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Lilah hockte auf dem Ast eines Baums und starrte auf die Fassade Gamelands. Seit zwei Stunden beobachtete sie nun schon, wie Leute auf Pferden und in gepanzerten Fuhrwerken am ehemaligen Wawona Hotel eintrafen – Leute aus den Städten und solche, die ohne viel Komfort im Leichenland lebten. Sie kamen, um die Z - Spiele zu sehen, um Wetten auf das Leben und den Tod von Kindern in den Zombiegruben abzuschließen. Am liebsten hätte sie sich mit ihrem Speer auf sie gestürzt, um ihnen zu zeigen, wie es sich anfühlte, gejagt zu werden. Den ganzen Weg bis hierher hatte sie gehofft, auf Benny und Nix zu stoßen, hatte aber nur deren Fußabdrücke gefunden … und später Spuren eines Handgemenges vor dem Hotel. Lilah war sich sicher, dass man die beiden gefangen genommen hatten.

Das Wissen, dass schlechte Menschen diesen Ort übernommen hatten, schmerzte Lilah. Tom war davon ausgegangen, dass das Hotel sicher war, dass sie sich dort ausruhen und auf die Wanderung nach Osten vorbereiten konnten.

Was würde Tom tun, wenn er es herausfand? Wo war er? Und wo war Chong?

Der Greenman hatte ihr eine Karte gegeben, ihr darauf den schnellsten Weg gezeigt und sie durch den Wald bis zum Rand eines Felds geführt, das entlang der Straße nach Wawona verlief. Aber er hatte sich geweigert, sie zu begleiten.

»Es wird einen Kampf geben«, hatte Lilah gesagt. »Willst du nicht mitkommen?«

Doch er hatte sie nur mit seinen Augen angelächelt, die uralt und sehr traurig wirkten. »Nein. Ich habe das Kämpfen aufgegeben. Der Kampf hat zu viel von dem Mann geraubt, der ich einst war. Es hat lange gedauert, um mich wiederzufinden. Ich habe entschieden, nie wieder zu kämpfen.«

»Aber … ich brauche dich.«

»Nein, Liebes, du brauchst dich selbst. Du warst verloren, aber ich glaube, dass du dich jetzt wiedergefunden hast. Wenn du dich entschieden hast, aufzubrechen und deinen Freunden zu helfen, dann ist es deine Entscheidung, nicht meine.«

Dann hatte er sie auf die Stirn geküsst und war in den Wäldern verschwunden. Lilah hatte nur dagestanden, auf die raschelnden Blätter geschaut und sich gefragt, ob der Greenman tatsächlich existierte oder ob ihr Besuch bei ihm nur eine Fantasiegeschichte aus einem ihrer Bücher gewesen war. Schließlich hatte sie sich umgedreht und war dem Pfad in Richtung Gameland gefolgt, um sich auf die Jagd zu machen. Sie war einem Dutzend Wachen ausgewichen, an Gräben vorbeigeschlichen, über Zäune gesprungen und hatte den Baum gefunden, von dem aus sie nun das Hotel überblickte.

Dieses Gameland war anders als das, in dem sie und Annie hatten kämpfen müssen. Anders, aber im Grunde dasselbe. Ein paar qualvolle Minuten lang überlegte sie, was sie tun könnte, und wog die Möglichkeiten gegen das ab, was der Greenman ihr geraten und was sie ihm gestanden hatte. Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach, nicht lauter als die Worte der Wahnsinnigen in der Arena, sondern leise und auf eine sanfte Art. Sie konnte sie klarer hören und besser verstehen.

Ich will dir etwas sagen, kleine Schwester. Egal, wie du dich entscheidest, du legst dich damit nicht fest … Welche Entscheidung möchtest du jetzt treffen?

Als sie dort hockte, schaute Lilah in ihre eigene Zukunft. Ohne Benny und Nix, Chong und Tom gab es dort nichts. Sie konnte in ihre Höhle zurückkehren und weiterexistieren, aber sie wusste inzwischen, dass ein solches Leben gar kein Leben war. Es war leer, und die Vorstellung, in diese Einsamkeit zurückzukehren, schien einfach unerträglich.

Irgendwo da unten waren ihre Freunde.

»Freunde« – was für ein seltsames Wort. Theoretisch kannte sie es aus 1000 Büchern, aber seit dem Tod von Annie und George hatte sie nicht mehr erlebt, was es bedeutete. Dann hatte Benny nach ihr gesucht. Genau wie Tom. Benny und Nix akzeptierten sie, hießen sie in ihrem Leben willkommen. Sie hatten sie mit zu sich nach Hause genommen, ihr ihre Stadt gezeigt und sie in alles einbezogen. Sie hatten sie Chong vorgestellt und er hatte sich in sie verliebt. Sich verliebt. In sie.

Lilah wischte sich eine Träne weg. Wie hatte sie so viel Freundlichkeit, so viel Großzügigkeit vergolten? Mit harten Worten und Drohungen, mit Verbitterung und Zurückweisung. Und mit Untätigkeit, als sie festgestellt hatte, dass Preacher Jack Benny und Nix nach Osten gefolgt war. Ein Wort … nur ein einziges Wort von ihr hätte es verhindern können. Eine einzige Bewegung, ein gezielter Wurf ihres Speers hätte dafür gesorgt, dass das, was jetzt da unten passierte, gar nicht erst möglich gewesen wäre. Sie hatte sich bewusst zurückgezogen, und nun sah sie, welch hoher Preis mit dieser Entscheidung verbunden war.

Also, welche Entscheidung möchtest du jetzt treffen?

Lilah hatte stundenlang darüber nachgedacht. Die neue Entscheidung, die sie getroffen hatte, brannte förmlich in ihrem Kopf. Sie lächelte … und kletterte vom Baum herunter, um ihre Jagd fortzusetzen.