Lou Chong wachte auf.
Er befand sich noch immer in der Hölle … war sich aber sofort sicher, dass er jetzt einen ihrer finsteren Kreise erreicht haben musste. Er war nur mit einer Jeans bekleidet und fror, denn man hatte ihm seine Weste, sein Hemd und seine Schuhe weggenommen. Der Boden, auf dem er lag, bestand aus festgetretenem, kaltem und feuchtem Lehm, der nach Verwesung roch. Chong setzte sich auf und schlang die Arme um den Oberkörper. Er besaß viele sehnige Muskeln, aber kein bisschen Körperfett, das ihn hier unten in dieser klammen Finsternis gewärmt hätte.
Langsam schaute er sich im Dämmerlicht um. Auch die Wände bestanden aus platt geklopftem Lehm. Chong hob den Kopf und sah, dass sie etwa sechs Meter über ihm aufragten und es weder eine Leiter noch Griffe oder ein Seil gab.
Er versuchte, sich aufzurappeln, schrie aber vor Schmerz sofort auf und fiel nach vorn auf die Knie. Sein Körper glich einem Flickenteppich, zusammengenäht aus allen Arten von Qualen. Am schlimmsten schmerzten die Stellen, wo man ihm einen Kinnhaken verpasst, den hölzernen Schaft eines Gewehrs in den Magen gerammt und ihn in den Unterleib getreten hatte, als er schon keuchend am Boden lag. Chong bemühte sich, nicht zu weinen.
Selbst während er zusammengekauert dort saß und gegen die Tränen und die Schmerzen ankämpfte, arbeitete sein Verstand weiter. Chong wusste, wo er sich befand. In einer Zombiegrube in Gameland.
Er war zwar noch nie an diesem Ort gewesen und hatte auch noch nie eine Zombiegrube gesehen, doch das brauchte er auch nicht, denn Tom hatte Benny, Morgie und ihm Gameland im Laufe der letzten Monate viele Male beschrieben. Bennys Bruder hatte das Szenario der Zombiegruben sogar in ihr Training eingebaut. Es handelte sich um eines seiner vielen Schreckensszenarios, über die sie als Krieger Bescheid wissen mussten.
»Also sei klug wie ein Krieger«, ermahnte Chong sich zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Was würde Tom tun? Was würde Lilah tun?«
Was auch immer auf sie zukommen mochte, die beiden würden es nicht widerstandslos über sich ergehen lassen, da war Chong sich ziemlich sicher. Er dachte daran, wie Nix das Vernähen ihrer Gesichtswunde ohne Schmerzmittel und ohne jeden Mucks ertragen hatte. Nix hatte alle Kraft aufbringen müssen, um das auszuhalten. Genau, wie sie, Benny und Lilah im letzten Jahr den Mut aufgebracht hatten, Charlies Lager anzugreifen, obwohl sie Tom zu dem Zeitpunkt bereits für tot hielten.
»Steh auf«, herrschte Chong sich selbst an.
Die Schmerzen waren unbeschreiblich und er fiel erneut auf die Knie. Ein Schluchzen entrang sich seiner Brust. Dann ein weiteres. Während er dort kniete, spielte ihm seine Fantasie übel mit. Sie beschwor Bilder von Lilah herauf, wie sie über ihm stand, ihn in seinem schluchzenden Elend beobachtete und lachte.
Sie lachte über das schwache, magere Kind, über den »Stadtjungen«, der dachte, er könne ein Krieger sein. Über den Narren, der zu glauben wagte, ausgerechnet er könne die Liebe des legendären Verlorenen Mädchens gewinnen. Über den Verlierer, der das Leben seiner Freunde in Gefahr gebracht hatte, und über den Feigling, der weggelaufen war. Die Bilder und ihre Bedeutung bohrten sich in sein Gehirn wie Nägel ins Fleisch.
Aber manchmal ist Scham ein stärkerer Antrieb als Wut. Genau wie Wut brennt sie heiß und kann vernichtend sein. Chong biss die Zähne zusammen, schluckte seine Schmerzen hinunter und akzeptierte sie als etwas, das er verdiente. Angetrieben von ihrer Energie setzte er seinen Fuß flach auf den Boden, drückte die Knöchel seiner beiden geballten Fäuste in die kalte Erde und stieß sich von den Knien hoch. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er auf die Füße kam. Als er sich aufrappelte, schien jede Wunde bis zum Zerreißen gedehnt zu werden, aber die Scham ließ nicht zu, dass er innehielt, ehe er kerzengerade stand und sich zu voller Größe aufgerichtet hatte.
»Klug wie ein Krieger«, knurrte er, aber in seiner Stimme schwang Verachtung mit.
»Wenn das kein rührender Anblick ist!«
Die Worte wirkten wie ein Eimer kaltes Wasser, der über seinen Kopf ausgegossen wurde. Chong zuckte zusammen und sah nach oben, wo er drei Männer sah, die vom Rand der Grube auf ihn hinabschauten. Darunter befand sich auch der große, einäugige Mann mit dem wallenden weißen Haar, der ihn hierhergebracht hatte und dessen Gesicht einer Ruine glich, die nach einem verheerenden Feuer übrig geblieben war. Die anderen beiden hatte Chong noch nie gesehen. Sie grinsten auf eine Art, die ihm sämtliche Kraft aus den Gliedern sog.
»Wer sind Sie?«, fragte Chong fordernd. Sein Ton hätte sich besser angehört, wenn ihm dabei nicht die Stimme versagt wäre.
»Wer sind Sie?«, äffte der große Mann ihn nach. Seine Stimme verursachte Chong eine Gänsehaut, denn sie klang fast wie die von Rotaugen-Charlie.
War es wirklich möglich, dass dort oben Charlie stand? Hatte der Kopfgeldjäger überlebt, nachdem Benny ihm das Rohr über den Schädel gezogen hatte, und war er in das brennende Lager zurückgekehrt? Oder hatten die Flammen Charlie eingeholt, als er davonzukriechen versuchte? War das wirklich Charlie Matthias? Oder ein anderes Monster, das nun diese ohnehin schon geplagte und sterbende Welt heimsuchte?
»Ich wette, du hast einen Haufen Fragen, kleiner Mann«, meinte der Verkohlte, als könne er Chongs Gedanken lesen. »Was hältst du hiervon?« Er warf etwas hinunter in die Grube, das zwischen Chongs Füßen landete: ein schwarzes Rohr, an einem Ende mit schwarzem Leder umwickelt und über die ganze Länge mit altem, getrockneten Blut bedeckt.
Vorsichtig bückte Chong sich und hob es auf.
»Das da hat einem Freund von mir gehört«, teilte ihm der Verkohlte mit. »Mit diesem Rohr hat er 1000 Zombies erledigt. Und noch mal halb so viele, die keine Zombies waren. Ja, das Stück Rohr hat eine Geschichte. Es hat meinen Kumpel im ganzen Leichenland berühmt gemacht.«
Über diese Bemerkung lachten die beiden anderen Männer und klatschten sich ab.
Chong legte die Hände um den Gegenstand, dem der Motor City Hammer seinen Spitznamen verdankt hatte.
»Mein Freund ist schon lange tot«, fuhr der Verkohlte fort, »aber er wäre erfreut, wenn er wüsste, dass seine Legende weiterlebt.«
»Ich habe ihn nicht getötet«, erklärte Chong und verfluchte sich dann selbst, weil es so feige und jämmerlich klang.
»Vielleicht nicht«, räumte der Mann ein, »andererseits vielleicht doch. Oder du bist mit denen befreundet, die dafür verantwortlich sind. Tiny Hank Wilson war einer der wenigen, die das Feuer letztes Jahr im Lager überlebt haben. Er meint, er hätte gesehen, was mit dem Hammer passiert ist. Behauptet, ein Mädchen habe ihn getötet. Diese weißhaarige Schlampe, die seit ein paar Jahren hier in den Bergen rumgeistert. Aber ich glaub nicht, dass ein kleines Mädchen dem Hammer was anhaben könnte. Nein, mein Junge, das glaub ich nicht. Aber ein strammes Kerlchen wie du, der sich von hinten anschleicht und ihn niederschlägt, wenn er gerade nicht aufpasst? Das kann ich schon eher glauben.«
Chong hätte am liebsten das Rohr nach ihm geworfen, hielt sich aber zurück. Das Rohr war alles, was er hatte.
»Also ich glaube, es würde dem Hammer höllisch gut gefallen, wenn er wüsste, dass sein Lieblingsspielzeug nicht in Vergessenheit gerät. Dass es noch immer seinen Zweck erfüllt und tötet.« Der große Mann ging in die Hocke. »Ihm ist es egal, ob du lebst oder stirbst, kleiner Mann – und mir auch. Wenn du überlebst, kannst du den Prügel behalten. Vielleicht bist du dann eines Tages der Hammer. Das wäre doch was, oder?«
Chong schüttelte den Kopf, schwieg aber.
»Andererseits, wenn du stirbst … nun ja, dann haben wir jede Menge anderer Kids, die dafür töten würden, so ein schönes Stück schwarzes Rohr in die Finger zu bekommen, wenn sie an der Reihe sind.«
Endlich gelang es Chong, drei Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorzupressen: »Fahr zur Hölle.«
Die drei Männer lachten, der große am lautesten. »Hölle? Junge, hast du nicht aufgepasst? Wir sind schon in der Hölle. Seit der Ersten Nacht ist die ganze Welt eine Hölle.« Er stand auf und nickte den anderen beiden zu.
Sie verschwanden, aber schon im nächsten Moment erschienen andere Gesichter rund um den Rand der Grube. Harte Gesichter mit harten Augen und Mündern, die kalt und brutal grinsten. Ein kleiner, rattengesichtiger Mann und ein Junge, der eindeutig sein Sohn war, schoben sich zur Grube vor und begannen, Zahlen zu rufen und Geld einzusammeln.
Sie nahmen Wetten entgegen, wie Chong mit wachsender Panik erkannte. Oh mein Gott … sie wetten auf mich.
Dann breitete sich erwartungsvolle Stille aus, und die Blicke der Zuschauer richteten sich gespannt in die Richtung, in die die beiden Kumpane des Verkohlten verschwunden waren. Als sie zurückkamen, trugen beide einen Teppichmantel und einen Footballhelm mit Plastikvisier. Zwischen ihnen befand sich eine blasse Gestalt, die knurrte und zappelte und in die Luft schnappte.
»Willkommen in Gameland«, sagte der Verkohlte.
Und dann stießen sie den Zombie in die Grube zu Chong.
