8

»Benny – steh auf!«

Die Stimme schien meilenweit entfernt.

»Benny!«

Sein umnebeltes Hirn ordnete der Stimme einen Namen zu: Nix. Und … sie schrie ihn an. Aber warum? Er wollte sie fragen, aber aus seinem Mund kam nur leises, unzusammenhängendes Gebrabbel.

Dann zog Nix ihn hoch und schüttelte ihn.

Mühsam öffnete er ein Auge. Es schien, als müsse er einen Zentner Ziegelsteine hochstemmen.

»Guten Morgen, Nix«, sagte er mit vollkommen normaler und vernünftiger Stimme. »Möchtest du eine Scheibe Toast?«

Nix verpasste ihm eine Ohrfeige – und zwar eine kräftige.

»Hey … AU!« Die Ohrfeige brachte Ordnung in sein verwirrtes Hirn und ihm wurde bewusst, dass sich Nix über ihn gebeugt hatte und ihm direkt ins Gesicht schrie.

»ZOMBIES!«

Das genügte. Schlagartig war sein Gehirn wieder voll funktionstüchtig. Als Nix ihm aufhalf, nahm er aus dem Augenwinkel links von sich eine Bewegung wahr. Er drehte sich um und sah, dass Big Zak langsam auf die Füße kam; Blut tropfte von seinen gummiartigen Lippen und aus seiner zerfetzten Kehle. Der Zombie wandte sein schlaffes Gesicht Benny zu und stöhnte wie eine verlorene Seele.

Eine weitere Bewegung veranlasste Benny, sich nach rechts zu drehen, und er entdeckte, dass Danny Houser und seine Mutter über den Rasen auf die Veranda zutorkelten. Beide von Bisswunden entstellt. Beide tot. Zoms. Hinter ihnen drangen Rufe, Schreie und Schüsse aus dem Haus der Housers.

»Fang!« Nix hob Bennys Schwert auf und warf es ihm zu.

Gerade noch rechtzeitig, als Big Zak bereits einen schwerfälligen Schritt auf ihn zu machte, fing Benny das Schwert aus der Luft auf. Nix sprang von der Veranda herunter und rannte mit erhobenem Bokutō auf Danny zu, um ihm den Weg abzuschneiden.

Inzwischen war Big Zak zu nah für einen mit Schwung ausgeholten Schlag, also änderte Benny die Richtung und verpasste ihm einen Hieb mit dem schweren Griff des Holzschwerts. Er traf den Zombie so fest an der Kinnspitze, dass er den Rückstoß wie eine Schockwelle im Handgelenk spürte. Big Zak taumelte nach hinten.

Hastig schaute Benny zu Nix hinüber, als diese gerade ausholte, um Mrs Houser einen Hieb zu verpassen, aber im gleichen Augenblick stapfte Danny vorwärts und packte Nix an ihren roten Haaren. Reflexartig machte Benny einen Schritt auf Nix zu, aber Big Zak bekam ihn an seinem Sweatshirt zu fassen. Der Zombie zog ihn in die Höhe, zuerst auf die Zehen und dann vollständig vom Boden hoch. Selbst als Untoter war Big Zak Matthias noch ein kräftiger Mann. Benny baumelte an seinen Fäusten und schaute ihm einen kurzen Moment direkt in die starren Augen.

Unter den Kindern im Ort ging die Geschichte um, man könne in den Augen eines Zombies sein eigenes Spiegelbild als Untoter sehen. Seit den albtraumhaften Ereignissen im letzten September glaubte Benny das zwar nicht mehr, als er jetzt aber in Big Zaks leere Augen starrte, wusste er genau, wie er als Zombie aussehen würde. Klein, verblichen und verloren, sämtliche Spuren seiner Menschlichkeit und Persönlichkeit ausgeblasen wie ein Streichholz.

»Nein!«, schrie er, und als der Zombie mit den Zähnen nach ihm schnappte, rammte er ihm den Schaft seines Holzschwerts in den weit aufgesperrten Mund.

Big Zak biss so fest zu, dass Holzsplitter in alle Richtungen flogen und die Spitzen seiner Schneidezähne abbrachen. Das Schwert fiel krachend auf die Dielen der Veranda. Als Big Zak sich ihm zuwandte, drehte Benny die Hüfte und trat dem Zombie mit beiden Füßen gegen die Knie. Durch die Wucht des Tritts torkelte Big Zak nach hinten, trat auf den gestürzten Zak junior und ging dröhnend zu Boden. Benny rappelte sich auf, schnappte sich das Schwert, holte aus und ließ es mit aller Kraft nach unten sausen.

KNACK!

Das hölzerne Schwert zerbrach genau an der Stelle, wo noch Teile von Big Zaks Schneidezähnen steckten, doch der Schlag zertrümmerte dem Zombie den Schädel. Er prallte mit dem Gesicht auf die Dielen, wand sich stöhnend und griff in die Luft. Benny starrte auf den halben Meter zersplittertes Hickoryholz in seiner Hand, drehte den Schwertstumpf um, hob ihn mit beiden Händen über den Kopf und rammte ihn Big Zak in den Nacken. An der Stelle, wo die Wirbelsäule in den Schädel eintritt, befindet sich eine kleine Öffnung. Tom nannte diesen Bereich, in dem der Hirnstamm am empfindlichsten ist, den »Optimalpunkt«. Durchtrennte man den Hirnstamm, war der Zombie für immer tot. Befriedet.

Benny legte seine ganze Kraft und Entschlossenheit in den Hieb. Und verfehlte die Stelle. Die Spitze der zerklüfteten Klinge traf auf den harten Knochen des Hinterkopfs, rutschte ab und zerbrach schließlich auf den Dielen, direkt hinter dem Ohr des Zombies. »Verdammt!«, fluchte Benny. Big Zaks zuckende Finger tasteten nach seinen Fußgelenken, aber er schien keine Kraft mehr zu besitzen. Als Benny sich hastig aus seiner Reichweite entfernte, stöhnte der Zombie leise.

Sofort wirbelte Benny herum und suchte nach Nix. Als er von der Veranda sprang, sah er, wie Danny Houser zu Boden fiel und sein Kopf auf einem angeknacksten, aber nicht gebrochenen Hals hin und her kippte. Nix wich vor ihm zurück und ihre Brust hob und senkte sich schnell vor Panik und Anstrengung.

»Pass auf!«, rief Benny ihr zu, als Mrs Houser aus Nix’ totem Winkel auf das Mädchen zustürmte. Kaum hatte Nix sich umgedreht, stürzte Benny sich auch schon auf die Untote, packte sie und ging zusammen mit ihr zu Boden. Doch Mrs Houser zappelte und fauchte wie eine Katze und schlug ihm die Zähne in die Schulter. Benny schaffte es gerade noch, zurückzuweichen, als ihre Kiefer aufeinandertrafen und sie nur ein Stück aus seinem durchnässten Sweatshirt herausriss.

Plötzlich hörte er das gedämpfte Geräusch eines dumpfen Schlags und der Körper des Zombies erzitterte. Dann ertönte ein weiteres Hiebgeräusch und noch eines, und er begriff, dass Nix mit ihrem Schwert auf das Monster einschlug, um es abzulenken oder es von ihm zu lösen.

»Nix!«, brüllte eine Stimme. »Zur Seite!«

Die dumpfen Schläge brachen ab und eine Sekunde später wurde Benny vom Körper des Zombies befreit. Als er nach oben schaute, sah er Tom. Er hatte Mrs Houser einen Arm von hinten um den Hals geschlungen, und obwohl sie kämpfte und wild um sich schlug, war sie gegen Toms starken Griff machtlos.

Ein Dutzend Leute stürmte zwischen den Häusern hindurch auf den Hof, darunter auch Chong und Morgie. Als sie Benny blutverschmiert auf dem Rasen liegen sahen, hielten sie abrupt inne. Nix stand ein wenig abseits, das Holzschwert mit beiden Händen umklammert. Sie war verängstigt und außer Atem, schien aber unverletzt. Eine Sekunde lang richteten sich alle Blicke auf sie, um sich dann wieder auf Benny zu heften.

Benny wollte sich gerade aufrappeln, als Lilah plötzlich mit einem blitzenden Dolch in der Hand auftauchte. Noch bevor er etwas sagen konnte, beugte sie sich über ihn und drückte ihm die Klinge unters Kinn. Er erstarrte.

»Lilah!«, knurrte Tom.

»Sieh dir mal seine Schulter an! Er ist gebissen worden!«, erwiderte sie wütend.

»Nein …«, krächzte Benny.

»Nein!«, schrie Nix.

Tom übergab Mrs Houser an Captain Strunk und zwei andere Männer von der Stadtwache. Sie fesselten und knebelten sie routiniert, auch wenn ihre Gesichter vor Angst und Abscheu verzerrt waren. Dann trat Tom neben Lilah und berührte ihre Hand mit dem Dolch. »Nein«, sagte er sanfter als zuvor und schaute von ihr zu Benny und wieder zurück. »Wenn er gebissen wurde, kümmere ich mich darum. Das ist eine Familienangelegenheit.«

»Ich bin nicht gebissen worden«, beharrte Benny, aber offenbar hörte ihm niemand zu.

Lilahs Augen besaßen normalerweise die Farbe von Honig, doch in diesem Augenblick erschienen sie Benny kalt wie Eis. In ihrem Gesicht war keine Spur von Mitgefühl oder Menschlichkeit zu erkennen. Er sah in ihr nur die Jägerin und Einzelgängerin – das legendäre Verlorene Mädchen, das im Leichenland sowohl Menschen als auch Zombies getötet hatte. Ihre Klinge fühlte sich wie ein glühendes Brandeisen auf seiner Haut an.

Dann war der Dolch weg und Lilah trat einen Schritt zurück.

»Sieh genau nach«, befahl sie Tom. »Sonst mach ich das.«

Erschöpft ließ Benny sich ins Gras sinken. Die letzten Sekunden hatten ihn mehr Kraft gekostet als der Kampf mit den Zombies.

Mit wütendem, finsterem Blick schob Nix sich an Lilah vorbei und stellte sich zwischen sie und Benny. Morgie kam näher, bis er Schulter an Schulter mit Nix stand, und nach kurzem Zögern folgte Chong seinem Beispiel, sodass die drei mit ihren Körpern einen Wall bildeten. Lilah musterte sie abschätzig, als überlegte sie, wie viel oder wie wenig Mühe es sie wohl kostete, um an ihnen vorbei zu Benny zu gelangen.

Dieser rappelte sich langsam auf. »Ich bin nicht gebissen worden!«, brüllte er, zog sich zum Beweis das Sweatshirt über den Kopf und warf es Lilah vor die Füße. Wut stieg in ihm auf und verdrängte die Angst. »Hier, sieh genau hin!«

»Ich seh’s«, erwiderte sie. Dann ließ sie den Dolch sinken und wandte sich ab. Sämtliche Blicke folgten ihr, als sie auf die Veranda stieg und ihre Klinge ohne zu zögern in Big Zaks Genick rammte. Im Gegensatz zu Benny verfehlte sie den Optimalpunkt um keinen Millimeter.

»Heilige Scheiße«, stieß Morgie hervor.

»Mhm«, murmelte Chong bestätigend. Er war blass und zitterte.

Tom bückte sich, hob Bennys Sweatshirt auf, inspizierte das durch den Biss entstandene Loch in der Schulterpartie und reichte es ihm. »Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«

Benny schaute hinüber zur Veranda, wo Big Zak ausgestreckt nur wenige Schritte neben seinem Sohn lag – dem Wesen, das einst ein Junge im gleichen Alter wie Benny gewesen war. Ein Freund und dann ein Opfer.

»Ich hab doch gesagt, ich bin nicht gebissen worden«, wiederholte Benny noch einmal und schüttelte langsam den Kopf, als er sich abwandte. »Aber ich bin alles andere als in Ordnung.«

Aus Nix’ Tagebuch

Vor der Ersten Nacht schätzte das Statistische Bundesamt der Vereinigten Staaten die Weltbevölkerung auf 6 922 000 000 Menschen.

Tom meinte, in den Nachrichten sei gemeldet worden, dass in den ersten beiden Tagen nach der Ersten Nacht über 2 000 000 000 Menschen starben.

Als das Internet zusammenbrach, wurde die Zahl der Toten weltweit auf 4 000 000 000 geschätzt.

Die Leute in der Stadt nehmen an, dass seit der Ersten Nacht mindestens 6 000 000 000 Menschen gestorben sind. Die meisten glauben, der gesamte Rest der Menschheit sei tot.

Wir wissen, dass laut Ergebnis der Volkszählung am letzten Neujahrstag insgesamt 28 261 Menschen in den neun Städten hier in Zentralkalifornien leben.