80

Tom verringerte das Tempo und ging, statt zu laufen, schwankte dann unsicher und blieb schließlich stehen. Er winkte den anderen zu, sie sollten anhalten. Chong und Lilah stolperten und sanken auf die Knie, verwundert, dass sie noch lebten. Tom beugte sich vor und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Er wirkte vollkommen erschöpft. Benny ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen und umarmte Nix, die sich fest an ihn klammerte. Sie roch nach Rauch und Blut. Er küsste ihr Gesicht, ihr Haar und die Tränen auf ihren Wangen.

Dann hörte Benny ein Geräusch und sah, wie Tom langsam auf sie zukam.

»Wir haben es geschafft!«, jubelte Benny und unterdrückte ein verrücktes Lachen, das sich aus seiner Brust lösen wollte.

»Ja«, stimmte Tom ihm mit schwacher Stimme zu. »Wir haben es geschafft.«

»Benny …«, sagte Nix sanft, und er kam auf die Füße und drehte sich um, als Chong und Lilah sich ihnen näherten. Sie sahen aus, als hätten sie in einem Krieg gekämpft, und Benny dachte, dass das der Wahrheit auch ziemlich nahekam. Alle vier standen einander gegenüber, plötzlich verlegen, und starrten sich gegenseitig an. Alles, was passiert war, seit sie die Stadt verlassen hatten – konnte das wirklich erst zwei Tage her sein? –, schwebte wie glimmende Asche zwischen ihnen in der Luft.

Benny lächelte als Erster und boxte Chong leicht gegen die Brust. »Na, du dämlicher Affenpinscher!«

Chong grinste, und trotz all dem Schmutz und dem Blut leuchtete sein Gesicht auf. Er hob eine Augenbraue und bemerkte in bester Schlaumeiermanier: »Wie immer wählst du einen gelehrten und einfühlsamen Kommentar, der dem Augenblick vollkommen angemessen ist.«

»Leck mich.«

»Nicht mal, wenn ich ein Zombie wäre.«

Sie brachen in Gelächter aus, und Benny schnappte sich seinen besten Freund und umarmte ihn so heftig, dass beide vor Schmerz kurz aufjaulten – was sie aber nur noch mehr zum Lachen brachte. Dann wandte Benny sich Lilah zu und sah sie an. Der Augenblick schien eine Ewigkeit zu dauern. Seine innere Stimme versuchte, ihm schlaue Sätze zuzuflüstern, aber er befahl ihr, den Mund zu halten. »Ich bin ein Idiot und es tut mir leid«, sagte er schließlich.

Lilah starrte ihn zornig an. Nix machte einen Schritt zur Seite, stellte sich neben sie und ergriff ihre Hand.

»Ja«, meinte Benny, »das ist okay. Wenn ihr euch zusammentun und mich windelweich prügeln wollt, nur zu. Ich verdiene es, wenn man bedenkt, was ich gesagt habe.«

»Warum? Was hast du denn gesagt?«, fragte Chong, aber niemand gab ihm eine Antwort.

»Schon gut, Benny«, sagte Lilah mit ihrem eisigen Flüstern. »Ich bringe dich später um.«

Bennys Kehle wurde trocken. »Hey, warte mal … Ich … ich …«

Dann brachen Nix und Lilah in Gelächter aus. Chong, der nicht das Geringste kapierte, lachte trotzdem mit.

»Mein Gott!«, rief Nix. »Hast du sein Gesicht gesehen?«

»Warte mal«, sagte Benny erneut, »hast du … gerade einen Witz gemacht?«

Daraufhin lachten die anderen nur noch mehr.

»Ja, das kann ich auch«, ließ Lilah ihn wissen und boxte ihm spielerisch gegen die Brust, genau wie Benny es mit Chong gemacht hatte. Allerdings war ihr spielerischer Schlag ungefähr fünfzigmal fester.

»Au!«, schrie er, aber die anderen hörten nicht auf zu lachen – über ihn, über alles, über die Tatsache, dass sie noch am Leben waren. Benny rieb sich die schmerzende Stelle an der Brust und lachte ebenfalls.

Sie wandten sich Tom zu, winkten ihn heran, wollten, dass auch er lachte und die düstere Traurigkeit aus seinem Gesicht verschwand. Benny umarmte seinen Bruder. »Wir haben es geschafft, Mann! Können wir jetzt endlich hier abhauen und nach Osten aufbrechen?«

Aber Tom lachte nicht. Seine Augen waren auf das brennende Hotel gerichtet. »Ja«, sagte er wieder, dieses Mal noch leiser. »Ich glaube, es ist Zeit, zu gehen …«

»Stimmt«, pflichtete Nix ihm bei. »Ich glaube, unsere Pechsträhne hat sich soeben in Rauch aufgelöst.«

Tom seufzte und fiel dann plötzlich auf die Knie. Die anderen schauten ihn überrascht an.

»Tom?«, fragte Lilah.

Er öffnete vorsichtig seine Weste. »Verdammt«, murmelte er.

Nix schrie.

Dann sah Benny es auch: Blut, so viel Blut. Er schrie ebenfalls.

Tom hustete und kippte nach vorn. Nix und Benny fingen ihn auf und legten ihn vorsichtig auf den Boden. Benny riss Toms Hemd auf. Was sie dann sahen, ließ sie noch entsetzter aufschreien. Als Tom während der Flucht vom Hotel gestolpert war, hatte Benny geglaubt, er sei von einem brennenden Trümmerteil getroffen worden. Aber das war es nicht … es war tausendmal schlimmer.

Tom war von einer Kugel getroffen worden.

»Wir müssen die Blutung stoppen«, rief Nix. Da sie ihren eigenen Erste-Hilfe-Kasten verloren hatte, durchsuchte sie Toms Westentaschen und holte Verbandsrollen heraus, um ihm damit Kompressen anzulegen.

»Was ist passiert?«, fragte Chong.

»Benny«, sagte Nix eindringlich, während sie Tom verband. »Es ist schlimm. Ich kann die Blutung nicht stoppen.«

»Lass mich helfen«, bot Lilah an, zog den Erste-Hilfe-Kasten aus Toms Weste und holte mehrere Mulltücher hervor.

»IMURA!«

Die dröhnende Stimme, die aus der Dunkelheit drang, schien einem Monster, einem Dämon direkt aus der Hölle zu gehören. Ruckartig drehten sich alle um und sahen, wie eine große Gestalt aus dem Rauch und dem Flammenmeer trat.

Preacher Jack.

In einer Hand hielt er einen altmodischen Trommelrevolver und in der anderen den gebogenen Kavalleriesäbel. Sein schwarzer Mantel war rußbeschmiert, und blutig und sein Gesicht, bleich im Licht der Sterne, war eine Fratze des Wahnsinns. »Imura!«, rief er. »Habe ich dich getötet? Habe ich den Hundesohn getötet, der meine Söhne umgebracht hat?«

»Benny, Nix …«, keuchte Tom und packte Benny am Ärmel. »Lauft!«

Benny löste Toms Finger und sagte entschlossen: »Nein. Wir müssen ihn aufhalten.«

»Ihr könnt ihn nicht aufhalten«, widersprach Tom mit schwacher Stimme. »Er ist zu schnell … zu stark. Er wird uns alle töten.«

Während er sprach, versuchte Tom, auf die Füße zu kommen, aber eine Welle heftiger Schmerzen zwang ihn wieder auf die Knie. Nix versuchte, ihm aufzuhelfen, aber ihre Hände glitten an dem vielen Blut ab.

»Pass auf, dass die Kompressen nicht verrutschen«, mahnte Lilah.

Benny stand auf und sah, wie Preacher Jack auf ihn zu stolzierte. Er wusste, dass Tom recht hatte. Keiner von ihnen konnte es mit diesem Irren aufnehmen, so alt er auch sein mochte. Preacher Jack war sein ganzes Leben lang ein Soldat und ein Killer gewesen, und die schrecklichen Jahre, die seit der Ersten Nacht vergangen waren, hatten ihn nur noch härter gemacht. Benny hatte keine Chance gegen den alten Söldner, aber vielleicht gelang es ihm, ihn lange genug aufzuhalten, damit Lilah oder Chong ihn verletzen oder gar töten konnten. Selbst wenn er dafür sein eigenes Leben opfern musste. Benny schaute zu Tom, der verwundet und hilflos dalag. Dann wanderte sein Blick zu Nix und schließlich zu Lilah und Chong. Er würde für jeden von ihnen sterben. Vielleicht würde er für sie alle sterben müssen.

Er wandte sich wieder dem Prediger zu und hob den zersplitterten Stumpf von Nix’ Bokutō. Die einzige Waffe, die er hatte. Sie war zwar zerbrochen, aber das Ende war scharf. Vielleicht würde das reichen. Oder vielleicht doch nicht? Preacher Jack blieb zehn Schritte vor ihm stehen und hob seinen Revolver.

Verdammt, dachte Benny. So viel zum heroischen letzten Gefecht.

Dann nahm er hinter sich eine Bewegung wahr, und Chong trat neben ihn, in der Hand sein Holzschwert. Er lächelte Benny an, machte einen weiteren Schritt und stellte sich zwischen Benny und den Revolver.

»Was machst du da?«, flüsterte Benny, aber Chong ignorierte ihn.

»Aus dem Weg, du Ratte.«

»Leck mich«, entgegnete Chong, und seine Stimme zitterte nur ein wenig. »Wenn du Tom willst, musst du zuerst mich erschießen.«

Preacher Jack grinste und zeigte dabei seine blutigen Zähne. »Zur Hölle, Junge … ich werde euch alle erschießen.«

»Dazu wirst du keine Zeit haben. Einer von uns wird dich kriegen«, erwiderte Benny, war sich aber nicht sicher, ob das auch stimmte. Preacher Jack hatte schließlich noch den Säbel.

Lilah schnappte sich ihren Speer, stellte sich neben Chong und zeigte mit der abgebrochenen Klinge auf den Prediger. »Du gehörst mir, alter Mann.«

»Nein«, rief Tom schwach. »Nein … hört auf – verschwindet!«

»Das kannst du vergessen«, entgegnete Chong bestimmt. »Eher sterbe ich, als ihn gewinnen zu lassen.«

»Hier geht es nicht ums Gewinnen, Junge«, lachte Preacher Jack. »Es geht um Gerechtigkeit. Ihr habt meine Söhne umgebracht! Ihr habt meine gesamte Familie getötet. Begreift ihr nicht, wie groß das Ausmaß eurer Sünde ist? Ihr habt getan, was die Erste Nacht und 300 000 000 Tote nicht geschafft haben. Ihr habt das Haus Matthias ausgelöscht!«

»Deine Söhne waren Abschaum«, sagte Benny voller Verachtung. »Deine ganze Familie ist nichts weiter als Abschaum. Du stehst für all das, was falsch war in der alten Welt, und du willst diese Welt nach ihrem Ebenbild wieder auf hauen. Du willst, dass in dieser Welt nur Schmerz, Kummer und Leid herrschen. Wie kannst du behaupten, ein Prediger, ein Mann Gottes zu sein, und trotzdem solche Dinge tun?«

Preacher Jack musterte ihn mit glühendem Hass in den Augen. »Du wagst es, so mit mir zu reden, Junge? Schluss damit!«

Und dann drückte er ab.

Klick!

Der Bolzen schnellte auf eine leere Kammer. Wieder und wieder drückte Preacher Jack ab, bis er die leere Pistole mit einem wütenden Knurren auf Benny warf.

Benny duckte sich.

Plötzlich rannte Lilah auf Preacher Jack los, zielte mit ihrem Speer auf seine Brust und schrie wie eine Furie. Die Klinge war nur noch einen Zentimeter von ihm entfernt, als er sich blitzschnell wegdrehte, sodass sie nur die Aufschläge seines Mantels aufschlitzte; er drehte sich weiter und rammte ihren Hinterkopf mit dem Ellbogen, als sie an ihm vorbeilief. Lilah stürzte nach vorn, worauf der Prediger herumwirbelte und den Fuß zu einem Tritt hob, der ihr Gesicht zertrümmert hätte – aber sofort war Chong zur Stelle, und das schneller, als Benny seinem Freund je zugetraut hätte. Er stürzte sich auf Preacher Jack und versuchte, ihn anzugreifen.

Der Angriff sorgte dafür, dass der Tritt ins Leere ging, brachte den Prediger aber nicht zu Fall. Als Chong gegen ihn krachte, fing Preacher Jack ihn mit einer Drehung der Hüfte ab und katapultierte ihn ins Gras. Der Prediger wollte ihm nachsetzen, doch Chong rollte sich rasch ab.

Inzwischen war Benny wieder aufgestanden, das abgebrochene Bokutō in der Hand, und näherte sich der ungedeckten Seite des Predigers. Gerade wollte er ihm sein Schwert in den Rücken stoßen, als der alte Mann schnell wie der Blitz auswich und einen halbkreisförmigen Rückwärtstritt gegen Bennys Brust landete. Benny flog in hohem Bogen nach hinten und sackte in sich zusammen.

Lilah rappelte sich auf und stürmte auf den Alten zu, täuschte oben und unten an und wollte ihm einen tiefen Schnitt am Knie verpassen, aber Preacher Jack wehrte den Speer mit seinem Säbel ab. Lilah prallte zurück, setzte jedoch sofort nach und griff so erbittert an, dass der Prediger zurückweichen und ihre Speerhiebe, so schnell er konnte, mit seinem Säbel abwehren musste, der im Mondlicht aufblitzte. Ein paar hoffnungsvolle Sekunden glaubte Benny, Lilah würde es gelingen, den Mann endlich zu töten. Aber dann schlug dieser den Speer zur Seite, packte den Schaft mit seiner freien Hand und hackte mit seinem Säbel darauf ein. Lilah musste loslassen, um ihre Hände zu retten. Er verpasste ihr einen Tritt und beförderte sie auf den Boden, bevor er ihren Speer in den Rauch und die Schatten schleuderte.

Benny und Chong standen unter Schmerzen wieder auf und schwärmten aus, um Preacher Jacks Flanken anzugreifen. Der alte Mann lachte über diese Taktik und schüttelte amüsiert den Kopf. »Kinderspielchen«, meinte er. »Von mir aus kann die Lektion beginnen.«

Sie stürzten sich auf ihn, aber der Prediger war zu schnell. Er trat in Chongs Schwerthieb hinein, parierte ihn und zog Chong die Klinge über den Körper. Blut spritzte aus Chongs nackter Brust, und er taumelte rückwärts, ließ sein Holzschwert ins Gras fallen und presste die Hände auf seinen Rumpf, um die Blutung zu stoppen.

Jetzt war nur noch Benny übrig.

»Und nun zu dir, Junge«, sagte Preacher Jack. »Ich verpasse dir ein paar Hiebe und lass dich dann zusehen, was ich mit den anderen mache. Und wenn du anschließend darum bettelst, dass ich dich töten soll, werde ich dir zeigen, wie barmherzig ich sein kann.«

Benny fiel keine geistreiche Bemerkung, keine spöttische Antwort ein. Er wusste, dass er verloren war. Er hatte ein 40 Zentimeter langes verbranntes und abgebrochenes Holzschwert, mit dem er versuchen konnte, den Mann aufzuhalten, der unzählige Menschen getötet hatte. Ein Soldat. Ein Krieger. Ein Killer und die Ursache aller Schmerzen in Bennys Welt.

Trotzdem musste er die Frage stellen, die ihm auf den Nägeln brannte, seit er dem Mann das erste Mal begegnet war.

»Preacher Jack, glaubst du überhaupt an Gott?«

Das Lächeln des Predigers schwankte zuerst, wurde dann jedoch breiter, als das ursprüngliche, geheimnisvolle Grinsen dem heimtückischen Blick eines Kobolds wich. »Es gibt keinen Gott«, wisperte der alte Mann. »Es gibt nur den Teufel und mich und das Leichenland.« Die Klinge funkelte, als er sie plötzlich durch die Luft sausen ließ, sich über Benny lustig machte und mit ihm spielte. Die Säbelspitze glich einem peitschenden silbernen Blitz, und dann spürte Benny, wie seine Wange brannte, denn seine Haut war gerade so schnell aufgeschlitzt worden, dass er es nicht einmal gesehen hatte.

»Lass die Waffe fallen, Junge«, verlangte der Prediger. »Leg sie hin und ich werde mich barmherzig zeigen. Ich lasse dich und diese anderen Kotzbrocken gehen. Aber ich will Tom. Ich will seinen Kopf und, bei Gott, ich werde ihn kriegen.«

»Niemals!«, erklärte Nix und drückte Tom an sich.

»Nicht …«, sagte Tom mit schwacher Stimme, während er versuchte, auf die Knie zu kommen. Seine Augen brannten und sein verschwitztes Gesicht glühte fiebrig.

»Warum gibst du nicht einfach auf?«, forderte Benny den Alten heraus, während er zurückwich. »Deine Söhne sind tot. Gameland liegt am Boden. Warum willst du noch …«

»Ich bin Gameland, Junge! Kapierst du das nicht? Solange ich lebe, lebt auch Gameland. Ich werde es wieder aufbauen, besser und größer als je zuvor. Ich werde es mitten in Mountainside errichten, wenn es sein muss … und niemand wird mich daran hindern. Es wird niemand mehr da sein. Weder du noch dein Bruder. Sie ihn dir an! Er ist schon jetzt halb tot. Man muss nur noch ein wenig nachhelfen.«

Plötzlich sah Benny die Zukunft vor seinem inneren Auge. Einen Moment lang war die ganze Welt hell und klar, und er erkannte, wie das Ganze enden würde. Erfüllt von Schrecken und Trauer wusste er, dass er nur einen Weg beschreiten konnte und dieser Weg war rot vor Blut. Preacher Jack hob seinen Säbel zum letzten Hieb. Alles mündete in einer Abwärtsspirale.

Benny war so weit zurückgewichen, wie er nur konnte. Neben ihm kniete Tom, aus dessen Bauch Blut quoll und auf seine Oberschenkel lief. Tom griff über die Schulter nach seinem Schwert.

»Gameland ist geschlossen«, flüsterte er. »So lautet das Gesetz.«

»Es gibt kein Gesetz«, fauchte Preacher Jack und stürmte vorwärts. Benny duckte sich vor dem Hieb und streckte die Hand nach Tom aus. Tom wollte sein Schwert ziehen, aber er hatte nicht mehr genug Kraft. Er wusste es. Preacher Jack wusste es und Benny und Nix wussten es. Das Schwert steckte noch halb in der Scheide, als sich Toms Hand kraftlos öffnete.

Doch direkt unter Toms Hand schloss sich Bennys Hand um das Heft. Sein Griff war noch unsicher und nicht richtig platziert, aber es lag Kraft darin. Benny wirbelte herum und riss das Schwert aus der Scheide. Er drehte sich weiter, Preacher Jacks Säbel zischte durch die Luft, Benny drehte sich weiter … und weiter …

Und die Zeit blieb stehen.

Groß und triumphierend stand Preacher Jack da, die Lippen zu seinem schiefen Grinsen verzogen.

Tom Imura kniete mit hängendem Kopf und leeren Händen auf dem Boden.

Zwischen Tom und Preacher Jack stand Benny, die rechte Hand seitlich ausgestreckt, verlängert durch das Schwert – Toms Kami Katana, das Dämonenschwert –, das weit in die Nacht hineinreichte. Entlang der silberfarbenen Klinge zogen sich Schlieren, glänzend wie schwarzes Öl.

Preacher Jack sprach als Erster.

»Nein«, sagte er nur.

Leise. Gurgelnd.

Dann glitt der Säbel aus seiner Hand und wie in Zeitlupe kippte der alte Mann rückwärts und fiel ins Gras. Eine schwarz glänzende Linie führte von einer Seite seiner Kehle zur anderen.

Nix schaute zu Benny hoch und sah, dass zuerst sein Arm und dann seine Lippen zu zittern begannen. Rasch sprang sie auf die Füße, zog ihn zu sich und drückte seinen Arm herunter. Als das Katana zu Boden fiel, schwebten Blutstropfen durch die Luft.

Chong rappelte sich auf, schob die Fußspitze unter Preacher Jacks Schulter und rollte ihn zur Seite. Dann bückte er sich, zog ein Messer aus dem Gürtel des Predigers, platzierte die Spitze an den Optimalpunkt und stieß zu. Tränen glänzten wie geschmolzenes Silber auf seinen Wangen, aber seine Augen waren so hart wie Stein.

Dann wandte er sich zu Benny um, der kurz nickte. Lilah kam mühsam auf die Beine und die vier umringten Tom. Tränen liefen ihnen über das Gesicht, als sie Toms Bandagen richteten und seinen Kopf in Bennys Schoß legten. Aus dem Wald kamen andere Kopfgeldjäger herbeigelaufen. Solomon Jones und Sally waren die ersten, gefolgt von J - Dog und den anderen. Sie entzündeten Fackeln und durchwühlten ihre Verbandskästen.

»Oh Gott«, rief Sally, als sie sich die Wunde an Toms Brust anschaute. »Gebt mir Nadel und Faden.«

Tom lächelte und schüttelte ganz leicht den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nein …«

Nix sah die Kopfgeldjäger an und auf ihrem Gesicht zeichneten sich Wut und Panik ab. »Wir müssen etwas tun!«

Sally Two-Knives zog Nix zu sich und drückte sie an die Brust, trotz der Schmerzen, die ihr diese Geste bereiten musste.

Solomon kniete sich auf den Boden und berührte Toms Arm. »Wir kümmern uns um sie, Tom«, versprach er. »Wir bringen sie alle nach Hause …«

»Nein, Solomon«, hauchte Tom. »Nein … das ist … ihre eigene Entscheidung. Es ist ihr Leben … ihre Wahl.«

Solomon nickte und hatte Tränen in den Augen, als er sich setzte.

»Benny«, sagte Tom so leise, dass nur sein Bruder ihn hörte.

Benny beugte sich zu ihm hinunter. »Ich bin hier, Tom.«

»Benny … ich … du musst mir etwas versprechen.«

»Alles, Tom … aber bitte … Sag mir, was ich tun soll.«

Tom hob die andere Hand und zeigte nach Osten, wo der Morgen anzubrechen schien und Hoffnung weckte. »Geht weiter«, flüsterte er. »Geht weiter, bis ihr findet, wonach ihr sucht. Du und Nix. Und Lilah.«

»Das werden wir«, versprach Benny. »Ich werde einen Ort finden, an dem wir sicher leben können.«

»Nein«, widersprach Tom entschieden. »Nein … finde einen Ort, an dem ihr frei seid. Lebendig … und frei.«

Nix begann zu weinen. Sie nahm Toms Hand und führte sie an ihre Wange.

»Seid stark«, flüsterte Tom. »Ich … ich wünschte, ich könnte mit euch kommen. Sehen, wie ihr erwachsen werdet, und was aus euch wird.« Er lächelte. »Aber ich glaube, ich muss … und ich bin so stolz auf euch. Auf euch alle.«

Benny beugte sich trotz seiner Schmerzen so weit nach unten, bis seine Stirn auf der von Tom lag. Seine Tränen fielen wie Regentropfen herab.

Tom wischte eine Träne mit einem Finger weg. »Schon komisch … ich wollte doch nur … aus dieser verdammten Stadt … verschwinden.«

Er schloss einen Moment die Augen und sein Atem ging sehr flach. Lilah und Chong klammerten sich an Nix und schluchzten hilflos, die Brust eng vor Schmerz und Trauer. Lilah nahm Toms andere Hand und hielt sie an ihre Brust, als könne ihr Puls sein Herz dazu bringen, weiterzuschlagen. Tom öffnete die Augen, und es hatte den Anschein, als sähe er etwas in weiter Ferne, jenseits des Horizonts und jenseits von allem, was sie sehen konnten.

»Benny …«

»Ja«, antwortete sein Bruder, dessen Stimme bei diesem einen Wort fast versagte.

»Ich … ich werde versuchen, nicht zurückzukommen.«

Dann schloss Tom Imura die Augen.

Ein furchtbares Schluchzen löste sich aus Bennys Brust. Nix beugte sich zu ihm hinüber und hielt ihn fest und auch Lilah und Chong rückten näher. Sie hielten einander fest, als der Himmel zu einem neuen Morgen aufriss.