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Preacher Jack stand neben White Bear und beide blickten mürrisch hinab in die Gruben. »Das dauert zu lange«, verkündete der alte Mann.

»Die Kids sind ziemlich gut«, entgegnete White Bear. »Das Ganze fängt an, mir Spaß zu machen.«

»Inzwischen sollten sie längst tot sein«, knurrte Preacher Jack ungehalten.

»Entspann dich, Dad … Charlie hat sie im Griff. Diese Kids sind Happy Meals für ihn, wirst schon sehen.«

Preacher Jack beugte sich noch weiter vor. »Hör mir zu, Junge, wenn sie diese Glocke finden und wir sie gehen lassen müssen, dann …«

White Bear lachte aus voller Brust. »Dad, als Mann des Glaubens könntest du ruhig ein bisschen zuversichtlicher sein. Ich habe alles unter Kontrolle und …«

Doch im nächsten Moment verstummte er, denn er hatte bemerkt, dass die Menge plötzlich still geworden war. Die Leute schauten nicht länger in die Gruben der Gerechtigkeit. Sie starrten schockiert auf die Rückseite des Hotels. Preacher Jack und White Bear rissen die Köpfe herum und entdeckten den Mann auf der Veranda. In seinem Holster steckte eine Pistole und an einem Riemen über seiner Schulter hing ein langes Schwert.

»Imura«, murmelte Preacher Jack, warf dann den Kopf in den Nacken und brüllte den Namen förmlich heraus, sodass er in der gesamten Arena widerhallte: »Imura!«

Neben ihm grinste White Bear wie ein fröhlicher Dämon, trat einen Schritt vor und rief mit lauter Stimme: »Na, wenn das keine Überraschung ist! Bist du hier, um dir die Spiele anzusehen und dich zu amüsieren, Tom?« Er lachte, aber nur die Wachen stimmten in sein Gelächter ein. Die Menschen auf den Rängen rutschen nervös hin und her und schwiegen. Preacher Jack hob die Hand und alle Augen richteten sich auf ihn.

»Du fragst, warum ich hier bin?«, reagierte Tom mit einem angedeuteten Lächeln. Er sprach laut genug, dass ihn die Menge hören konnte, und hielt den Steckbrief hoch, damit alle ihn sahen. »Offensichtlich wolltest du doch, dass ich herkomme.«

»Wohl wahr«, erwiderte Preacher Jack. »Du und deine miese kleine Bande von Sündern und Mördern.«

»Damit meinst du meinen Bruder Benny? Und Nix Riley, Lou Chong und Lilah?«

»Sie alle sind Sünder«, nickte der Prediger.

»Wo sind sie, Matthias?«, fragte Tom fordernd.

»Ach, sie warten auf ihre Chance, Erlösung zu finden«, antwortete der alte Mann, ohne dabei zu den Gruben zu schauen.

Tom zerknüllte den Steckbrief und ließ ihn demonstrativ von der Veranda in den Staub fallen. »Das ist eine Sache zwischen dir und mir. Lass Benny und die anderen da raus.«

Der Prediger spuckte auf den Boden. »Das ist eine Sache zwischen deiner und meiner Familie. Du hast zwei meiner Söhne und meinen Enkel umgebracht. Tu nicht so, als würdest du das nicht verstehen, Tom Imura. Du hast die Familie da hineingezogen. Hier geht es um Blutschuld.«

Tom ignorierte die johlenden Pfiffe der Wachen und das aufgeregte Stimmengewirr der Menge. Er schaute Preacher Jack direkt in die Augen. »Charlie hat die Karten ausgeteilt, Matthias, das weißt du ganz genau. Er hat über diese Berge geherrscht, als seien sie sein persönliches Königreich, und er hat sich nicht darum geschert, wer dabei verletzt wurde, solange er bekam, was er wollte. Er war ein Parasit, ein Dieb, ein Mörder und ein Kinderschänder.«

»Wag es nicht …«, setzte White Bear an, doch sein Vater berührte ihn am Arm.

»Lass ihn ausreden. Dann werden wir sehen, wie die Gerechtigkeit darüber urteilt.« Bei diesen Worten zuckte sein Blick kurz zu den Gruben.

Unten in der Grube, tief in den Schatten verborgen, starrten Benny und Nix zum Rand hinauf, als könnten sie sehen, was dort vor sich ging. Die Stimmen drangen nur gedämpft zu ihnen. Bennys Herz raste und in der Dunkelheit griff Nix nach seiner Hand und drückte sie fest.

»Nix«, flüsterte Benny aufgeregt, »ist das Tom?«

Tom trat an den Rand der Veranda, sodass alle ihn sehen konnten. »Vor einigen Jahren haben Charlie und seine Schläger versucht, Sunset Hollow zu überfallen. Es war meine Heimat, der Ort, an dem meine Familie gelebt hatte. Ich erklärte den Ort zum Sperrbezirk. Alle respektierten das, außer Charlie. Er hat nie etwas respektiert … aber es lief nicht besonders gut für ihn. Ich gab ihm und seinen Männern die Chance, sich zurückzuziehen. Aber sie nutzten sie nicht. Später, als Charlie im Dreck kniete und um sein Leben winselte, ließ ich ihn leben, weil er mir schwor – bei Gott schwor –, sich zu ändern und solche Dinge nie wieder zu tun. Nie wieder Menschen zu verletzen. Ich ließ ihn leben, Matthias. Ich ließ Gnade walten, aber kaum hatte er sich davongeschlichen, trieb er es schlimmer als je zuvor.«

»Diese Geschichte hab ich schon mal gehört«, entgegnete Preacher Jack. »Sie war damals gelogen und sie ist auch jetzt gelogen. Niemand hat Charlie je in einem fairen Kampf besiegt.«

Tom ging darauf nicht ein. »Letztes Jahr eröffnete Charlie ein neues Gameland und machte Jagd auf die eine Person, die mir sagen konnte, wo es lag. Lilah. Das Verlorene Mädchen. Um sie zu finden, brach er in Jessie Rileys Haus ein. Er prügelte diese wunderbare Frau zu Tode und entführte ihre Tochter Nix. Du weißt, was dann passiert ist.«

»Ja, ich weiß. Du hast Charlie zu Unrecht beschuldigt, und dann haben du und deine Sippe ihn im Wald aus dem Hinterhalt überfallen und getötet, als er nicht aufgepasst hat.«

»Zu Unrecht beschuldigt? Ich war da, Matthias. Ich habe Jessie Riley in den Armen gehalten, als sie starb. Ich weiß, was passiert ist. Charlie hat es herausgefordert, und ich bereue nur, dass nicht ich derjenige war, der ihn zur Strecke gebracht hat.«

»Ja … dein Bruder, diese Ausgeburt der Hölle, dieser Satansbraten, hat meinen erstgeborenen Sohn in einen Hinterhalt gelockt und ihn umgebracht.«

Das Raunen der Menge wurde lauter. Es existierten Dutzende Versionen von dem Kampf in Charlies Lager, und zwischen den Zuschauern brachen Streitigkeiten aus, als Tatsachen und Vermutungen in den Raum gerufen wurden.

White Bear wirbelte herum und brüllte: »RUHE!« Seine Stimme hallte von den Wänden des Wawona Hotels zurück und die Menge schwieg gehorsam.

Preacher Jack machte einen bedrohlichen Schritt auf Tom zu. »Du hast gesagt, was du zu sagen hattest. Jetzt hörst du mich in dieser Sache an, Tom Imura. Deine Zeit ist vorbei. Deine Herrschaft der Korruption, des Terrors und des Mordens ist abgelaufen. Ich werde die Blutschuld an dir und den deinen rächen, und wie ein Bauer, der ein ganzes Feld niederbrennt, um eine drohende Fäule zu verhindern, werde ich den Namen Imura aus dieser Welt tilgen. Deine Sünden gegen meine Familie sind zahllos und deshalb verfluche ich dich und die deinen für alle Generationen.« Er drehte sich langsam im Kreis und wandte sich so auch an die geschockte und stumme Menge. »Jeder, der zu dir steht, wird mit dir fallen. Das sind meine Worte und die der meinen.«

Einen Moment lang herrschte Stille, nur durchbrochen vom beständigen Stöhnen der lebenden Toten, die im Zirkuszelt an ihre Stühle gefesselt waren.

Unten in den Gruben der Gerechtigkeit flüsterte Benny: »Was geht da vor?«

»Keine Ahnung«, antwortete Nix. »Wir müssen Tom wissen lassen, dass wir hier sind!«

Hinter ihnen drang hungriges Stöhnen aus den Schatten.

»Keinen Mucks«, befahl Benny. Nach Tom zu rufen, war ein guter Plan, aber nicht im Augenblick. Nicht solange Tom nicht mit einer Leiter dort oben stand, an der sie hinaufklettern konnten. Aber allem Anschein nach war das nicht der Fall. Wenn sie sich jetzt bemerkbar machten, konnte das für Tom eine tödliche Ablenkung bedeuten.

Benny und Nix tasteten sich an den Wänden des Tunnels entlang. Es war stockdunkel, denn auch das Licht der Fackeln aus dem Hauptgang schwand nach wenigen Metern. Sie bemühten sich, möglichst leise zu atmen, und lauschten auf das Schlurfen toter Füße oder auf hungriges Stöhnen. Außer dem weißen Gipsstaub besaßen sie keinerlei Waffen, und Charlie war noch immer da draußen, zusammen mit 15 anderen Zombies. Vielleicht waren es auch mehr.

Ihnen lief die Zeit davon.

Tom Imura seufzte. »Ich habe es versucht«, sagte er kopfschüttelnd. Er griff über seine Schulter und zog langsam sein Schwert. Alle Wachen in der Arena hoben ihre Waffen, bewegten sich langsam vorwärts und zielten auf Toms Herz. Er ignorierte sie, als er den Arm ausstreckte und die Schwertspitze auf Preacher Jack und White Bear richtete. Das Licht der Flammen spiegelte sich auf dem glatten Stahl und funkelte an der scharfen Kante. »Jetzt hörst du mir zu«, sagte Tom mit klarer, kräftiger Stimme. »Du hast deinen Fluch ausgesprochen, Matthias. Hör dir nun meinen an. Nein, es ist kein Fluch … sondern ein Versprechen. Ich spreche zu allen, die hier sind, also hört gut zu.« Er legte eine Kunstpause ein und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Geht«, befahl er. »Legt eure Waffen nieder, werft eure Wettscheine weg und geht. Gameland ist geschlossen. Geht!«

White Bear starrte ihn an. »Wer sagt das?«

»Das Gesetz.«

»Wir sind hier im Leichenland. Hier gibt es kein Gesetz.«

Toms Schwert zeigte auf ihn, die Spitze so ruhig, als sei Tom eine Statue aus Stahl. Seine Augen waren auf White Bear gerichtet. »Ab jetzt schon.«

Preacher Jack schnaubte verächtlich. »Du hast nicht das Recht dazu und auch nicht die Macht. Der Matthias-Clan ist die einzige Macht im Leichenland … jetzt und für alle Zeit.«

»Geht!«, forderte Tom die Menge erneut auf. »Es ist eure letzte Chance. Jeder, der geht, ist frei. Bis auf Preacher Jack und White Bear. Um mit ihren Worten zu sprechen: Jeder, der zu ihnen steht, wird mit ihnen fallen. Geht!«

»Du bist ein Narr und ein Wahnsinniger«, erklärte White Bear. »Du kommst allein hierher und veranstaltest irgendein hirnloses Spektakel.« Er wandte sich an eine der Wachen, einen bulligen Mann, der vor der Ersten Nacht Runningback bei den Houston Oilers gewesen war. »Nimm ihm dieses dämliche Schwert ab und schaff ihn hier herüber.«

Der Mann lud seine Pumpgun durch. »Geht klar.«

Tom nahm sein Schwert herunter, hob seine leere linke Hand und zielte mit dem Zeigefinger wie mit einer Pistole auf den Wachposten, der langsam auf ihn zukam. Dann streckte er den Daumen hoch, als sei es der Schlagbolzen einer Pistole.

»Letzte Chance«, warnte er den Mann.

»Du bist vollkommen durchgeknallt, Imura«, konstatierte der ehemalige Footballspieler. »Das warst du schon immer.«

»Deine Entscheidung.« Tom ließ den Daumen nach unten sinken und sagte: »Peng!«

Im selben Moment ertönte ein lauter Knall. Der Mann wurde nach hinten geschleudert und landete keuchend und mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken. Blut schoss aus einem kreisrunden Loch mitten in seiner Brust. Tom blies über die Spitze seines Zeigefingers, als hätte er den Mann tatsächlich erschossen. Die Zuschauer saßen verblüfft auf den Rängen und wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Selbst Preacher Jack und White Bear standen wie versteinert da.

»Ich habe euch gewarnt«, verkündete Tom. Das Lächeln auf seinem Gesicht war verschwunden und seine Stimme klang jetzt hart und erbittert. »Ihr hättet auf mich hören sollen.«

Und dann begann das Töten.