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Rotaugen-Charlie ragte in seiner ganzen Größe von fast zwei Metern vor Benny und Nix auf. Ein Auge war milchig rosa, das andere – einst so blau wie die Augen seines Vaters – nur noch schwarz und tot. Im Leben hatte er die cremeweiße Haut eines Albinos besessen, jetzt war sie grau-weiß, verfault und mit Schimmel übersät. Fliegen schwirrten um ihn herum und Maden wanden sich in den Fetzen seines toten Gewebes. Er knurrte und machte einen schwerfälligen Schritt vorwärts. Und Benny wurde klar, was er da draußen auf dem Feld bei der Raststätte gesehen hatte: nicht Charlie, der einen Angriff der Zombies anführte, sondern Charlie, der selbst ein Zombie und Teil eines Schwarms war, den Preacher Jack dorthin getrieben hatte. Und Preacher Jack hatte Charlie auch wieder weggeführt, bevor das Feuer ihn erfasste. Benny hatte geglaubt, Charlie lächeln zu sehen, aber in Wahrheit hatte es sich um das Zähnefletschen eines hungrigen Zombies gehandelt.

Das Ganze war grotesk. Schlimm genug, dass Charlie nicht Hunderte von Metern in die Tiefe gestürzt und am Fuß des Berges zerschmettert worden war. Ganz zu schweigen davon, dass er sich in eines der Monster verwandelt hatte, die er und der Motor City Hammer gejagt hatten. Das Allerschlimmste war, dass sein eigener Vater und sein eigener Bruder ihn nicht befriedet, sondern als Zombie wie einen Gladiator bewaffnet hatten und hier unten in der Finsternis als Hausmonster hielten. Er war der Todesengel ihres neuen und korrupten Eden. Obwohl Benny nur wenig von den Mysterien der verschiedenen Religionen verstand, wusste er doch sehr genau, dass dies eine Sünde darstellte, die auf keinerlei Vergebung hoffen konnte. Dies hier war Gotteslästerung.

»Nix«, flüsterte Benny, »lauf!«

Aber Nix bewegte sich nicht. Sie konnte nicht. Sie stand wie angewurzelt da und starrte entsetzt auf die albtraumhafte Monsterversion des Mannes, der ihre Mutter getötet hatte.

»Charlie«, murmelte sie wieder.

Als Benny ihr einen Blick zuwarf, wurde ihm das Herz schwer, denn er sah, dass der Wahnsinn, der in ihren Augen geflackert hatte, inzwischen vollständig von ihr Besitz ergriffen hatte. Der Anblick des Riesen vor ihr war genau das, wovor Nix sich immer gefürchtet hatte – Charlie, das Monster, das ihre Mutter umgebracht hatte. Charlie, ob nun lebendig oder untot, existierte noch immer, verfolgte sie noch immer. Irgendwie war Nix zu der Überzeugung gelangt, dass genau das passieren würde – dass genau diese Situation eintreten würde.

Als Benny Charlie auf dem Bergkamm mit dem Rohr getroffen und ihn in die Dunkelheit hinabgestoßen hatte, war Nix nicht daran beteiligt gewesen. Charlie hatte sie und Lilah überwältigt, und eine Mischung aus schierem Glück und der Wut des Kriegers hatte Bennys Hand geführt, als er das Eisenrohr des Motor City Hammers schwang. Charlie war in die Tiefe gestürzt, aber sie hatten seine Leiche nicht gefunden. Er war nie befriedet worden. Für Nix gab es keinen Abschluss. In gewisser Hinsicht war Charlie entkommen, und das hatte etwas in Nix zerbrechen lassen – nicht nur in ihrem Kopf, sondern vermutlich auch in ihrer Seele. Blitzartig begriff Benny, dass Nix nicht nur deshalb aus Mountainside hatte fortgehen wollen, um ein neues Leben zu beginnen, sondern auch, um eine möglichen Begegnung mit Charlie zu vermeiden.

Rotaugen-Charlie machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Benny knurrte und schob Nix hinter sich.

»Mein Gott …«, brachte Nix mit dünner, zittriger Stimme hervor.

Wutentbrannt stieß Benny einen Schrei aus, schwang sein Beil und versuchte, einen tödlichen Treffer in Charlies Augenhöhle zu platzieren. Stattdessen landete die Glasklinge jedoch in Charlies Wange und bohrte sich in seine Nebenhöhle. Die Zombies in der Sackgasse stöhnten hungrig und torkelten vorwärts, doch Charlies massiger Körper versperrte ihnen den Weg. Mit einem animalischen Knurren holte Charlie aus und schmetterte Benny zur Seite und gegen die Wand. Die Glasklinge des Beils brach ab und der Griff glitt Benny aus der Hand. Der Schlag kam so schnell und so heftig, dass Benny sich einen verrückten Augenblick lang fragte, ob Charlie vielleicht doch noch am Leben war. Aber das konnte nicht sein. Nein … nein, dieses Ding da war tot. Trotzdem war es schnell. Zu schnell. Und unglaublich stark!

Kaum war Benny auf den Boden gerutscht, bückte Charlie sich auch schon, packte ihn an der Weste und zog ihn hoch. Seine messerscharfen Zähne blitzten im Licht der Fackeln wie Dolche. Als Charlie ihn näher zu sich heranzog, konnte Benny die funkelnden Spitzen der Nägel sehen, die den Körper des Monsters bedeckten und an ein Stachelschwein erinnerten. Benny zog das Knie an und manövrierte die flache Sohle seines Schuhs in den Unterleib des Zombies – die einzige Stelle, die nicht von der Nagelweste bedeckt war. Er verpasste ihm einen Tritt und versuchte, sich mit Schlägen, die auf den Kiefer oder den Hals des Monsters zielten, aus der Umklammerung zu befreien. Er probierte jeden Kampftrick und jede Körpertäuschung, die Tom ihm beigebracht hatte. Die Nagelspitzen ritzten seine Haut auf, und schon bald blutete Benny aus Dutzenden kleiner Wunden. Sie waren zwar harmlos, aber der Geruch frischen Blutes schien Charlie und die anderen Zombies regelrecht wild zu machen. Sie knurrten, stöhnten und bissen in die Luft.

Charlies großer Kopf schnellte vorwärts und seine abgefeilten Zähne bissen mit verheerender Kraft zu … aber nicht in Bennys Haut.

Plötzlich war Nix da, zwängte sich zwischen Benny und das Monster, und rammte ihm von unten ihr Beil in den Mund.

Die scharfen Zähne gruben sich in die Waffe und zermalmten Glas und Holz. Nagelspitzen pressten sich in Nix’ Weste. Der Stoff war zwar fest und robust, aber nicht geschaffen für die Art von Schutz, die hier nötig gewesen wäre. Nicht einmal ein Teppichmantel hätte Nix etwas genutzt, wenn sie sich nicht schnell zurückzog.

Charlie schleuderte Benny fort und griff nach Nix. Erneut ging Benny krachend zu Boden. In seiner Schulter explodierte ein Schmerz, der ihm bis in die Fingerspitzen fuhr. Die anderen Zombies streckten die Hände nach Nix aus. Wachsweiße Hände schoben sich zwischen Charlies Ellbogenbeuge hindurch, griffen über seine Schultern und an seinen Seiten vorbei und packten Nix’ Weste und ihre Haare. Bei dem Versuch, Nix zu sich zu zerren, zogen die Zombies sie auch fester gegen die Nagelweste.

Benny hievte sich auf die Knie, sah sein zerbrochenes Beil, griff danach und stand mit dem zersplitterten Holz in der rechten Hand auf. Nix’ Beil steckte noch immer in Charlies Mund, und er versuchte tatsächlich, es durchzubeißen, um an sie heranzukommen. Rasch stürmte Benny zu Nix, schlang seinen verletzten linken Arm um ihre Taille und schlug gleichzeitig mit dem Griff des Beils die weißen Hände weg. Er zertrümmerte Finger und Handgelenke, und einige der Hände brachen einfach ab, nutzlos für ihre Besitzer. Eines der Monster hatte ein dickes Büschel von Nix’ Haaren gepackt, aber Benny gelang es nicht, das Handgelenk abzuschlagen. Also blieb ihm nur eine einzige Möglichkeit: Er durchtrennte ihre Haare mit den restlichen Glasscherben, die noch in dem Beil steckten. Ihr Kopf kam frei, doch Charlie hielt Nix noch immer umklammert.

Dann rammte Benny Charlie das scharfe Ende des Beilgriffs unters Kinn. Er jagte den Griff mit solcher Wucht nach oben, dass das Holz in den Mund des Zombies eindrang und seine Kiefer sperrte. Zumindest für den Augenblick. Sofort riss Nix die Knie hoch, zielte mit den Füßen auf den Bereich direkt unterhalb der Nagelweste und trat dann mit aller Kraft zu, während Benny so fest zog, wie er nur konnte. Mit einem Ruck kamen sie aus Charlies Umklammerung frei und fielen nach hinten; Benny landete als Erster auf dem Boden, und als Nix auf ihn krachte, presste sie fast sämtliche Luft aus seinen Lungen.

Charlie ignorierte sie einen Moment und zerrte an dem hölzernen Pflock zwischen seinen Kiefern. Die anderen Zombies drängten vorwärts, um an ihm vorbeizukommen.

»Staub!«, krächzte Benny, und Nix holte rasch ein Säckchen mit Gipsstaub aus ihrer Weste. Als sie es gegen die Zombies schleuderte, platzte das Säckchen und hüllte die Untoten in eine dichte weiße Staubwolke.

Benny war sich nicht sicher, ob das Pulver die Zombies länger als für einen kurzen Moment ablenken würde. Eigentlich hatten er und Nix vorgehabt, den Staub gegen Digger und Heap einzusetzen, doch jetzt öffnete er ihnen ein winziges Zeitfenster. Nix packte Benny bei den Handgelenken, zog ihn auf die Füße und schlug dann gegen seine Schultern, um ihn umzudrehen. Die Hände auf seinem Rücken, schob sie ihn vorwärts, weg von den Zombies.

»Nix – alles in Ordnung?«

Sie starrte ihn mit wilden Augen an. »Ich muss ihn töten«, wisperte sie entschlossen.

»Ich weiß«, antwortete er, obwohl sie beide wussten, dass es so gut wie unmöglich war, und der Versuch an Selbstmord grenzte. »Komm, wir müssen weiter.«

Während dieses kurzen, erbitterten Kampfes hatten sie die Rufe und das Gelächter am Grubenrand nur schwach wahrgenommen. Jetzt waren laute Buhrufe zu hören. Die Tatsache, dass sie Charlie bezwungen hatten, wenn auch nur für kurze Zeit, hatte die Menge offenbar gegen sie aufgebracht. Oder vielleicht hatten die Leute auch zu viel Angst vor Preacher Jack und White Bear, um eine andere Reaktion zu zeigen.

White Bear beugte sich zu einer der Grubenöffnungen herunter und grinste wie ein Dämon. »Ihr könnt so schnell rennen, wie ihr wollt. Es gibt keinen Ausweg.«

Nix drehte sich auf dem Absatz um und schleuderte eines der Säckchen in seine Richtung. White Bear hob abwehrend die Hände, trotzdem platzte das Säckchen auf und hüllte ihn in Staub. Hustend, keuchend und fluchend wich er zurück. Kurz brandete überraschtes Lachen auf, das jedoch sofort wieder erstarb, als White Bear mit einem tödlichen Blick zu Benny und Nix herumwirbelte.

Sie rannten von der Grubenöffnung fort und verschwanden im Schatten. Vor sich hörten sie Zombies und erkannten, dass sie wieder auf die Hauptgrube zuliefen. Schnell änderten sie die Richtung, verfolgt von Rotaugen-Charlie, dessen Kiefer jetzt nicht mehr durch ein Stück Holz zusammengehalten wurden.

Ihnen blieb jetzt nur noch der dunkle Seitentunnel.

»Kein Licht«, schnaufte Benny.

Nix biss sich auf die Lippe und warf einen Blick in beide Richtungen des Gangs. Ihre Weste war mit Blutstropfen übersät, wo sich Charlies Nagelspitzen durch ihre Kleidung und in ihre Haut gebohrt hatten. Dann presste sie mit schmerzverzerrtem Mund hervor: »Keine andere Wahl.«

Als sie in die Dunkelheit liefen, verstummte die Menge über ihnen plötzlich.

»Mein Gott!«, keuchte Nix. »Was kommt jetzt?«