Tom taumelte rückwärts in die Büsche, umklammert von beiden Männern. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt, dem Schlag auszuweichen, aber noch im Sturz gelang es ihm, Hüften und Schultern so zu drehen, dass er bei der Landung nicht zuunterst enden würde. Die beiden Männer trafen hart auf dem Boden auf, während Tom auf die beiden fiel: Stosh landete auf seiner linken Seite und Rotschopf bekam die ganze Wucht seines eigenen Gewichts und fast die gesamte Masse der anderen ab. Er krachte mit dem Rücken auf einen Stein von der Größe eines Fußballs und stieß vor Schmerz einen solch lauten Schrei aus, dass die Vögel aus den Bäumen aufstoben und das knackende Geräusch seiner brechenden Wirbelsäule beinahe übertönt worden wäre. Seine Arme fielen schlapp von Toms Körper herab, und er lag keuchend und sterbend unter dem Gewicht des Mannes, den er zu töten versucht hatte.
Tom ignorierte seine Schreie. Ohne einen Augenblick innezuhalten, drehte er sich blitzschnell zur Seite und schlug Stosh mit der geballten Faust aufs Ohr. Hektisch gab Stosh Toms Beine frei und versuchte, die Schläge abzublocken, aber Tom wirbelte herum und trat Stosh so fest gegen die Brust, dass er ihn fünf Meter den Hang hinunterkatapultierte. Sofort hechtete er hinterher, machte einen Handstandüberschlag und traf Stosh mit beiden Füßen im Gesicht. Der Kopf des Mannes kippte mit einem scharfen, schmatzenden Knacken zur Seite. Dann brach er reglos zusammen und fiel der Länge nach hin.
Tom entspannte sich. Menschen mit gebrochenem Genick mutierten nicht in Zombies. Wieder einer erledigt.
Oben schrie der Rotschopf noch immer. Mit einem wütenden, angewiderten Knurren kletterte Tom den Abhang hinauf. Als der verkrüppelte Mann ihn kommen sah, verwandelten sich seine Schreie in ein Wimmern. Er versuchte, wegzukriechen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, und er konnte nur noch schwach mit den Armen wedeln.
Tom hockte sich neben ihn und inspizierte die Verletzung. Dann legte er einen Finger an die Lippen. »Schhh.« Sofort verstummte der Mann und starrte ihn mit großen, entsetzten Augen an. »Dein Rückgrat ist gebrochen«, erklärte Tom.
Der Rotschopf begann zu weinen.
»Hör mir zu. Du bist erledigt und das weißt du auch. Ich kann dich hier liegen lassen, und du verbringst deine letzten Stunden damit, pausenlos zu schreien. Hier in den Wäldern laufen eine Menge Zombies herum. Mit gebrochener Wirbelsäule spürst du vielleicht nicht mal, wenn sie Stücke aus dir herausreißen. Und danach … na ja, du wirst wiedererwachen und dann bis zum Ende aller Tage hier liegen. Verkrüppelt, untot und nutzlos.«
Der Rotschopf brabbelte unverständliches Zeug.
Tom beugte sich zu ihm hinunter. »Oder … du kannst in Würde abtreten. Wir sprechen uns aus und ich erleichtere dir die Sache. Du wirst nichts spüren und auch nicht zurückkehren. Es liegt ganz bei dir.«
Als dem Rotschopf seine Situation bewusst wurde, hörte er auf zu wimmern. Er schaute Tom aus Augen an, in denen plötzlich eine schreckliche Erkenntnis über die wahre Natur seiner Lage stand. Tom konnte ihm ansehen, dass der Mann allmählich begriff.
»Okay …«, flüsterte Rotschopf und zog vor Schmerz zischend die Luft ein.
Tom nickte. Er empfand keine Schadenfreude, denn so etwas wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Bedächtig holte er seine Wasserflasche hervor und führte sie dem Mann an den Mund. »Wer hat den Jungen mitgenommen, nachdem Stoshs Kumpel ins Gras gebissen hatten?«
»W - White Bear. Die beiden gehörten zu Charlies Leuten. White Bear knöpft sich alle aus Charlies Truppe vor … wegen dem, was mit Charlie passiert ist.«
»Wieso? Was kümmert es White Bear, was mit Charlie passiert ist?«
Rotschopf lächelte fast. »Machst du Witze?«
»Seh ich so aus? Was hat Charlie mit White Bear zu tun?«
»Meine Güte … man kann es doch deutlich sehen.«
»Ich bin White Bear nie begegnet.«
»Doch, bist du. Er war dabei, als du Gameland abgefackelt hast.«
»Was? Da war keiner, der so hieß.«
»Er … nannte sich damals noch nicht White Bear. Das hat er sich erst ausgedacht, nachdem er verletzt wurde.«
»Du redest wirres Zeug«, sagte Tom, »und ich verliere langsam die Geduld mit dir.«
Sofort schaute Rotschopf ihn ängstlich an. »Bitte … lass mich hier nicht so liegen!«
»Ganz ruhig«, besänftigte Tom ihn. »Erzähl mir einfach von White Bear und Charlie.«
»Es dreht sich alles um Gameland«, setzte der Mann an, dessen Stimme zunehmend schwächer wurde. Sein Kreislauf versagte allmählich und er hatte nicht mehr lange zu leben. »Als du Gameland abgefackelt hast, hat Charlie eine Menge Leute, eine Menge Freunde verloren. Das weißt du. Aber du weißt nicht, dass jemand, der ihm sehr nahestand, in diesem Feuer fast verbrannt wäre. Er war unter dem Namen Big Jim bekannt.«
Tom schnaubte verblüfft. »Big Jim Matthias? Charlies Bruder? Er war an diesem Tag in Gameland?«
»Ja, und er wurde ziemlich übel zugerichtet. Das ganze Gesicht verbrannt und ein Auge verloren. Wäre fast gestorben. Charlie schickte ihn in den Yosemite-Park, zu einem Haus, das er dort hat. Big Jim war todkrank. Die Leute sagen, er sei sogar eine Zeit lang tot gewesen, aber nicht als Zombie zurückgekehrt. Es heißt, während er tot war, hätte er eine Vision von einem alten indianischen Medizinmann gehabt, und als er zurückkam, war er nicht mehr Jim Matthias. Er war …«
»White Bear«, beendete Tom den Satz und schüttelte den Kopf. »White Bear ist Charlie Matthias’ Bruder. Verflucht! Deshalb ist er hinter mir her.«
»Hinter dir … und deinem Bruder und seinen Freunden. Er ist so besessen davon, dich in die Finger zu kriegen, dass er noch irrer geworden ist als zuvor. Als er hörte, dass du Mountainside vielleicht für immer verlässt, hat er all seine Männer ins Leichenland geschickt. 100 Augenpaare suchen dich, Mann. Du kommst nicht aus den Bergen raus.«
Dazu sagte Tom nichts. Stattdessen fragte er: »Warum bringt er Charlies Männer um?«
»Nicht alle. Nur die, die seiner Meinung nach bei Charlie hätten sein sollen, als du letztes Jahr sein Lager überfallen hast. Er gibt ihnen die Schuld und sagt, sie hätten ihr Leben opfern müssen, um Charlie zu beschützen.«
»Das ist verrückt.«
»White Bear ist verrückt, Mann. Er tut immer so cool … aber er ist völlig durchgeknallt. Im Vergleich zu ihm war Charlie ein harmloser Spießer.«
»Toll. Na gut, jetzt verrat mir nur noch eines: Wo liegt Gameland?«
»Wenn ich es dir sage … tust du dann, was du versprochen hast? Machst du es für mich leichter? Sorgst du dafür, dass ich nicht wiederkehre?«
»Ich verspreche es.«
»Schwör es, Mann. Ich … ich war früher katholisch. Schwöre beim Jesuskind.«
Tom seufzte, hob die Hand zum Himmel und schwor.
Daraufhin verriet der Mann Tom, wo Gameland lag. Tom fluchte lauthals.
Der Mann versuchte, zu lächeln, wurde aber zusehends schwächer. »Weißt du, Mann … ich wünschte fast, ich könnte zusehen, wie du White Bear und Gameland erledigst.«
»Ja, und ich wette, du würdest genauso gern sehen, wie man mich an die Zombies verfüttert.«
Rotschopf schaute ihn befremdet an. »Nein … du … brauchst mir nicht zu glauben, aber irgendwie würde ich gern sehen, wie du diesen durchgeknallten Mistkerl fertigmachst. Ihn und seine ganze verdammte Familie.«
Dann erfasste ihn ein schrecklicher Hustenanfall, und er röchelte, bis Blut über seine Lippen quoll und sein Gesicht die Farbe von saurer Milch annahm. Er riss die Augen weit auf, und aus seinem Mund drang ein leises »Oh«, ehe er erschlaffte. Seine Augen starrten reglos hinauf in das endlose Blau. Der Wald lag still da, nur das Surren der Insekten wehte durch die Luft.
Toms Miene war so reglos wie die des toten Mannes, aber sein Herz hämmerte vor Angst. »Gameland«, flüsterte er. »Oh mein Gott …«
Dann warf er einen Blick auf den Toten und zog seinen Befriedungsdolch. Bis zur Wiederkehr eines Toten konnten bis zu fünf Minuten verstreichen, allerdings nicht bei so schweren Verletzungen – in solchen Fällen ging es schneller. Rotschopfs Gesicht war eingefallen, seine Augen halb geschlossen, doch noch gab es nicht das geringste Anzeichen für all die Zuckungen und Verrenkungen, die das Wiedererwachen ankündigten. Tom zählte 60 Sekunden ab. Dann eine weitere Minute. Aber der Mann blieb ruhig und reglos. Und tot. Das Pochen in Toms Kopf wurde lauter.
Aber er war auch neugierig. Nachdem er den Mann bei dem Laster gefunden hatte, musste er unbedingt in Erfahrung bringen, ob es sich nur um einen Zufall gehandelt hatte oder ob ein Muster dahinter steckte. Es war ungeheuer wichtig, so viel wie möglich über die lebenden Toten zu lernen.
Aber Gameland wartete, und er wusste, dass er aufbrechen musste. Sofort.
Wieder zählte Tom 60 Sekunden ab. Und noch einmal.
Los! Los! Los!, schrie seine innere Stimme.
»Verdammt!«, knurrte er wütend und rollte den Mann auf den Bauch. Dann stieß er ihm die Klinge in den Nacken, um den Hirnstamm zu durchtrennen. Nachdem er den Dolch abgewischt hatte, stand er auf und dachte: Er wäre zurückgekommen. Aus irgendeinem Grund hat es nur länger gedauert als sonst. Doch bei diesem Gedanken war er sich selbst nicht sicher. Mit dieser quälenden Ungewissheit wandte er sich in Richtung Gameland. Er brauchte keine Spuren mehr zu verfolgen, denn er befand sich nicht länger auf der Jagd. Es war eine Falle und er lief direkt hinein. Aber ihm blieb keine andere Wahl.
Er lief los.
