich war dies kein Verhör. Sie war seine Auftraggeberin, es war ihr gutes Recht, ihm nur das zu erzählen, was sie wollte. Während sie sprach, versuchte er, herauszufinden, wann sie die Unwahrheit sagte. Sehr deutlich konnte er erkennen, dass die Geschichte mit dem Mann, der ihr übel mitgespielt hatte, nur zum Teil stimmte. Sie sah immer wieder nach links oben, während sie sprach, pausierte, dachte nach, als würde sie in Erinnerungen nach ihrem Text kramen.
»Mal abgesehen davon, dass er diese Fotos hat«, sagte Talbot schließlich. »Belästigt Ihr Freund Sie noch? Oder bedroht er Sie sogar?«
»Nein.«
»Gut, das ist doch schon mal etwas Positives. Dann muss ich jetzt wissen, wie er heißt und wo ich ihn finde.«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sie wissen nicht, wo er sich gegenwärtig aufhält?«
»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Ich verstehe nicht recht.« Talbot war irritiert. »Wenn Sie mir seinen Namen und seine Adresse nicht geben wollen – was, denken Sie, soll ich dann für Sie tun, Miss Camataru?«
Etwas stimmte nicht mit ihr. Trotzdem merkte Talbot, wie er von Minute zu Minute die Distanz verlor. Wie seine Professionalität angesichts dieses zerbrechlichen Wesens nach und nach flöten ging.
»Ich will ihm nicht schaden, wissen Sie? Ich will nur diese Fotos zurück. Wo er wohnt, ist jetzt sowieso zweitrangig geworden.« Ilena Camataru legte ihre Handtasche auf den Tisch, öffnete sie und entnahm ihr einen zusammengefalteten Zettel, den sie Talbot über den Tisch zuschob. »Allein das hier ist wichtig.«
Talbot betrachtete den Zettel, ohne danach zu greifen. »Was ist das?«
»Mein Problem.«
Talbot faltete das Blatt auseinander. Es war der Ausdruck einer laufenden eBay-Auktion. Es wurde ein kleiner, lederner Handkoffer versteigert, der sehr alt zu sein schien und nichts weiter enthielt als ein Notizbuch mit abgegriffenem Ledereinband und einige leere Blätter Papier. Talbot überflog den Text. Doch es kam nichts weiter Erhellendes dabei heraus. »Das ist ganz offensichtlich ein alter Koffer, Miss Camataru. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht ganz, was das Ganze mit den Fotos zu tun hat, die Ihr Freund von Ihnen gemacht hat.«
»Er hat sie auf eine DVD gebrannt«, erklärte sie. »Und die ist in diesem Notizbuch versteckt.«
Talbot zog an seiner Zigarette, stieß den Rauch durch die Nase aus und drückte die Kippe in den Aschenbecher. »Und das wissen Sie genau?«
»Das Notizbuch hat er mir gezeigt«, versicherte sie. »Und er bewahrte es in diesem Koffer auf. Dessen bin ich mir ganz sicher.« Sie beugte sich über den Tisch und ergriff in einer plötzlichen, verzweifelten und seltsam anrührenden Geste seine Hände. »Sie besorgen ihn doch für mich, nicht wahr, Mr Talbot? Sie lassen nicht zu, dass jemand diesen Koffer ersteigert und die Bilder ansieht, oder? Ich flehe Sie an! Tun Sie das für mich? Bitte!«
»Ohne die Adresse Ihres Freundes wird es nicht gehen«, gab Talbot zu bedenken. »Nach meinem Dafürhalten wäre es das Beste, den Koffer von ihm zurückzufordern, solange er ihn noch in seinem Besitz hat. Ehe es überhaupt zur Versteigerung kommt«, fügte er hinzu.
»Ich möchte, dass Sie nach Deutschland reisen«, sagte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Einer der Bieter kommt von dort. Sie haben doch gesagt, Sie sprächen Deutsch. Sollte er den Zuschlag erhalten, sind Sie gleich an Ort und Stelle. Da ist noch ein weiterer Bieter hier in England, um den kümmert sich aber ein anderer.«
»Ein anderer?« Talbot fühlte den bitteren Stich verletzter Eitelkeit in der Magengrube. Und für einen kurzen Augenblick kam er sich tatsächlich wie der betrogene Rittersmann vor, der eben entdeckt hat, dass es noch einen Nebenbuhler um die Gunst der Prinzessin gab. Er versuchte, sich nicht allzu viel anmerken zu lassen. »Sie meinen, Sie haben noch jemanden auf den Koffer angesetzt, um ganz sicherzugehen?«
»Natürlich.« Sie sagte das, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. »Allerdings ist er ein Freund von mir, aus der Botschaft. Das sollte ich vielleicht dazu sagen. Er macht das umsonst.«
Wie nett von ihm, dachte Talbot. Die ganze verworrene Geschichte kam ihm, gelinde gesagt, reichlich merkwürdig vor. Doch Geld stinkt nicht, und er konnte es gut gebrauchen. »Haben Sie eine Idee, woher ich die Adresse des deutschen Bieters bekomme?«
»Die gebe ich Ihnen, sobald ich sie kenne«, sagte sie. »Ich bin sicher, mein Freund in der Botschaft kann sie für mich herausfinden.«
»Beziehungen sind alles«, sagte Talbot, der sein Bier austrank und sich noch immer so durstig fühlte wie ein Kamel nach der Sahara-Durchquerung. »Okay. Kein Problem, ich fahre für Sie rüber zum Kontinent, Miss Camataru. Und wenn der Koffer in Deutschland ankommt und ich die Empfängeradresse kenne, fange ich ihn dort auch für Sie ab.«
»Danke, Mr Talbot. Danke, das werde ich Ihnen nie vergessen.«
»Schon okay«, sagte er. »Das wird aber nicht ganz billig. Denn dummerweise muss ich von etwas leben.«
»Um die Bezahlung machen Sie sich bitte keine Sorgen.« Sie klang etwas verstimmt. »Wie ich schon sagte: Ich habe ein bisschen was gespart.«
»Haben Sie ein Handy?«
»Nein, leider nicht.«
»Wie kann ich Sie dann erreichen?«
»Sie können mich in unserer Botschaft erreichen. Ich wohne dort, bis ich eine Wohnung gefunden habe.« Sie angelte sich das Blatt mit der eBay-Anzeige von der anderen Seite des Tisches und schrieb eine Nummer darauf. »Das ist die Durchwahl. Da haben Sie mich gleich am Apparat.«
Das war es gewesen. Dann war sie fort. Aufgestanden und verschwunden wie ein Geist. Wäre er nicht vollkommen nüchtern gewesen, er hätte im Nachhinein vielleicht geglaubt, sich alles nur eingebildet zu haben. Sie war fort und hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen.
Die Zigarettenschachtel hatte noch auf dem Tisch gelegen und er hatte sie eingesteckt. Diese Frau war so dünn, so zerbrechlich gewesen. Mit glanzlosen Haaren, die wie staubige Fäden an ihrem schmalen Gesicht herabhingen. Ihre Kleider waren abgetragen und viel zu weit. Und dann diese Augen. Nie im Leben würde er sie vergessen können – diesen gehetzten Blick, diese Angst, diese Verzweiflung. Wenn all das gespielt war, dann musste sie eine verdammt gute Schauspielerin gewesen sein. Nun war sie vielleicht schon tot. Was für eine entsetzliche Verschwendung von Talent.
Im Nachhinein fragte er sich sogar, ob überhaupt ein Körnchen Wahrheit in dem steckte, was sie ihm erzählt hatte. Je länger er darüber nachdachte, umso absurder kam ihm das Szenario vor. Und doch hatte er den Wurm freiwillig geschluckt – mitsamt Haken, Blei und Leine.
Zum einen war er weder in der Position, noch hatte er den finanziellen Spielraum, einen Job ablehnen zu können – er wusste manchmal kaum, wie er die nächste Mahlzeit bezahlen sollte. Zum anderen war er von Ilena Camataru dermaßen gefesselt gewesen, dass er auf den Gedanken, ihr die augenfälligste aller Fragen zu stellen, erst nach ihrem Aufbruch gekommen war: Aus welchem Grund ersteigerte sie den verdammten Koffer nicht einfach selbst?
Talbot erreichte sein Zimmer im ersten Stock. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich ab und ließ sich in den Sessel vor dem Fernseher fallen. Die Zeitung warf er neben sich auf den Boden. Heute konnte und wollte er sich nicht mehr mit der toten Schauspielerin befassen.
»Er hatte einen kleinen Job, aber er hat ihn verloren wegen seiner Trinkerei.«
Ilena Camatarus Worte klangen ihm noch immer wie ein unheilvolles Echo in den Ohren. Und die Erinnerung daran überflutete ihn nach wie vor mit einer Woge heißer Scham.
»Er hat den ganzen Tag nichts anderes mehr gemacht. Von morgens bis abends nur noch getrunken, getrunken, getrunken. Dabei hatte er versprochen, für uns zu sorgen.«
Sie hätte ebenso gut über ihn sprechen können. Ihn fröstelte.
Bald war es wieder so weit. Es kam jedes Mal wie ein Fieberanfall über ihn, und er konnte spüren, wie es kam. Es begann mit einem leichten Schaudern, mit Gänsehaut. Mit dem Gefühl, zu frösteln, obwohl es warm genug im Zimmer war. Und dann war da dieses schmerzhafte Ziehen in den Nieren. Ein Blick auf seine Hände genügte, um ihm zu zeigen, dass die Verwandlung kurz bevorstand. Zwar waren auf den Handrücken noch keine dunklen Haare zu sehen, ein untrügliches Zeichen jedoch waren die Monde seiner Fingernägel: Sie verfärbten sich bereits schwarz.
Lawrence Talbot, den seine wenigen Freunde »Larry« nannten, war drauf und dran, das Bewusstsein zu verlieren. Er gab sich noch etwa 45 Minuten. Nur in dieser Zeit vermochte er noch selbst zu kontrollieren, was er tat – alles, was darüber hinausging, lag jenseits seines Einflussbereiches.
In den zwei Nächten vor und nach Vollmond zeigten sich zwar immer noch Symptome der Wolfskrankheit, aber meist kam es während dieser Zeit zu keiner kompletten Verwandlung. Vorgestern war Vollmond gewesen. Wenn er Glück hatte, war es heute also nicht mehr ganz so schlimm. Nüchtern betrachtet, wäre es besser, der Sache ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. Aber nüchtern betrachtete er die Dinge schon eine ganze Weile nicht mehr.
Es klopfte. Der Gin kam. Die junge Frau von der Rezeption brachte ihn selbst hoch. Sie trug die Flasche und einen Behälter mit Eis auf einem Tablett vor sich her.
»Danke.« Talbots finstere Miene hellte sich auf. Er wies auf die Anrichte. »Bitte stellen Sie es einfach da hin.«
»Ist das wirklich alles?« Sie sah ihn an, als befürchtete sie, er könne, wenn sie fortging, eine Dummheit begehen. »Ich meine …«
»Ja?«
»Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber …« Sie stockte. »Sie sehen heute etwas … wie soll ich sagen? Etwas angeschlagen aus, Mr Talbot. Und da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht noch einen Tee möchten oder …« Sie errötete und fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar.
»Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen«, sagte er. »Und ja, Sie haben recht. Ich fühle mich heute tatsächlich nicht besonders.« Allerdings schon sehr viel besser, seit Sie da sind, dachte er, sprach es jedoch nicht aus. »Möglicherweise liegt es am Wetter.« Schmunzelnd zog er die Augenbrauen hoch. »So viel Sonnenschein sind wir Briten einfach nicht gewohnt.«
Sie quittierte seinen kleinen Scherz mit einem Lächeln. »Okay, wenn es nur das ist, bin ich beruhigt. Ich sehe Sie morgen beim Frühstück, Mr Talbot.«
»Ganz bestimmt.« Und dann, als sie sich umwandte: »Warten Sie. Einen Augenblick noch, bitte.«
»Ja?«
Er hatte sie nach ihrem Vornamen fragen wollen. Doch plötzlich fand er, es sei doch nicht der richtige Zeitpunkt. Wer zum Teufel war er, dass er sich einbildete, sie könne auch nur einen Hauch von Interesse an ihm haben? Sie war blutjung – bestimmt 15 Jahre jünger als er –, eine bildhübsche, kerngesunde Frau, die nach Seife duftete. Und er kam sich klein und ekelhaft vor, mit der Flasche Gin dort auf der Anrichte, seinem verschwitzten Tweedanzug und den von Minute zu Minute dunkler werdenden Fingernägeln. »Ach, nichts«, sagte er schließlich.
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Mr Talbot.«
»Danke. Gute Nacht.«
Talbot trank so lange, bis die Flasche leer war und er kaum noch stehen konnte. Irgendwie musste er auch noch diese Nacht hinter sich bringen, ohne die Zimmereinrichtung zu ruinieren. Morgen würde er sich um die Rumänin kümmern, das Gesicht in der Zeitung, die falsche Durchwahlnummer in der Botschaft. Bestimmt gab es für all das eine ganz plausible Erklärung. Morgen. Bei Tage betrachtet, sah meist alles viel freundlicher aus. Nur noch diese eine Nacht.
Aber auch die Tage schienen ihm mittlerweile unter den Fingern zu zerfallen.
