22

»Na los … sag es schon«, forderte Nix.

Tom hockte vor ihr und berührte sanft die Ränder der langen Schnittwunde in ihrem Gesicht. Er hatte die Lippen zusammengepresst und stieß ein leises, pessimistisches Grunzen hervor. »Das muss genäht werden.«

»Ich weiß. Mach schon.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein … Ich kann ganz gut Wunden vernähen, aber hier ist ein Fachmann gefragt, sonst …«

»Sonst seh ich aus wie eine alte Hexe.«

»So weit würde ich nicht gehen … aber wenn es jemand macht, der geschickt mit einer Nadel umgehen kann, ist die Narbe nur so dünn wie ein Strich. Doc Guri…«

»Nein!« Nix fegte seine Hand weg. »Ich gehe nicht zurück in die Stadt.«

»Nix, komm schon«, protestierte Benny, der wie eine besorgte Tante über Toms Schulter hinweg zugeschaut hatte.

Sie warf ihm einen kurzen, tödlichen Blick aus ihren grünen Augen zu und wandte sich dann wieder an Tom: »Du bist nicht mein Dad, Tom, und ich …«

Tom verzog das Gesicht. »Hör auf, Nix. Du bist doch kein bockiges kleines Kind mehr, also verhalte dich auch nicht so. Darauf falle ich nicht rein. Benny versucht es auch immer noch, aber es funktioniert nicht.«

»Manchmal schon«, widersprach Benny.

Sie ignorierten ihn beide.

»Wir können in vier Stunden zu Hause sein«, erklärte Tom. »Der Doc flickt dich zusammen, wir ruhen uns einen oder zwei Tage aus und dann …«

»Nein.«

»Willst du lieber eine hässliche Narbe zurückbehalten?«

»Wenn ich die Wahl habe, dann lieber eine Narbe als eine Rückkehr in die Stadt.«

»Warum?«

Diese Frage kam von Chong und alle drehten sich zu ihm um. Er war blass und wirkte noch immer sehr mitgenommen. Seine Augen schauten dunkel und schuldbewusst.

»Wenn wir deswegen zurückgehen«, erklärte Nix langsam, »was wird uns dann als Nächstes dazu veranlassen? Ich weiß, wie Menschen sind. Wenn wir uns schon von so was aufhalten lassen, werden wir hier draußen nur weitere Gründe dafür finden, warum wir umkehren und noch einmal von vorn anfangen sollten.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Benny.

»Nein.« Tom schüttelte den Kopf.

Nix hielt Tom ihren Verbandskasten entgegen. »Da nimm. Du machst es.«

»Bitte nicht«, wisperte Chong. »Es ist meine Schuld. Ich … ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn du später entstellt bist.«

»Mach es nicht dramatischer, als es ist«, bat Tom. »Ich kann eigentlich ganz gut mit einer Nadel umgehen.«

»Nix ist schön«, sagte Chong. »Sie sollte immer schön bleiben.«

Daraufhin meldete Benny sich zu Wort: »Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich philosophisch zu weit aus dem Fenster lehne, aber Nix wird immer schön bleiben – Narbe hin oder Narbe her.«

»Zweifellos«, pflichtete Tom ihm bei.

Nix errötete, doch ihre Züge blieben angespannt.

Chong schüttelte jedoch stur den Kopf. »Bitte. Wie soll ich mit dem Wissen leben, dass es meine …«

»Gott ist mein Zeuge«, knurrte Nix, »wenn du noch einmal sagst, es sei deine Schuld, Chong, dann prügle ich dich bewusstlos und lasse dich für die Zombies liegen.«

Chong blieb der Mund mitten im Satz offen stehen. Er wandte sich von den anderen ab, schlich zum Rand der Lichtung und hockte sich mit hängendem Kopf ins Gras.

Nix hielt den Verbandskasten noch immer in der Hand. Tom zögerte, aber dann griff Lilah sich plötzlich den Kasten.

»Bis du dich entschieden hast, stirbt sie eher an Altersschwäche«, verkündete sie nüchtern. »Ich mache es.«

»Moment mal«, rief Benny und griff nach dem Verbandszeug. »Weißt du überhaupt, wie das geht?«

Statt einer Antwort zog Lilah ihr T - Shirt hoch und legte ihre Taille frei, wo drei verheilte Narben schimmerten. Eine davon erstreckte sich über 20 Zentimeter Länge, doch alle waren hauchdünn. Benny starrte verblüfft darauf. Lilah besaß einen flachen und muskulösen gebräunten Bauch und eine perfekt geformte Taille. Außerdem hatte sie ihr Shirt ziemlich weit hochgezogen, und Benny merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

Belustigt griff Tom nach Lilahs Hand und schob sie ein paar Zentimeter tiefer.

Dagegen bedachte Nix Benny mit einem weiteren ihrer tödlichen grünäugigen Blicke und schoss auch einen in Richtung Lilah ab, die davon aber gar nichts mitbekam. Ihr Verständnis von Sittsamkeit stammte ausschließlich aus Büchern und ging nicht auf persönliche Erfahrung zurück.

»Du hast die Wunden vernäht?«, wollte Tom von ihr wissen.

»Wer sonst?« Lilah ließ den Saum ihres T - Shirts wieder fallen und drehte sich so, dass sie weitere Narben an ihren Beinen zeigen konnte. In diesem Moment hoffte Benny, ein Asteroid möge ihm auf den Kopf fallen. Eigentlich wollte er keinen Blick riskieren, aber er wusste auch nicht, wie er nicht hinsehen sollte, weil er glaubte, dadurch nur noch mehr aufzufallen.

»Sehr gute Arbeit«, lobte Tom. »Besser als ich es könnte.«

»Ich weiß«, entgegnete Lilah rundheraus. Sie blinzelte in die Sonne. »Am besten bringen wir es jetzt hinter uns. Das Licht ist gut, aber gute Arbeit erfordert Zeit.«

Nix wandte sich an Tom: »Wenn sie es macht, können wir dann hier draußen bleiben?«

Tom seufzte und richtete sich auf. »Eins nach dem anderen. Lass uns erst mal abwarten, wie du dich fühlst, wenn sie fertig ist.«

»Ich fühle mich gut.«

»Wir haben kein Betäubungsmittel dabei, Nix«, murmelte Tom. »Es wird wehtun. Sehr sogar.«

»Ich weiß.« Ihre Augen schauten hart.

Benny versuchte, ihren Gesichtsausdruck und all die unausgesprochenen Dinge zu deuten, die darin verborgen lagen. Im Laufe des letzten Jahres hatte Nix so ziemlich jede Art von Schmerz kennengelernt, die es gab – zumindest jede Art, die Benny sich vorstellen konnte.

Ohne ein weiteres Wort an Tom wandte Nix sich Lilah zu.

»Fang an«, bat sie.