16

Als die erste Andeutung der Morgenröte jenseits des Waldrands am Horizont schimmerte, hatte Tom alle gestiefelt und gespornt am Tor versammelt.

Während der vergangenen Wochen hatte Tom die Frau des Bürgermeisters überredet, für jeden von ihnen eine Weste aus sehr starkem Segeltuch aus der Zeit vor der Ersten Nacht zu nähen. Die Westen besaßen jede Menge Taschen und waren äußerst strapazierfähig. Benny hatte seine Taschen mit Kaugummi gefüllt, dazu wetterfeste Zündhölzer, ein Kompass, Spulen mit Draht und Zwirn sowie eine Handangelschnur. Er versuchte, nicht an Morgie zu denken, als er die Schnur in die Westentasche steckte. Aber es funktionierte nicht. Als sie ihre Ausrüstung checkten, schaute Benny immer wieder zurück zur Stadt.

»Er kommt bestimmt«, versicherte Nix.

Aber Morgie kam nicht.

Tom kaufte für jeden von ihnen drei kleine Flaschen Kadaverin und einen Tiegel Pfefferminzpaste von einem Verkäufer am Tor. Beim Kadaverin handelte es sich um eine Chemikalie, die aus verwestem Fleisch gewonnen wurde – und Benny war sich ziemlich sicher, dass dafür tote Tiere und nichts anderes verwendet wurde … wie etwa tote Zombies. Wenn man sich das Zeug auf Kleidung und Haare spritzte, roch man wie ein verwesender Leichnam und war meistens vor Zombies gefeit, weil diese sich nicht gegenseitig angriffen.

Chong roch das Kadaverin und wich zurück. »Entzückend.«

Tom reichte ihnen die Pfefferminzpaste und wandte sich an Chong: »Wenn wir Kadaverin einsetzen, solltest du dir das am besten auf die Oberlippe schmieren. Dann riechst du es nicht.«

Sofort machte Chong sich daran, den Flaschendeckel abzuschrauben, aber Tom hielt ihn davon ab. »Noch nicht. Kadaverin und Pfefferminzpaste nutzen wir nur im Notfall. Im Moment heben wir es auf für später.«

»Warum?«, hakte Chong nach. »Warum kaufen wir nicht ein paar Gallonen von dem Zeug und baden darin?«

Benny beugte sich zu Chong vor und flüsterte ihm zu: »Genau, denn dann findet Lilah dich bestimmt unwiderstehlich.«

Mit unveränderter Miene murmelte Chong: »Von mir aus kannst du tot vom Pferd fallen.«

Benny grinste. Überrascht, dass er noch grinsen konnte, drehte er sich um und warf einen letzten Blick auf die Stadt. Kein Morgie. Er schloss die Augen, holte tief Luft und versuchte, sich davon zu lösen. Vom Schmerz, vom Verrat, von der Erinnerung an Morgies letzte Worte. Während er einatmete, hatte er das Gefühl, als würden seine Lungen brennen. Konzentriert atmete er weiter ein und aus, bis sich etwas in seinem Kopf veränderte.

Wir gehen fort, dachte er. Es passiert wirklich. In dem Moment, in dem er das dachte, schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Das Nebeneinander dieser beiden Gedanken war äußerst verstörend, und er erinnerte sich, wie er am Vortag über Nix’ Frage gegrübelt hatte, ob er wirklich fortgehen wolle. Ein Teil von ihm sagte: Ich will mich auf den Weg machen, während ein anderer Teil flüsterte: Ich bin bereits unterwegs. Es waren zwei völlig verschiedene Antworten.

Nix, intuitiv wie immer, schaute ihn an und fragte mit einem stummen Blick, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich im nächsten Augenblick zu dem menschenleeren Zaun um und ließ die Schultern hängen. Dann wandte sie sich Benny erneut zu und nickte traurig.

Auf Wiedersehen, Morgie, dachte Benny.

»Okay, ich erkläre euch jetzt, wie es läuft«, verkündete Tom. »Ich gehe voran, ihr folgt mir. Wenn ich Anweisungen gebe, hört ihr mir aufmerksam zu. Keine Spielchen.«

Bei seinen letzten Worten warf er Benny und Chong einen scharfen Blick zu, doch die beiden schauten wie Unschuldsengel drein, die man fälschlicherweise einer schweren Sünde bezichtigt hatte.

»Ich meine es ernst«, betonte Tom. »Ich weiß, dass wir alle bewaffnet sind und ihr alle eine Art Grundausbildung erhalten habt. Aber im Leichenland bekommt man nur eine einzige Chance – wer sich einen Fehler erlaubt, ist tot.«

Lilah gab einen tiefen, kehligen Laut von sich, und Benny berührte unbewusst die Stelle an seinem Hals, an die sie ihm den Dolch gedrückt hatte, nach dem Kampf mit Zak und Zak junior auf dem Rasen der Familie Matthias. Nix musste dasselbe gedacht haben, denn sie trat einen halben Schritt vor und stellte sich zwischen die beiden. Auf ihrem Gesicht lag nicht der Hauch eines Lächelns.

Tom zog den Riemen fest, an dem er sein Katana um die Schulter trug, und räusperte sich. »Sobald die Zaunwachen die Zombies zum anderen Ende gelockt haben, gehen wir raus und laufen direkt zur Baumgrenze. Einer hinter dem anderen. Ich laufe voran, dann Nix, Benny, Chong und zum Schluss Lilah. Verstanden?«

Alle nickten.

»Lasst eure Waffen umgeschnallt. Im Moment ist Schnelligkeit wichtiger als alles andere. Die Wachen werden versuchen, die Zombies abzulenken, bis wir weit genug weg sind. Danach sind wir auf uns allein gestellt.«

»Was ist, wenn wir einem Zombie begegnen?«, fragte Chong.

»Falls das passiert, sehe ich ihn zuerst und kümmere mich darum. Wenn er von der Seite kommt, übernimmt Lilah ihn.« Tom schaute alle eindringlich an. »Ich will keine Heldentaten. Ich bin noch immer sauer auf euch, weil ihr zu Zaks Veranda marschiert seid. Ihr hättet mich oder Captain Strunk rufen sollen. Das war nicht klug wie ein Krieger. Ich weiß, dass ihr euch für unheimlich cool haltet, aber ihr seid weit davon entfernt, echte Samurai zu sein. Ein erfahrener Kämpfer geht keine unnötigen Risiken ein. Habt ihr mich verstanden?«

Sie nickten.

»Nein, sagt es laut«, forderte Tom.

Sie sagten es.

Der Lichtschimmer an der Baumlinie war inzwischen so hell, dass sie die Zombies sehen konnten, die über das Feld schlurften oder wie Statuen in der Landschaft standen. Die meisten Zoms bewegten sich nur, um Beute zu verfolgen, und blieben die übrige Zeit stehen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Draußen im Leichenland hatte Benny Zoms gesehen, denen Kriechpflanzen an den Beinen hochrankten. Er war sich noch immer nicht sicher, ob er das traurig oder eher schrecklich finden sollte.

Endlich nickte Tom mürrisch und trat ans Tor. »Macht euch bereit«, sagte er leise und winkte dann dem Sergeanten zu, der das Kommando über die Nachtschicht hatte. Der Sergeant pfiff, und sofort begannen seine Männer, auf Trommeln und Stahltöpfe zu schlagen, während sie mit schnellen Schritten am Zaun entlang nach Norden liefen. Die Zombies auf dem Feld zuckten kurz zusammen, aufgeweckt durch den Lärm und die Bewegung, die sie mit welchen Sinnen auch immer wahrnahmen. Einer nach dem anderen drehte sich um, stöhnte leise und bewegte den grauen Mund, als übte er in Erwartung eines schauerlichen Mahls das Kauen, bevor er angeschlurft kam. Mit einer morbiden Faszination beobachteten Benny und seine Freunde das gruselige Spektakel.

»Es ist so seltsam«, bemerkte Nix leise. »Wie können sie tot sein und trotzdem auf Geräusche reagieren, Beute verfolgen und jagen?«

»Das weiß keiner«, antwortete Tom. »Sie brauchen nicht zu essen. Es bringt ihnen keinen Nutzen, wenn sie töten. Sie können jahrelang existieren, ohne dabei weiterzuverwesen. Niemand hat dafür eine Erklärung.«

Chong schüttelte den Kopf. »Es muss dafür eine wissenschaftliche Erklärung geben.«

»Soweit wir wissen, sind alle Wissenschaftler tot«, teilte Tom ihm mit. »Bis auf Doc Gurijala, und der war nur Allgemeinmediziner.«

»Hat er je einen Zombie untersucht?«, fragte Nix.

»Nein«, erwiderte Tom leise, um die schlurfenden Zombies nicht anzulocken. »Ich habe es ihm Hunderte Male vorgeschlagen und ihm gesagt, dieses Wissen könne uns vielleicht dabei helfen, zu verstehen, was die Zombies sind und womit wir es zu tun haben. Das war unmittelbar nach der Ersten Nacht, als wir noch dachten, es gäbe eine Möglichkeit, zu gewinnen. Aber der Doc meinte, ich sei verrückt, so etwas auch nur vorzuschlagen. Ich habe noch ein paarmal versucht, ihn zu überreden, aber er blieb bei seiner Meinung, die Wissenschaft ende an der Zaunlinie.«

»Was soll denn das nun wieder heißen?«, fragte Nix.

»Es heißt, dass Doc Gurijala glaubt, was auch immer die Toten zu ihren Handlungen veranlasst, sei nicht mit wissenschaftlichen Mitteln zu klären. Es müsse eine andere Ursache geben.«

Nix zog eine Augenbraue hoch. »Und was? Magie?«

Tom zuckte die Achseln.

»Magie gibt es nur im Märchen«, entgegnete Chong. »Für das, was hier passiert, muss es eine Erklärung geben. Vielleicht kennt sich Doc Gurijala nicht genügend mit Naturwissenschaften aus, um zu begreifen, was geschieht. Ich meine … das muss ein besonderes Fachgebiet sein.«

»Zum Beispiel?«, bohrte Nix.

»Keine Ahnung. Physik. Molekularbiologie. Genetik. Wer weiß. Nur weil wir hier niemanden haben, der es versteht, heißt das noch lange nicht, dass wir sofort auf übernatürliche Kräfte schließen müssen.«

Tom nickte zustimmend.

»Was ist mit einer anderen Ursache?«, hakte Nix nach. »Was ist mit etwas Bösem? Was wäre, wenn Dämonen oder Geister oder so etwas das alles bewirken? Was, wenn es etwas … Biblisches ist?«

»Oh Mann«, stöhnte Chong. »Weil in der Hölle kein Platz mehr war, haben die Toten angefangen, auf der Erde rumzulaufen?«

Nix zuckte die Achseln. »Warum nicht?«

»Unmöglich.«

»Warum? Nur weil du an nichts glaubst?«

»Ich glaube an die Wissenschaft.«

Nix deutete auf die Zombies auf dem Feld. »Welche Erklärung hat die Wissenschaft dafür?«

»Ich weiß es nicht, Nix, aber ich glaube, dass es eine Antwort gibt.« Chong neigte den Kopf leicht zur Seite. »Willst du etwa sagen, dass du nicht an die Wissenschaft glaubst? Dass es eine religiöse Antwort geben muss? Seit wann bist du überhaupt religiös? Du gehst doch genauso selten in die Kirche wie ich.«

Benny warf Tom einen Blick zu, als wollte er sagen: Oje, nicht schon wieder.

Nix schüttelte den Kopf. »Ich will damit nicht sagen, dass die Kirche oder sonst wer die Ursache kennt, Chong. Ich sage nur, dass wir für alles offen sein sollten. Die Wissenschaft hat vielleicht nicht auf alles eine Antwort.«

»Ich bin für alles offen, vielen Dank auch … aber ich glaube nicht, dass es uns sonderlich weiterbringt, wenn wir außerhalb der Wissenschaft nach Antworten suchen.«

»Warum nicht?«

»Weil …«

»Genug!« Lilahs gespenstische Stimme unterbrach die Diskussion und ließ die beiden verstummen. »Blablabla … was erreicht man damit?«

»Lilah«, setzte Chong an, »wir haben doch nur …«

»Nein«, fauchte sie. »Nicht reden. Jetzt ist Zeit zu laufen. Ihr beide wollt Antworten? Sucht sie da draußen!« Damit drehte sie sich um und ging zum Tor, wo sie mit dem Rücken zu ihnen stehen blieb, den Speer locker in ihren starken Händen.

»Da muss ich ihr recht geben«, meinte Tom. »Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für diese Art von Diskussion. Auf geht’s.« Er schlug Benny auf die Schulter und ging dann zu Lilah hinüber. Auf dem Feld vor dem Tor waren so gut wie keine Zombies mehr zu sehen; die letzten torkelten stöhnend davon.

Benny grinste Nix und Chong schief an. »Ihr beiden braucht einen Schiedsrichter. Mannomann.«

Nix lächelte kühl und ging schnell weiter, während die beiden Jungs noch einen Augenblick zurückblieben. Dann fragte Chong: »Wie siehst du das Ganze?«

»Wie üblich«, entgegnete Benny. »Ich hab nicht die geringste Ahnung. Und im Moment ist das ein recht sicherer Standpunkt. Komm schon, du Genie, lass uns gehen.«

Der letzte Zombie torkelte ungefähr 50 Meter von der Zaunlinie entfernt, und Tom nickte dem Wachmann zu, der leise den Riegel hob. Die Scharniere waren immer gut geölt, damit sie keine Geräusche machten. Tom beugte sich vor und schaute hinaus in die Dämmerung.

Benny stand neben ihm und sah zu, wie sich die schattenhaften Figuren entfernten. Es war seltsam, aber irgendwie hatte er Mitleid mit den Monstern, und sei es auch nur, weil man sie so leicht austricksen konnte. Das Ganze erschien ihm, als würde man sich über jemanden mit einer Hirnschädigung oder einem Geburtsfehler lustig machen, obwohl es alles andere als lustig war.

Tom musterte ihn. »Was ist los, Kleiner?«

Benny deutete mit dem Kinn auf die Zombies, versuchte aber nicht, es zu erklären. Wenn irgendwer verstand, was er meinte, dann Tom.

Sein Bruder legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich weiß. Aber lass dich nicht aus Mitgefühl dazu verleiten, einen Fehler zu machen.«

»Nein, das werde ich nicht«, versicherte Benny, aber selbst in seinen eigenen Ohren klang seine Stimme nicht sehr überzeugend.

Tom drückte kurz Bennys Schulter und wandte sich dann den anderen zu: »Okay – vergesst nicht, was ich euch gesagt habe. Seid leise, bewegt euch schnell und bleibt erst dann stehen, wenn ihr die Bäume erreicht habt. Fertig? Dann los!«

Einer nach dem anderen schlüpften sie durch das Tor nach draußen und rannten so schnell sie konnten auf den Wall violetter Schatten zu, hinter dem die Morgensonne aufging.

Im Laufen drehte Benny sich noch einmal um. Die Wachen hatten den Zaun und die Stadt Mountainside dahinter wieder verriegelt. Alles, was er kannte, und fast jeder, den er bisher kennengelernt hatte, befand sich hinter diesem Zaun. Sein Zuhause, seine Schule, Morgie. All das war dort drüben. Es hatte keine tränenreiche Abschiedsszene gegeben. Falls Tom sich von Bürgermeister Kirsch, Captain Strunk oder einem der anderen verabschiedet hatte, so hatte Benny es nicht mitbekommen, und es war niemand am Zaun aufgetaucht, um ihnen Auf Wiedersehen zu sagen.

Und genau das war in Kurzform alles, was mit Moutainside nicht stimmte: Die Bewohner der Stadt taten so, als gäbe es jenseits der Wand aus Maschendraht keine andere Welt. Dementsprechend würden sie auch Tom, Nix und Benny als Menschen abschreiben, die sie einmal gekannt hatten. So wie sie es mit den Menschen getan hatten, die in der Ersten Nacht gestorben waren. Die Leute in Mountainside würden sie ganz bewusst vergessen, denn das war einfacher, als sich vorzustellen, was draußen im Leichenland vor sich ging.

In gewisser Hinsicht waren Benny und die anderen also für die Menschen in der Stadt gestorben. Würden diese Menschen irgendwann auch für ihn gestorben sein? Würde die Erinnerung an sie aus seinem Herzen gelöscht werden? Er hoffte, nicht. Er verlangsamte seine Schritte ein wenig und suchte den Zaun ab, wünschte Morgie herbei, der ihm zuwinkte. Es hätte alles wiedergutgemacht. Aber niemand erschien am Zaun und niemand winkte zum Abschied. Er schaute wieder nach vorn und zwang sich, schneller zu laufen.

Die fünf machten nicht das geringste Geräusch und nach wenigen Minuten konnten selbst die scharfäugigsten Mitglieder der Stadtwache sie nicht mehr erkennen. Der Wald hatte sie vollständig verschluckt.