Lou Chong rannte so schnell er konnte über die Felsen. Sein Herz pochte wild, versetzte ihm aber auch einen Stich. Benny würde ihn für das hassen, was er tat. Genau wie Nix und Tom. Lilah allerdings … vermutlich würde sie froh sein, dass er weg war. Lilah verachtete Schwäche, und Chong hatte das Gefühl, dass »schwach« sich sehr schnell zu seiner charakteristischen Eigenschaft entwickelt hatte. Zumindest hier draußen im Leichenland.
Er kam sich dämlich vor und schämte sich. Er hätte nie mitkommen dürfen, und obwohl er einen kurzen Moment überlegte, dass Tom genauso viel Schuld traf, weil er den Trip überhaupt vorgeschlagen hatte, glaubte Chong felsenfest, dass sämtliche Katastrophen des Tages einzig und allein auf sein Konto gingen. Er war sich ziemlich sicher, dass Tom kurz davor stand, umzukehren – was bedeuten würde, dass Chong das vermasselt hätte, was Nix und Benny sich im tiefsten Inneren wünschten. Und dass er auch Lilah das Gefühl der Freiheit verwehrte, nach dem sie sich so sehnte.
Diese Logik hatte ihn dazu veranlasst, sich aus dem Staub zu machen, doch jetzt, tief im Wald, musste er erkennen, dass diese Logik so dünn wie Seidenpapier war und jede Menge Löcher besaß. Plötzlich erinnerte er sich an einen der zahllosen Vorträge, die sein Vater über logisches Denken gehalten hatte: »Wenn man zu einer Gleichung Emotion addiert, kann man dem Ergebnis nicht trauen.« Scham und Schuld waren Emotionen und die Summe am Ende seiner logischen Berechnungen erwies sich als ebenso unzuverlässig wie sein Verhalten, kurz bevor das Nashorn aufgetaucht war.
»Ich bin nicht fürs Leichenland geschaffen«, sagte er sich, während er weiterlief. »Abenteuergeist sucht man bei mir vergeblich.« Seine Worte sollten lustig klingen, aber tatsächlich war ihm todtraurig zumute.
Im Laufen versuchte er, sich an alles zu erinnern, was Mister Feeney ihnen bei den Pfadfindern beigebracht und was er in Werken über die Wälder der Sierra Nevada gelesen hatte – all diese Tricks über Spurensuche und Anpirschen und wie man Verfolger abschüttelt. Darüber ließ sich eine Menge in Büchern finden, zum Beispiel in den Lederstrumpf-Erzählungen und den alten Romanen von Louis L’Amour aus der Zeit vor der Ersten Nacht.
Chong wusste, wie man eine falsche Fährte legte, indem man kehrtmachte oder im Kreis lief und seine eigene Spur kreuzte. Er wusste, dass er es vermeiden musste, Kratzer an den Felsen zu hinterlassen. Ein paarmal sprang er von den Felsen herab, lief durch hohes Gras und kehrte dann vorsichtig in seinen eigenen Fußspuren zurück, damit mögliche Verfolger dachten, er sei auf die Wiese gelaufen. Als er den Wald erreichte, fand er einen abgebrochenen Ast, an dem noch ein paar Blätter hingen. Damit verwischte er im Gehen seine Spur.
Vielleicht wären Tom oder Lilah in der Lage, ihn zu finden, aber er machte sich deswegen keine Gedanken. Wenn sie allein gewesen wären und genügend Zeit gehabt hätten, dann ja … doch sie mussten schließlich auf Benny und Nix aufpassen.
Chong musste sogar lächeln, weil er so klug handelte. Es fühlte sich gut an, etwas richtig zu machen, selbst wenn die anderen ihn dafür hassten. Das war allemal besser, als sie durch seine Schuld erneut in Gefahr zu bringen. Zumal wenn Rotaugen-Charlie noch lebte. Für Benny und die anderen war es besser, nach Osten zu ziehen und sich so weit wie möglich aus dem Einflussbereich dieses Irren zu entfernen.
Er hielt sich in Richtung Nordwesten, dafür reichte sein Orientierungssinn. Und obwohl er körperliche Anstrengung hasste, konnte er auf einen Baum klettern und sich an dessen Stamm festbinden, um so die Nacht zu überstehen.
Nach einer Weile verlangsamte er seine Schritte. Das Blätterdach war so dicht, dass er immer nur winzige Ausschnitte des Himmels sah. Bis Sonnenuntergang dauerte es wahrscheinlich keine anderthalb Stunden mehr. Er musste sich nach einem Unterschlupf umsehen.
Schließlich entdeckte er eine Böschung und kletterte hinauf, in der Annahme, dass er von dort oben eine bessere Sicht hatte. Auf diese Weise konnte er einen geeigneten Baum für die Nacht finden und gleichzeitig überprüfen, ob er in diesem Teil des Waldes tatsächlich allein war. Chong hatte zwar keinen Zweifel daran, dass er einem Zombie davonlaufen konnte, aber falls einer ihm nachstellte, würde der Untote ihm einfach bis zu dem Baum folgen, in dem Chong hockte, und bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag dort stehen bleiben.
Der Zombie konnte ewig warten.
»Nein, danke«, sagte Chong laut und hätte sich fast vor seiner eigenen Stimme erschreckt. Dann zog er sein Bokutō. Er war zwar kein so guter Schwertkämpfer wie Benny und auch nicht so schnell wie Nix, aber alles andere als hilflos, und mit der Waffe in der Hand fühlte er sich wieder ein wenig zuversichtlicher.
Auf der Hügelkuppe drehte er sich einmal langsam im Kreis. Um die Baumstämme herum hatten sich inzwischen Schatten gebildet, und bei jedem Windstoß glaubte er, eine gespenstische Gestalt zu sehen, die auf ihn zukam. Aber es waren keine Zombies in der Nähe. Schließlich entdeckte er eine prächtige Pappel mit einigen tief hängenden Ästen, an denen er sich hochziehen konnte. Er lief den Hügel hinab und kletterte die Böschung hinauf, auf der die Pappel stand. Sein Blick wanderte nach rechts und nach links, während er seine unmittelbare Umgebung sondierte, Daten in seinem Kopf speicherte und sich klug und vorsichtig verhielt.
Doch er lief direkt an den beiden Gestalten vorbei, die im dichten Schatten einer massiven alten Fichte standen – und die ihn schon längst gesehen hatten.
Tom, Lilah, Nix und Benny waren meilenweit entfernt.
Viel zu weit, um Lou Chongs Schreie zu hören.
