»Zurück … ZURÜCK!«, wisperte Nix eindringlich, bewegte sich langsam rückwärts und trieb Lilah und Benny auf die geöffnete Tür zu. Lilah taumelte, als habe sich ihr Gehirn ausgeschaltet. Benny musste sie förmlich in die Raststätte schieben. Nix kam als Letzte herein. Sie warf ihr Bokutō ab, griff sich Lilahs Pistole und stellte sich einen Moment in die Tür, wo sie den Lauf von rechts nach links bewegte, aber nicht abdrückte. Denn es hatte überhaupt keinen Sinn. Selbst wenn sie ein Fass voller Patronen gehabt hätte, wäre das nicht genug gewesen. Nix senkte die Pistole und zog sich ins Haus zurück.
»Wir sind tot«, sagte Lilah wieder, und ihre Stimme klang auch schon vollkommen leblos.
Benny verriegelte die Tür. »Die wird ihnen nicht viel Widerstand bieten«, urteilte er leise. »Genauso wenig wie die Fenster. Das Glas ist alt. Es würde vielleicht halten, wenn nur ein paar von ihnen dagegenschlagen … aber da draußen sind Hunderte.«
»Tausende«, korrigierte Nix ihn. »Allein 500 kommen über die Felsen. Es ist der helle Wahnsinn.«
Es war wirklich der helle Wahnsinn. Im Jahr zuvor hatte Benny 3000 Zombies im Hungrigen Wald gesehen, aber die wogende Masse der lebenden Toten da draußen musste mindestens doppelt so groß sein. Es war eine Armee verwesender Fleischfresser. »Wo kommen die alle her?«, fragte er verwundert.
»Keine Ahnung«, meinte Nix. »Das Ganze ergibt keinen Sinn. Wir waren überhaupt nicht so furchtbar laut. Und ich glaube auch nicht, dass sie das Feuer im Ofen gesehen haben können. Weder vom Wald aus noch von den Bergen.«
»Ergibt keinen Sinn«, bestätigte Lilah mit tonloser Stimme.
»Was ist mit den Dosen? Das können keine Zombies gewesen sein«, stellte Benny fest.
»Ich weiß, Benny«, sagte Nix. Sie riss ein Streichholz an, um die kleine Öllampe zu entzünden.
»Nicht!«, keuchte Benny.
»Warum nicht?«, fragte sie sanft. Das aufflackernde Streichholz erleuchtete ihr schiefes Lächeln. »Hast du Angst, ich könnte Zombies anlocken?«
Ihre Stimme war verdächtig ruhig. Benny hatte schon Leute so reden hören, kurz bevor sie völlig durchdrehten. Aber was hätte er sagen sollen? Hilfe suchend wandte er sich an Lilah, doch das Verlorene Mädchen wirkte inzwischen wahrhaftig wie verloren. Sie starrte auf die Pistole und das Messer in ihren Händen und steckte die Waffen dann wie betäubt weg.
»Keinen Sinn«, wiederholte sie in einem entrückten Flüstern.
Benny schüttelte den Kopf. »Nein, es ergibt tatsächlich keinen Sinn. Wenn das etwas Normales wäre, hätte Tom uns davon erzählt. Außerdem hat Bruder David hier über ein Jahr gelebt, und er sagte, es seien nie mehr als ein paar umherirrende Zombies in der Gegend gewesen. Das ist … das ist der helle Wahnsinn.«
»Wahnsinn«, wiederholte Lilah wie ein Echo.
Der Ausdruck in ihrem Gesicht gefiel Benny genauso wenig wie der Ton in Nix’ Stimme. Ganz und gar nicht. Er fragte sich, wie verrückt er selbst wohl klingen und wirken mochte. Verrückt oder nicht – sie mussten etwas unternehmen. Bennys Blick wanderte zu den drei Teppichmänteln, die an Haken neben der Tür hingen. Er nahm die, die Schwester Shanti und Schwester Sarah gehört hatten, und warf sie den Mädchen zu. »Hier, zieht die an!«
Nix schlüpfte sofort hinein, während Lilah ihren Mantel einfach auf den Boden fallen ließ. Benny hob ihn auf und drückte ihn ihr in die Hand.
»Zieh.Ihn.An!«, befahl er ihr.
Lilah nahm den Mantel entgegen, hielt ihn aber lediglich unschlüssig in den Händen. Schließlich trat Nix zu ihr und zog ihr den Mantel über, wie eine Mutter, die ein kleines Kind ankleidet.
»Wir müssen hier raus«, sagte Benny, während er einen Gürtel um Bruder Davids Mantel schnallte. Vorsichtig hob er die Tücher an, die vor dem Fenster hingen, und schaute hinaus. Der nächste Zombie war noch immer gut 15 Meter entfernt. »Wir können noch losrennen.«
Bei diesen Worten zuckte Lilahs Gesicht. »Wohin?«
»Sie hat recht, Benny«, bestätigte Nix. »Die Zoms kommen aus allen Richtungen. Hier sind wir sicherer.«
»Nein, hier sind wir nicht in Sicherheit.« Benny machte eine ausholende Handbewegung und deutete auf die Raststätte. »Dieses Haus ist wie eine Lunchbox. Die Zombies werden uns umzingeln, hier eindringen und …«
»Hör auf!«, zischte Lilah und hielt sich die Ohren zu.
»Wenn wir fliehen, haben wir zumindest eine Chance.« Benny griff in seine Tasche und holte die Flaschen mit Kadaverin heraus. »Wir haben immer noch das hier.«
Nix biss sich auf die Unterlippe, gefangen in der schrecklichen Falle der Unentschlossenheit.
Plötzlich schnellte Lilahs Hand ruckartig wie eine Schlange hervor und schnappte sich eine der Flaschen. Sie öffnete sie und träufelte sich die zähe Flüssigkeit auf die Ärmel. Benny und Nix standen nur reglos da und starrten sie stumm an, während Lilah knurrte: »Jetzt!«
Es war ein völlig irrer Moment – als hätte Lilah gar keinen Aussetzer gehabt, sondern wäre die ganze Zeit Herrin der Lage gewesen. Benny und Nix tauschten einen besorgten Blick.
Sag jetzt nichts, warnte Bennys innere Stimme. Sie steht kurz vor dem Zusammenbruch. Ein falsches Wort, und es ist mit ihr vorbei.
Benny warf Nix seine zweite Flasche Kadaverin zu und zog dann die restlichen aus der Tasche.
»Ob das reicht?«, fragte Nix skeptisch, während sie sich die widerwärtige Chemikalie auf den Mantel schmierte.
Benny antwortete nicht. Jeder von ihnen verbrauchte eine ganze Flasche, und im Inneren der Raststätte stank es bald so, als sei sie bis zur Decke mit verwesendem Fleisch vollgestopft.
»Nur Waffen und Wasser«, ordnete Benny an.
»Gut«, bestätigte Lilah.
Nix nickte, nahm aber schnell ihr Tagebuch vom Tisch und steckte es in eine der großen Innentaschen ihrer Weste. Dann schnallte sie ihren Gürtel fest um den Teppichmantel. Der Mantel bedeckte ihren Oberkörper und ihre Arme und hatte einen hohen, steifen Kragen als Schutz für den Hals, aber er war keine Rüstung. Selbst die Zaunwachen zu Hause in der Stadt sagten, Zombies könnten sich irgendwann durch einen Teppichmantel beißen, wenn sie zu mehreren waren.
Benny hängte sich seine Wasserflasche um den Hals und zog sein Bokutō aus der Scheide.
An der Tür hielt Lilah inne und befahl, ohne sich umzudrehen: »Wir gehen langsam. Kämpft und rennt nur, wenn es sein muss.«
»Was ist, wenn wir getrennt werden?«, fragte Nix.
Auf diese Frage gab es nur eine Antwort und Bennys innere Stimme flüsterte sie ihm zu: Wer sich in der Dunkelheit verirrt … ist tot. Trotzdem sagte er laut: »Das werden wir schon nicht.«
Diese Beschwichtigung lag irgendwo zwischen Lüge und Glücksspiel.
Bumm!
Eine tote Faust schlug gegen das Fenster, das im Rahmen erzitterte.
»Ich zuerst, dann Nix und zum Schluss Benny«, flüsterte Lilah. »Bereit?«
Nix und Benny logen beide, als sie erklärten, sie seien bereit. Langsam öffnete Lilah die Tür.
Draußen stand ein Zombie, die Faust erhoben, um gegen das Fenster zu schlagen. Er hatte breite Schultern und seine einst braune Haut hatte die Farbe von milchigem Tee angenommen. Der größte Teil seines Gesichts war verschwunden und aus dem blutleeren Gewebe ragten die abgesplitterten Enden weißer Knochen. Der Untote machte einen torkelnden Schritt nach vorn. Er schnupperte zwar nicht die Luft der Umgebung – Benny hatte etwas Derartiges auch noch nie beobachtet –, dennoch nahm er mithilfe irgendeines unbekannten Sinnes das blasse Mädchen mit dem weißen Haar wahr … und schlurfte dann an ihr vorbei in den Raum. Im Augenblick stellte Lilah für ihn keine Beute dar. Sie stank nach den Toten, und diese zogen an ihr vorbei.
Benny sah, dass Lilah am ganzen Leib zitterte. Als sie die Zombies im Hungrigen Wald befreit hatte, war das etwas völlig anderes gewesen. Damals hatte sie sich auf heimischem Terrain befunden und unzählige Pfade durch die Wälder gekannt. Aber das hier … das hier überstieg ihre Erfahrungen und hatte vielleicht ihre psychische Lähmung verursacht. Sie hatte keinen Plan, und es fehlte ihr entweder die Fantasie oder der Optimismus, an einen plötzlich auftauchenden Ausweg zu glauben.
Oder vielleicht hast du sie auch total fertiggemacht mit dem, was du über Chong gesagt hast. Benny wünschte sich inständig, er könnte die Zeit zurückdrehen und diese gemeinen, dummen Worte zurücknehmen.
Lilah holte gequält Luft und machte einen vorsichtigen Schritt nach draußen. Nix folgte ihr und musste sich an einem schwerfälligen, fetten Mann mit Einschusslöchern im Bauch vorbeiquetschen. Als Benny in die Tür trat, schleifte sein Schuh über den Boden, woraufhin der fette Mann sich umdrehte, die grauen Lippen hochzog und seine grünen Zähne fletschte. Der Zombie knurrte Benny an, doch dann wich der bedrohliche, hungrige Ausdruck so plötzlich aus seinem Gesicht, als sei ein Vorhang gefallen. Seine milchigen Augen wandten sich von Benny ab, dann drehte er sich unbeholfen um und schlurfte in den Raum, gefolgt von weiteren Untoten.
Benny hielt sich sein Bokutō vor die Brust, als handelte es sich um ein Amulett mit magischen Kräften, und schlüpfte hinaus. Lilah hatte nicht auf ihn gewartet. Sie war bereits 30 Schritte weiter und ging direkt auf das Meer der torkelnden Zombies zu. Nix war viel näher, ihr Gang wirkte langsamer und unsicher. Sie drehte sich immer wieder zu Benny um, während Lilah sich nicht ein einziges Mal umschaute und einfach weiterging. Hatte sie einen Ausweg entdeckt?, fragte Benny sich. Sie ging so schnell, dass er sie schon bald nicht mehr sah.
Setz dich in Bewegung oder stirb, trieb seine innere Stimme ihn an. Er machte ein paar hölzerne Schritte vorwärts und versuchte, das ungelenke Torkeln der Zombies zu imitieren, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Nicht stehen bleiben.
Er blieb nicht stehen … bis zu dem Moment, in dem er den Rand der Betonplatte bei den Zapfsäulen erreichte. Von hier aus konnte er fast die gesamte Umgebung der Raststätte überschauen. Der Anblick verschlug ihm den Atem und Benny wäre fast in die Knie gegangen. Dort, inmitten einer wogenden Menge Abertausender Zombies – einer regelrechten Armee – ragte eine große Gestalt mit massiger Brust und breiten Schultern auf, deren Haare noch weißer leuchteten als Lilahs. Aus den Holstern an Hüften und Schultern ragten Pistolengriffe hervor und in einer fast farblosen Faust steckte ein schwarzes, etwa ein Meter langes Metallrohr. Der Hüne stand zu weit weg, als dass er seine Augenfarbe hätte erkennen können, aber Benny war sich sicher – todsicher –, dass eines blau und das andere so rot wie Feuer sein musste.
Der weißhaarige Schemen starrte ihn an. Und lächelte.
Zombies drängten sich schlurfend um ihn. Aber sie griffen ihn nicht an, sondern steuerten an ihm vorbei auf die Tankstelle, auf Lilah und Nix zu. Und auf Benny. Dann schloss sich das Meer der Untoten um den Hünen und entzog ihn Bennys Sicht.
Aber das spielte keine Rolle. Benny hatte die Gestalt bereits gesehen.
Hatte ihn gesehen.
»Nein …«, wisperte er. »Nein.«
Dann drehte er sich um und setzte sich in Bewegung. Dabei ging er nicht vorsichtig vorwärts und schlurfte auch nicht wie ein Zombie. Nein, Benny Imura rannte, was das Zeug hielt, rannte um sein Leben. Und während er sich entfernte, spürte er diese Augen, die sich wie kaltes Feuer in seinen Rücken bohrten. Oh Gott! Wo war Tom? Benny meinte, über dem Stöhnen der Armee der lebenden Toten ein Geräusch zu hören. Es klang wie das tiefe, polternde und spöttische Gelächter des Mannes, den er eben noch deutlich inmitten der Zombies gesehen hatte.
Rotaugen-Charlie.
Aus Nix’ Tagebuch
Als ich noch ganz klein war, verdiente Mom nur mit Mühe genügend Rationendollar für uns beide. Vor der Ersten Nacht war sie Produktionsassistentin in Hollywood gewesen (einem Ort, wo Filme gedreht wurden, bevor Los Angeles mit Atomwaffen vernichtet wurde). Sie wusste nicht, wie man ein Feld bestellt oder etwas baut und versuchte, sich mit Nähen und Putzen durchzuschlagen. Es war eine schwere Zeit, aber sie beklagte sich nie und sagte mir auch nie, wie hart sie arbeiten musste. Dann war sie ein paar Wochen krank und konnte die Rechnungen nicht mehr bezahlen.
Zu dieser Zeit lernte sie Charlie Matthias kennen. Er wollte Mom überreden, mit ihm auszugehen, aber sie war nicht interessiert. Kein bisschen! Dann erzählte Charlie ihr, es gäbe eine Möglichkeit, an einem Tag so viele Rationendollar zu verdienen wie sonst in einem ganzen Monat. Es hatte nichts mit Sex oder so zu tun. Er sagte, sie müsse dafür nur einen Zombie befrieden.
Natürlich hat er ihr nicht erzählt, dass man sie mit einem Zombie in eine große Grube werfen und ihr nur einen Besenstiel als Waffe geben würde. Das war an einem Ort, der Gameland genannt wurde, irgendwo versteckt in den Bergen. Die Leute kamen von überallher, um Wetten auf die sogenannten Z - Spiele abzuschließen. Zombiespiele. Mom brauchte dringend Geld, also ging sie in die Grube.
Sie hat mir nie davon erzählt und ich kenne keine Einzelheiten. Ich weiß nur, dass Charlie Mom eine Woche lang in der Grube gefangen hielt. Ich war damals noch ganz klein und Bennys Tante Cathy kümmerte sich um mich.
Dann brachte Tom meine Mom nach Hause. Tom hatte überall Schnitt- und Brandwunden, wie die Nachbarn mir später erzählten. Er roch nach Rauch und hatte Blutflecken auf seiner Kleidung. Viel später erfuhr ich, dass Tom meine Mom gerettet und Gameland zerstört hatte. Ich glaube, dabei musste er ziemlich viele Leute verletzen. Vielleicht auch töten. Leider gehörte Charlie nicht dazu.
Als Charlie Matthias meine Mutter letztes Jahr umgebracht hat, wollte er mich nach Gameland bringen. In das neue Gameland.
Mein Gott … Wie können Menschen nur so grausam sein?
