27

»Ganz schön schnell mit dem Messer, die Kleine.«

Der Fremde schien wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein und stand in der Lücke zwischen der hinteren Stoßstange des Lastwagens und einem Wildwechsel, der im schattigen Wald verschwand. Es handelte sich um einen großen, breitschultrigen, aber sehr dünnen Mann in einem staubigen schwarzen Mantel und mit einem breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Lange weiße Haarsträhnen schauten darunter hervor, wie Fäden eines Spinnennetzes, und seine dünnen Lippen umspielte ein Lächeln, das an zuckende und sich windende Würmer auf einem heißen Blech erinnerte.

Lilah war so verdutzt, dass sie aus purem Reflex nach ihrem Speer griff und mit dem stumpfen Ende voraus nach dem Fremden schlug. Der Mann war mindestens 60 Jahre alt und wirkte von der heißen Sonne und den eisigen Wintern in der Sierra regelrecht ausgedörrt, doch er bewegte sich wie ein geölter Blitz. Er wich dem Speer aus, ließ seine linke Hand so plötzlich nach vorn schnellen, dass Benny sie kaum sehen konnte, entriss Lilah die Waffe und schleuderte sie in den Wald. Mit einer fließenden Bewegung stieß er Lilah unmittelbar darauf mit der flachen Hand gegen die Schulter, sodass sie gegen Nix und Chong prallte. Bevor Benny noch den Griff seines Bokutō zu fassen bekam, war Tom aufgesprungen und hatte sein glänzendes Katana gezogen. Aber dann tat der Mann etwas, das Benny für vollkommen unmöglich gehalten hätte. Noch bevor Tom den Schwerthieb durchziehen konnte, war der Mann mit dem schwarzen Hut in die bogenförmige Ausholbewegung getreten, hatte den Ellbogen von Toms Schwertarm abgeblockt und hielt Tom jetzt die Spitze seines eigenen Messers an den vorstehenden Adamsapfel.

»Junge, Junge«, sagte der Mann sanft und noch immer lächelnd, »da sitzen wir aber ganz schön in der Patsche.«

Sofort drehte Tom sich um, schlug das Messer von seinem Hals fort, wirbelte noch einmal wie ein Tänzer herum und ließ dabei die Klinge blitzschnell auf den Mann zusausen. Nur ein Haarbreit vor dessen Nase stoppte er ab.

Der Mann schielte auf die Schwertspitze und lächelte belustigt. Langsam hob er sein Messer und tippte damit leicht gegen die Klinge des Schwerts: Ping! Das Geräusch von Metall auf Metall erfüllte die Stille.

»Sagen wir, es steht eins zu eins und der Rest der Partie wurde wegen Regens abgesagt«, schlug der Fremde vor. Ohne abzuwarten, ob Tom einverstanden war, ließ er den Griff des Messers wie ein Zauberkünstler über die Finger gleiten und steckte die 25 Zentimeter lange Klinge in eine Scheide an seinem Gürtel.

Das veranlasste Tom jedoch nicht, sein Schwert zu senken. Er warf einen raschen Blick in den Wald und fragte dann Lilah: »Alles in Ordnung?«

Sie knurrte leise Unverständliches, rappelte sich auf und legte die Faust drohend auf den Griff der Pistole in ihrem Holster. Nix half Chong auf. Beide wirkten ängstlich und verunsichert. Benny hatte inzwischen sein Holzschwert gezückt und trat rechts neben Tom, um einen Flankenangriff abwehren zu können.

»Okay«, meinte Tom, das Schwert noch immer mit beiden Händen umklammert. »Wer bist du?«

»Würde es dir etwas ausmachen, dein Katana zu senken, Bruder?« Der weißhaarige Mann hatte die Hände gehoben und lächelte weiterhin. Seine eisblauen Augen lächelten jedoch nicht. »Wir sind doch unter Freunden hier.«

Benny bemerkte, dass der Mann nicht nur Toms Frage ausgewichen war, sondern auch wusste, was ein Katana war. Interessant.

»›Freund‹ ist ein seltsames Wort für jemanden, der ein junges Mädchen angreift«, erwiderte Tom.

Der Mann schaute schockiert – zumindest tat er so. »Soweit ich mich erinnern kann, Bruder, hat sie versucht, mir mit dem stumpfen Ende ihres Speers die Zähne zu richten. Ich habe ihr einen kleinen Schubs gegeben, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern und die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass ich mein Essen fortan ohne Zähne zu mir nehmen muss. Dann haben du und der andere Jüngling dort ein Schwert auf mich gerichtet. Ich habe mein Messer nur zu Hilfe genommen, um die Lage zu entspannen.« Der schockierte Ausdruck wich langsam aus seinem Gesicht und um seinen Mund spielte wieder dieses zuckende Lächeln. Er tätschelte das Messer in der Scheide. »Und wie du siehst … entspanne ich die Lage.«

Tom senkte sein Schwert nicht einen Zentimeter. »Ich habe dich nach deinem Namen gefragt«, sagte er ruhig.

»Heutzutage haben die Leute anscheinend viele verschiedene Namen, nicht wahr?«

Tom schwieg.

»Schon gut, schon gut.« Der Weißhaarige lachte leise. »Du musst deshalb so ernst sein, weil du der Erwachsene bist und Kinder zusehen. Ich respektiere das. Wie der Hirte und seine kleine Herde.«

»Dein Name.«

»Als ich heulend auf die Welt kam, gab man mir den Namen John. Stammt aus der Bibel und bedeutet ›Gott hat Gnade erwiesene‹. Wirklich gütig, ein Kind so zu nennen, das noch gar nichts Nennenswertes vollbracht hat.« Er nahm seinen schwarzen Hut ab und schaute zu Nix und Lilah. »Es freut mich, eure Bekanntschaft zu machen, junge Damen, und ich bitte aufrichtig um Verzeihung für mein grobes, ungehobeltes Benehmen. Bitte nehmt meine tief empfundene und demütige Entschuldigung an.« Er verbeugte sich und berührte mit seinem Hut fast den Boden. Als er wieder hochkam, grinste er Tom augenzwinkernd an. »Du siehst aus wie einer, der viel unterwegs ist, und dieses Schwert weist dich als Händlerwache oder als Kopfgeldjäger aus. Also wirst du meinen Namen wahrscheinlich schon einmal gehört haben.«

»Und der wäre?«

Der Mann richtete sich vollständig auf und öffnete seinen Mantel, um den abgenutzten schwarzen Einband einer Bibel freizulegen, die bis zur Hälfte in seiner Innentasche steckte. »Preacher Jack.«

Tom kniff leicht die Augen zusammen. »Du bist Preacher Jack?«

»Ja, der bin ich, wie er leibt und lebt. Du hast also schon von mir gehört?«

»Wir haben ein paar gemeinsame Bekannte«, murmelte Tom. »J - Dog, Solomon Jones, Dr. Skillz. Viele Leute meines Gewerbes kommen durch Wawona.«

Plötzlich schien ein Licht die blauen Augen von Preacher Jack zum Funkeln zu bringen, und Benny hatte den Eindruck, als würde der Mann einen Moment lang blass werden. Der Prediger musterte Tom von Kopf bis Fuß und drehte sich dann zu Benny, Lilah und Nix um. Jedes Mal, wenn sein Blick zu einem anderen wanderte, glaubte Benny, dieses seltsame Licht in den Augen des alten Mannes aufflackern zu sehen. All dies geschah innerhalb weniger Sekunden, aber die Temperatur und die Atmosphäre des Tages schienen in den Keller zu sinken. Das Einzige, was gleich blieb, war das zuckende Lächeln des Predigers.

»Sieh an, sieh an. Welch gesegneter Tag, und wenn du endlich diesen Fleischspieß herunternimmst, würde ich dir gern die Hand schütteln. Denn ich glaube, ich weiß, wer du bist – jawohl. Zäh aussehender Mann, Anfang 30, mit schwarzen Haaren und schwarzen Augen. Japanisches Schwert und ein dazu passendes japanisches Gesicht. Ich würde meinen letzten Rationendollar darauf verwetten, dass du kein anderer bist als Tom Imura. Tom der Schwertkämpfer, Tom der Waldläufer, Der Schnelle Tommy, Tom der Killer.«

Langsam senkte Tom sein Schwert. »Ich benutze keine Spitznamen«, sagte er leise.

»Im Gegensatz zu den meisten Leuten«, meinte Preacher Jack und strich sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nach der Ersten Nacht haben die meisten hier draußen ihren Familiennamen nur allzu gern abgestreift, wie eine Schlange ihre Haut. Gab ihnen die Gelegenheit, nicht mehr diejenigen sein zu müssen, die sie einst waren, und als jemand anders wiedergeboren zu werden. Manchmal als ein viel besserer Mensch, manchmal auch nicht. Aber das weißt du ja alles, Bruder Tom.«

Tom knurrte nur zustimmend und schob sein Schwert langsam in die Scheide zurück. Alle anderen schienen gleichzeitig erleichtert aufzuatmen und Benny senkte sein Bokutō. Nicht, dass er damit viel hätte ausrichten können – er war noch immer verblüfft, dass dieser weißhaarige alte Mann genauso blitzschnell gewesen war wie Tom. Und davon abgesehen: Wieso konnte ein Prediger wie ein Profi mit einem Messer umgehen?

»Die meisten dieser Spitznamen stammen von Leuten, die mich eigentlich gar nicht kennen«, erklärte Tom.

Benny fiel auf, wie vorsichtig sein Bruder sprach. Tom mochte sein Schwert weggesteckt haben, aber er war noch immer auf der Hut.

»Ich nenne dich so, wie du möchtest, Bruder«, sagte Preacher Jack und streckte ihm die Hand entgegen. »Ich habe so viele interessante und großartige Dinge über dich gehört, dass ich dir gern die Hand schütteln würde.«

Tom ignorierte die ausgestreckte Hand und deutete mit dem Kinn auf den toten Mann. »Weißt du etwas darüber?«

Preacher Jack schaute auf seine Hand, als sei er überrascht, dass sie frei in der Luft schwebte. Dann zuckte er betrübt die Schultern und richtete mit der verschmähten Hand seinen breitkrempigen Hut. Anschließend ging er langsam an Benny vorbei und betrachtete den Toten auf dem Boden. Nix und Lilah standen auf der anderen Seite neben ihm und beäugten ihn argwöhnisch. Chong hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und starrte auf den Dreck zwischen seinen Schuhen.

»Sind die Kinder über ihn hergefallen?«, fragte Preacher Jack.

»Kinder?«, platzte Nix heraus. »Wir haben nicht …«

»Nein«, unterbrach Benny sie. »Er meint die ›Kinder Lazarus’‹. Die Zoms.«

Preacher Jack zuckte zusammen, als hätte Benny ihn mit Zitronensaft bespritzt.

»Oh, oh … du liegst richtig und falsch, junger Herr. Richtig, was die Kinder Lazarus’ betrifft, die das diesem armen Mann angetan haben, und falsch, weil ›Zom‹ ein hässliches Wort ist, das anständige Leute nicht verwenden.«

»Es ist nur die Abkürzung von Zombie«, erklärte Benny.

»Ich weiß, was es bedeutet, junger Bruder«, wies ihn Preacher Jack zurecht, »aber man sollte mit diesem Wort nicht leichtfertig spaßen. Es kommt von Nzùmbe, dem Namen eines westafrikanischen Schlangengottes. Willst du sagen, dass du dieses Wort benutzt, um einem heidnischen Tiergeist zu huldigen? Oder benutzt du es in der anderen Bedeutung von sombra, dem in Louisiana gebräuchlichen kreolischen Wort für Geist? Denn damit würdest du die Macht des Teufels hier auf Erden anerkennen.«

Benny war verwirrt. Preacher Jacks Stimme war so einnehmend wie die eines Eiscremeverkäufers, aber seine Augen so kalt wie Frost.

»Ich …«, setzte Benny an, aber Nix schnitt ihm das Wort ab.

»Meine Mutter hat mir beigebracht, dass Worte nur die Bedeutung haben, die wir ihnen geben, Mister«, sagte sie kühl und bestimmt.

»Oh, das ist eine hübsche Vorstellung, hat aber mit der Wahrheit nicht das Geringste zu tun. In Wirklichkeit steckt sehr viel Macht in Worten. Die gute, reine Macht des Wort Gottes und dunkle, üble Zauberei.«

»Alle sagen ›Zom‹«, wandte Benny ein, obwohl er wusste, dass es nicht stimmte. Bruder David benutzte das Wort nie und hörte es auch nicht gern, und Benny hatte kein Problem damit, sich in Gegenwart des Mönchs zurückzuhalten … doch hier, jetzt im Augenblick, hätte er am liebsten aus voller Kehle »Zom-Zom-Zom« geschrien.

Preacher Jacks dunkle Augen funkelten. »Viele empfinden dieses Wort als beleidigend und …«

Tom unterbrach ihn. »Wir wollen niemanden beleidigen. Wir können nicht für andere sprechen, aber wenn sich jemand durch die Wortwahl meines Bruders beleidigt fühlt, dann ist das nicht die Schuld meines Bruders.«

»Ach ja?« Das Lächeln wich keine Sekunde aus Preacher Jacks Gesicht. »Das ist eine anständige und aufrichtige Art, die Dinge zu sehen, und ich respektiere sie, Bruder Tom. Aber es liegt in der Natur des freien Willens, dass wir uns wohl darauf einigen können, nicht einer Meinung zu sein.«

Tom ging nicht darauf ein, sondern fragte: »Weißt du etwas darüber, was mit diesem Mann passiert ist?«

Der Prediger kniete sich neben den Toten, gab ein undefinierbares Summen von sich und schielte dann mit einem Auge hinauf zu Tom. »Was genau möchtest du wissen, Bruder Tom? Der Mann hat die Fürsorge der Kinder Lazarus’ erfahren und ist zu seinem Schöpfer heimgekehrt. Er wurde durch das Messer der weißhaarigen jungen Dame befriedet. Ich weiß nicht, ob es noch mehr zu sagen gibt.«

»Lilah hat ihn nicht befriedet«, platzte Nix heraus. »Er ist gar nicht wiedererwacht.«

Preacher Jack drehte blitzschnell den Kopf, wie eine Gottesanbeterin, und schaute sie an. »Wie kommst du darauf, meine Kleine?«

»Nennen Sie mich nicht so«, zischte Nix.

»Oh, tut mir leid. Findest du das beleidigend?«

Oje, dachte Benny. Am liebsten hätte er dem Kerl mit dem Holzschwert auf den Kopf geschlagen.

Bevor Nix eine scharfe Antwort entgegenschleudern konnte, sagte Tom: »Als wir diesen Mann fanden, war er ganz offensichtlich schon mindestens einen Tag tot und ist nicht wiedererwacht. Ich habe dich gefragt, ob du irgendetwas darüber weißt.«

»Nein, Bruder Tom«, sagte Preacher Jack und erhob sich. »Darüber weiß ich nichts.«

»Irgendeine Ahnung, wer ihn an die Toten verfüttert hat?«

Benny fiel auf, dass Tom von »Toten« statt von »Zombies« sprach.

»Das ist mir ebenfalls ein Rätsel«, antwortete der Prediger. »Warum, in Gottes Namen, sollte jemand so etwas tun?«

»Hast du eine Ahnung, wer er war?«, fragte Tom weiter. »Ich habe gehört, du lebst in Wawona. Ist er dort vorbeigekommen?«

»Ich habe diesen armen Sünder noch nie zuvor gesehen.«

Tom lächelte fast. »Sünder? Wenn du ihn noch nie zuvor gesehen hast, wie kannst du dann wissen, dass er ein Sünder war?«

»Wir sind alle Sünder, Bruder Tom. Jeder einzelne lebende Bewohner dieses Fegefeuers. Selbst demütige Geistliche wie ich – Sünder allesamt. Nur die Kinder Lazarus’ sind reinen Herzens und reiner Seele.«

»Wie soll denn das gehen?«, fragte Benny skeptisch. »Sie essen Menschen.«

»Sie sind die Sanftmütigen, die sich von den Toten erhoben haben, um diesen neuen Garten Eden zu besitzen.« Der Mann breitete die Arme aus, wie um die grüne, überwucherte Weite des Leichenlands zu umfassen. »Sie sind wiedergeboren im Blut der alten Welt, reingewaschen von ihren Sünden, und jetzt wandeln sie im Licht der Erlösung. Nur wir, die schwindende Zahl der wenigen, die an den alten Pfade der Sünde, der Ketzerei und Gottlosigkeit festhalten …«

»Äh …«, setzte Benny an, musste aber einsehen, dass er für religiöse Debatten nicht der geeignete Kandidat war.

Lilah trat einen Schritt vor. Ihre Augen schauten ein wenig nervös, und Benny wurde klar, dass es sie wahrscheinlich ziemlich getroffen hatte, dass ihr jemand so mühelos die Waffe abnehmen konnte. Bisher war sie nur von Rotaugen-Charlie besiegt worden. »Du sagst, dass wir alle Sünder sind? Dass wir verdient haben, was auch immer mit uns geschieht?«

»Das sage nicht ich, kleines Fräulein, sondern das Buch der Bücher.«

»Von Zombies gefressen zu werden, steht in der Bibel?«, fragte Nix und schaute den Prediger dabei ganz offen an. Benny gefiel es, wie sie das Wort »Zombies« betonte.

»Nicht in solch derben Worten.« Er tätschelte das Buch in der Innentasche seines Mantels. »Aber, ja … das Schicksal der Menschheit steht hier ganz genau geschrieben.«

»Wo?«, verlangte Lilah zu wissen. »An welcher Stelle der Bibel steht das?«

In den Augen des Predigers veränderte sich etwas. Er erinnerte Benny an eine Schlange, die durch die Sehschlitze einer Maske hinausschaute.

»Wer die Heilige Schrift studiert, der wird es finden«, entgegnete Preacher Jack leise. »Aber ich möchte wetten, dass du dir noch nie die Zeit genommen hast …«

»Diese Wette verlieren Sie, Mister.«

Alle drehten sich um. Chong hatte sich zu Wort gemeldet. Er hatte Lilahs Speer aus den Büschen geborgen und gab ihn ihr zurück. Sie nahm ihn entgegen, ohne Chong anzusehen.

Preacher Jack musterte Chong von oben bis unten und verzog den Mund zu einem abfälligen Lächeln. »Das bezweifle ich, mein Sohn. Nach dem, was ich gehört habe, hat diese junge Lady ein hartes und primitives Leben in den Bergen geführt, weit weg von einer Kirche oder einer Gemeinde.«

»Na und? Ist ein Schäferhund denn kein Schäferhund mehr, nur weil es keine Herde oder keinen Hirten gibt?« Chong fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Werfen Sie keine theologischen Fragen auf, wenn Sie nicht bereit sind, sie zu diskutieren.«

Noch immer lächelte Preacher Jack unverdrossen. »Sieh an, sieh an … worauf sind wir denn hier gestoßen? Ein Klassenausflug der Sonntagsschule, ausgerechnet ins Leichenland?«

»Wohl kaum«, mischte Tom sich ein.

»Was dann?«

Chong, Lilah, Nix und Benny begannen alle gleichzeitig zu reden, aber Tom schnippte mit den Fingern – ein Geräusch, das so scharf und durchdringend war wie ein Pistolenschuss. Die Handflächen nach unten gerichtet, machte er eine Geste, als würde er die Luft hinunterdrücken. Es handelte sich um eines der Handzeichen der Krieger, die er ihnen in den vergangenen sieben Monaten beigebracht hatte, und es bedeutete: Sei ruhig, aber bereit.

»Wir sind in einer persönlichen Angelegenheit unterwegs«, erklärte Tom sanft. »Es ist etwas Familiäres und darüber reden wir nicht mit Fremden.«

»Sind wir das denn, Bruder?«, fragte der Prediger in einem leicht vorwurfsvollen Tonfall. »Sind wir Fremde?«

»Wären wir uns in der Stadt, in Wawona oder in einer der Raststätten begegnet, hätte ich wahrscheinlich nichts dagegen gehabt, ein wenig zu plaudern. Aber das ist hier nicht der Fall. Ich finde einen Mann, der gefoltert und an die Untoten verfüttert wurde. Das ist sehr suspekt. Und dann erscheinst du plötzlich wie aus dem Nichts.«

»Ich …«

Tom hob die Hand und unterbrach ihn. »Lass mich ausreden. Ich bin nicht feindlich gesinnt und will auch nicht respektlos

sein, aber ich kann es mir nicht leisten, einem Fremden zu vertrauen.« Er deutete mit dem Kinn auf Benny und die anderen. »Manieren müssen hinter gesundem Menschenverstand und Sicherheit zurückstehen.«

»Das sehe ich.«

»Ich frage dich noch einmal: Weißt du etwas darüber, wer dieser Mann war, warum er getötet wurde oder warum er nicht wiedererwacht ist?«

Preacher John hakte die Daumen in seinen Gürtel, und Benny bemerkte, dass er dadurch den Ballen seiner rechten Hand auf den Knauf seines Messers legte. Nachdem er gesehen hatte, wie schnell dieser Mann sein Messer ziehen konnte, gab sich Benny nicht der Illusion hin, dass diese Geste zufällig geschah. Vorsichtig umfasste er sein Bokutō fester.

»Ich glaube nicht, dass ich eine Antwort auf deine Fragen habe«, murmelte der Mann in dem staubigen Mantel.

»Dann sind wir hier wohl fertig.«

»Fertig mit mir oder mit diesem armen Sünder?«

»Mit beiden.« Tom trat einen Schritt zurück.

Preacher Jack nickte. »Vielleicht treffen wir uns unter angenehmeren Umständen einmal wieder, Bruder Tom.«

»Das wäre schön, ist aber unwahrscheinlich. Wie du siehst, ziehen wir nach Osten.«

Zum ersten Mal flackerte das Lächeln des Predigers. »Was? Ihr verlasst die Berge? Wann kehrt ihr zurück?«

»Ich gehe nicht davon aus, dass wir zurückkehren.«

Diese Information ließ das Lächeln vollständig aus Preacher Jacks Gesicht verschwinden. Er schaute enttäuscht, ja sogar ein wenig wütend drein, und Benny beobachtete, wie sein Bruder die Veränderung im Gesichtsausdruck des Predigers registrierte.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Tom, wobei seine Miene und Stimme ausdruckslos blieben.

Das Lächeln kehrte zurück, zuerst zögerlich, aber dann mit all seiner zuckenden Lebhaftigkeit. »Nicht in Ordnung? Wieso? Nein, ganz und gar nicht – außer dass es bestimmt ein Segen gewesen wäre, sich hinzusetzen, gemeinsam das Brot zu brechen und zu versuchen, sich auf eine zivilisiertere Art noch einmal zu begegnen. Ich fürchte, wir haben einander auf dem falschen Fuß erwischt. Messer, harte Worte und so weiter.«

Jetzt lächelte Tom, und sein Lächeln wirkte ehrlich, zumindest für Benny.

»Nun ja«, sagte er. »Ich glaube, das war wirklich nicht die beste Art, einander kennenzulernen.« Er zuckte die Achseln. »Aber es hätte auch schlimmer sein können.«

»Genau«, pflichtete Preacher Jack ihm mit einem Funkeln in den Augen bei, »das hätte es wirklich.«

Während sie dort standen – knapp drei Meter voneinander entfernt, mit einer Leiche zwischen sich auf dem Boden –, hatte Benny das Gefühl, als würden alle möglichen Formen der Kommunikation gleichzeitig stattfinden. Worte, die nicht ausgesprochen, aber von allen verstanden wurden. Außer von Benny und, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, von Nix.

Preacher Jack verbeugte sich vor Nix und Lilah. »Sollte ich den jungen Damen durch Wort oder Tat zu nahe getreten sein, tut mir dies aufrichtig leid und ich bitte demütig um Vergebung«, flötete er, während er den Hut abnahm und sich noch tiefer verbeugte. »Das Leichenland ist nicht gerade eine Schule für anständiges Benehmen und in harten Zeiten vergessen wir oft unsere gute Kinderstube.«

Lilah schwieg, doch der Blick ihrer honigfarbenen Augen wirkte etwas weniger stechend. Nix deutete nur ein kurzes Kopfnicken an.

Dann wandte sich der weißhaarige Prediger an Benny: »Friede sei mit dir, kleiner Bruder.«

»Äh … ja, klar. Gleichfalls.«

Preacher Jack ignorierte Chong vollständig, fixierte aber Tom mit einem wissenden Lächeln. »Ich werde meine Hand nicht erneut ausstrecken, Bruder Tom, weil ich fürchte, dass sie wieder nicht ergriffen und geschüttelt wird. Daher ziehe ich nur meinen Hut und sage euch allen Lebewohl. Möge der Herr euch vor Schlangen, Fallen und dem Bösen bewahren, zu dem Menschen fähig sind.« Mit diesen Worten setzte der Prediger seinen Hut wieder auf, zog die Aufschläge seines Mantels gerade und ging zurück in den Wald, wo er so schnell im Schatten verschwand, dass die ganze Begegnung ebenso gut nur ein Traum hätte sein können.

Tom und die anderen blieben ganze fünf Minuten wie angewurzelt stehen und lauschten zuerst auf die leisen Schritte von Preacher Jack und dann auf den Wald, dessen normale Geräusche der Reihe nach zurückkehrten.

Benny stieß schnaubend die Luft aus und wandte sich an Tom: »Was war denn das?«

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte Tom.

Benny sah, dass sein Bruder besorgt war. Er folgte ihm zum Straßenrand, wo sich beide hinhockten und die Erde des Wildpfads inspizierten, über den Preacher Jack verschwunden war. Tom nahm einen Zweig, um den Schuhabdruck des Mannes zu vermessen. »Hochwertige Wanderschuhe«, murmelte er. »Aus der Zeit vor der Ersten Nacht – und das bedeutet, dass sie entweder von einer Plünderung stammen oder für ein hübsches Sümmchen Rationendollar gekauft wurden.«

Benny nickte und beugte sich hinab, um das Profil der Schuhe zu untersuchen, genauso wie Tom es ihm beigebracht hatte. Die Sohle war ziemlich abgenutzt und an der rechten Ferse ließ sich eine halbmondförmige Einkerbung erkennen. »Diese Kerbe ist ziemlich markant«, konstatierte er, was ihm ein anerkennendes Kopfnicken von Tom eintrug.

»Sie ist so gut wie ein Fingerabdruck. Präg sie dir sorgfältig ein«, erläuterte Tom und rief dann die anderen herbei, damit sie sich das Sohlenprofil ebenfalls ansahen und dessen charakteristische Kennzeichen merkten.

»Wozu der ganze Aufwand?«, fragte Chong. »Ist dieser Mann unser Feind?«

»Ich weiß nicht, was er ist«, räumte Tom ein, »aber hier draußen kann es nicht schaden, sich so viele Details wie möglich einzuprägen. Man weiß nie, ob sie nicht einmal nützlich sein können.«

»War das wirklich Preacher Jack?«, fragte Nix ungläubig.

Tom stand auf und schaute auf den Wildpfad. »Na ja … er passt auf die Beschreibung, die ich von Dr. Skillz bekommen habe. Zumindest äußerlich.«

»Ist es okay, wenn ich sage, dass er das Unheimlichste ist, das ich je gesehen habe? Und ich habe schon verwesenden Zombies gegenübergestanden.«

Tom nickte. »Ja, Nix, das kannst du mit Fug und Recht sagen.«

»Ich mag ihn nicht«, knurrte Lilah und hielt ihren Speer fest umklammert. »Wenn ich ihn noch einmal sehe …« Sie beendete den Satz nicht.

»Ich glaube, wir sollten alle sehr vorsichtig sein«, meinte Tom.

»Bist du dir sicher, dass er wirklich ein Prediger ist?«, hakte Chong nach.

Tom schüttelte den Kopf. »Über ihn kann ich gar nichts mit Sicherheit sagen. Nicht das Geringste.« Er schaute hinauf in den Himmel.

Benny wollte ihm eine Frage stellen, aber Tom schüttelte erneut den Kopf.

»Es wird immer später«, erklärte er. »Wir müssen zur Raststätte und auf dem Weg dorthin brauch ich Zeit zum Nachdenken. Danach reden wir. Wir werden uns im Pfadfindertempo vorwärtsbewegen. Das heißt, wir gehen 200 Schritte, laufen 300 und gehen dann wieder 200. Auf diese Weise kommen wir schneller voran.«

Und werden davon abgehalten, Fragen zu stellen, flüsterte Bennys innere Stimme. Schlau.

»Nix – es hängt von dir ab. Kannst du dieses Tempo mitgehen? Und bitte sei ehrlich: ja oder nein?«

»Ja«, erklärte sie überaus entschlossen. »Und ich verspreche, es dir zu sagen, wenn ich nicht mehr kann.«

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Tom in Richtung Südosten und setzte sich in Bewegung.

Die anderen folgen ihm. Sie liefen und gingen, liefen und gingen. Ihnen blieb keine Zeit, Tom zu löchern, aber Benny schossen ungefähr 10 000 Fragen durch den Kopf, und er wusste, dass es Nix genauso ging.

Wer war Preacher Jack? Hatte er etwas mit dem Toten zu tun? Wer hatte den Mann umgebracht? Und warum? Konnte Rotaugen-Charlie wirklich noch am Leben sein? Steckte er hier irgendwo in den Bergen? Wusste er, dass sie hier waren? Die wichtigste Frage lautete jedoch: Wie kam es, dass der tote Mann nicht wiedererwacht war? Seit der Ersten Nacht kam jeder, der starb – egal auf welche Art und Weise –, als lebender Toter wieder zurück.

Warum war das mit diesem Toten nicht passiert?

Was hatte das zu bedeuten?

Benny rannte weiter, aber die Fragen ließen ihm keine Ruhe.

Aus Nix’ Tagebuch

Wie viele Menschen leben da draußen noch?

Tom sagt, es gäbe ein Netzwerk von etwa 500 Kopfgeldjägern, Händlern, Raststättenmönchen und Plünderern in Zentralkalifornien. Und vielleicht an die 200 Eremiten, die an isolierten, entlegenen Orten leben. Hört sich viel an, ist es aber nicht. Unser Geschichtslehrer hat uns erzählt, dass Kalifornien mit fast 40 000 000 Menschen einst der bevölkerungsreichste Bundesstaat war.