Die Stimme des Greenman klang ruhig und sanft. »Ich weiß, wer du bist«, sagte er. »Weißt du auch, wer ich bin? Ich glaube, du hast mich schon ein paarmal gesehen. Hier und da. Die Leute nennen mich den Greenman oder einfach nur Greenman, ohne Artikel. Egal. Du kannst mich nennen, wie du willst. Oder auch nicht.«
Sie saßen in der Hütte des Greenman, tief in den Wäldern. Als Lilah nicht antwortete, ja nicht einmal den Kopf hob, stand er auf und ging in die kleine Küche. Einen Augenblick später erfüllte der Duft von frisch zubereitetem Tee den Raum.
Lilah hockte zusammengekauert in einem großen Rattansessel, die Knie angezogen und die Arme um die Schienbeine geschlungen. Nachdem der Greenman sie im Wald gefunden hatte, war er über zwei Stunden bei ihr sitzen geblieben, die meiste Zeit schweigend. Nur ab und zu hatte er alte Lieder gesungen, die Lilah nicht kannte. Bis auf eines, das George immer beim Putzen des kleinen Hauses gesungen hatte, in dem er mit Lilah und Annie in den Jahren nach der Ersten Nacht wohnte.
»California dreamin’ … on such a winter’s day …«
Lilah hatte zu weinen begonnen, und der Greenman hatte nichts gesagt, nur leise weitergesungen. Danach sang er ein anderes Lied. Und dann noch eines.
Jetzt befanden sie sich in seinem Haus, in dem es von Pflanzen nur so wimmelte. Sie hingen in Körben von der Decke und standen in Kübeln entlang der Wände. Blumenkästen waren zu beiden Seiten der geöffneten Fenster befestigt. Draußen in den Bäumen sangen und zwitscherten die Vögel. Ein Eichhörnchen hüpfte herein und knabberte Nüsse aus der Schale auf dem Tisch. Der Greenman ließ es gewähren, verscheuchte es nicht. Nun kehrte er mit zwei dampfenden Bechern aus der Küche zurück und stellte sie auf einen kleinen Tisch. Dann belud er ein Holztablett mit Körnerbrot, selbst gemachten Müsliriegeln und kleinen Schälchen mit Marmelade und Butter.
Lilah hatte bei Chong zum allerersten Mal in ihrem Leben Butter gegessen. Jetzt starrte sie auf das Tablett, die Speisen und den Tee, blieb aber reglos sitzen.
Der Greenman trank seinen Tee, ohne Lilah noch einmal ausdrücklich auf ihren Becher hinzuweisen. Sie würde ihren Tee trinken oder auch nicht – und ihm schien beides recht zu sein. Irgendwann spazierte eine große Katze durch das Küchenfenster herein. Sie warf zuerst einen argwöhnischen Blick auf Lilah und dann auf das Eichhörnchen, ehe sie sich entschloss, Lilah aus der Nähe zu betrachten. Sie schaute kurz mit leuchtenden Augen zu ihr hoch und sprang dann zu ihr auf den Sessel, rieb ihren Rumpf an ihr und schnurrte lauter, als die Lerchen in den Bäumen sangen. Lilah breitete die Arme aus, und die Katze stellte sich auf die Hinterbeine, legte die Vorderpfoten auf ihr Knie und schmiegte den Kopf an ihr Gesicht. Lilah warf dem Greenman einen raschen Blick zu, der daraufhin einmal kurz nickte. Dann nahm sie die Katze in die Arme und drückte sie an sich, als sei sie das Kostbarste auf der Welt – oder ihre einzige, letzte Verbindung zur Außenwelt.
Die Katze maunzte leise und schnurrte weiter. Lilah neigte den Kopf, bis sie die kalte Nase des Tiers berührte, das ihr kurz mit seiner rauen Zunge über die Stirn leckte.
Lilah schloss die Augen und weinte.
