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Nix und Benny waren erschöpft, verängstigt, hungrig und todunglücklich. Der Wald war zu groß und zu dunkel, um sich auf die Suche nach dem Greenman zu begeben.

Hinter ihnen, weit unten auf dem Feld, brannte das Feuer allmählich aus. Aber sie standen zu weit weg, um viel erkennen zu können. Waren die Zombies alle verbrannt? Hatte das Feuer sie vernichtet oder würde auf diesem Gebirgspass für immer eine Legion verkohlter Zombies herumgeistern? Es war eine groteske Vorstellung.

Da das Feuer nur noch schwach brannte, leuchtete der Himmel allmählich weniger rot. Benny fragte sich, ob Tom die Flammen gesehen hatte. Wenn ja, was würde er tun? War er bereits auf dem Weg zurück zur Raststätte oder befand er sich auf der anderen Seite des Berges und der dichte Wald und die hohen Gipfel versperrten ihm die Sicht? Der Wind blies den Rauch nach Süden, sodass Tom ihn unmöglich riechen konnte. Vielleicht hatte er gar nichts bemerkt.

»Morgen müssen wir versuchen, zurückzugehen«, sagte Benny und löste den Gürtel des Teppichmantels, um sich Kühlung zu verschaffen. »Tom wird zur Raststätte kommen und nach uns suchen.«

Nix sagte nichts dazu. Selbst wenn Tom zur Raststätte zurückkehren sollte, würde sich die Asche eines Zombies kaum von der zweier Teenager unterscheiden. »Da drüben ist ein guter Baum«, meinte sie und zeigte auf eine krumme, verwachsene Pappel mit starken unteren Ästen und vielen weiteren Zweigen, die in alle Richtungen ragten.

Benny kletterte zuerst hinauf, um sie zu testen. Tom hatte ihm beigebracht, wie man den richtigen Baum auswählte. Die Faustregel lautete: Wenn ein Ast so dick ist wie der eigene Bizeps, kann er einen tragen. Benny hatte das an Dutzenden von Bäumen ausprobiert und festgestellt, dass darauf Verlass war. Vor einigen Bäumen hatte Tom ihn jedoch gewarnt, beispielsweise vor Platanen, weil ihr Holz leicht splitterte; abgestorbene Bäume waren natürlich ohnehin tabu.

Benny schob sich nur mithilfe seiner Beine den Stamm hinauf und setzte seine Armmuskulatur erst ein, als er den untersten Ast erreichte. Nachdem er die Tragfähigkeit der Äste überprüft und ein paar gute Stellen zum Ausruhen gefunden hatte, hielt er inne, um Atem zu schöpfen. Außerdem hätte er am liebsten laut losgebrüllt: Die Verbrennung an seiner Schulter tat so weh, dass es ihm vorkam, als stünde sie in Flammen. Aber immer, wenn er glaubte, die Schreie nicht länger unterdrücken zu können, dachte er an Nix, die ganz still auf dem Baumstumpf gesessen hatte, während Lilah die Wunde in ihrem Gesicht vernähte. Er beschloss, lieber zu sterben, als ihr Schande zu machen, indem er seinem eigenen Schmerz nachgab.

Sobald er sich wieder einigermaßen im Griff hatte, kletterte er hinunter und half Nix. Sie war zwar eine gute Kletterin, musste aber ihren Verletzungen Tribut zollen, und der Schrecken und die Anstrengungen der vergangenen Stunde hatten ihre letzten Reserven aufgezehrt. Das Kraxeln fiel ihr sehr schwer, und als sie endlich die von Benny ausgesuchte Stelle erreichte – eine Art Nest aus vier Astgabeln, die fast vom selben Punkt ausgingen –, war sie vollkommen am Ende.

Anschließend kletterte Benny noch einmal hinunter zum untersten Ast, um den umliegenden Wald ein letztes Mal zu inspizieren. Zu seiner großen Erleichterung waren keine Zombies zu sehen, aber auch von Lilah und dem Greenman fehlte jede Spur.

Er zog seinen Teppichmantel aus und schob sein Bokutō durch den einen und Nix’ Holzschwert durch den anderen Ärmel. So entstand eine Art Rahmenkonstruktion, die zwar vermutlich nicht stark genug war, um als Hängematte zu dienen, ihnen aber zumindest einen gewissen Schutz bot, falls sie hinunterzufallen drohten. Gemeinsam schoben sie den Mantel unter sich und lehnten sich gegen den Baumstamm. Es war nicht gerade bequem, aber sicher, und mehr brauchten sie nicht, um die Nacht zu überstehen.

Gierig tranken sie aus ihren Feldflaschen. Benny erkundigte sich nach Nix’ Gesichtswunde, woraufhin sie ihm versicherte, es sei alles in Ordnung. Aber als er sein Handgelenk an die frische Naht hielt, glaubte er zu spüren, wie Hitze von ihr ausstrahlte. Lag es an der Anstrengung oder am Feuer? Oder wurden sie etwa vom Albtraum einer Wundinfektion heimgesucht?

Benny nahm ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel aus der Tasche, träufelte ein wenig davon auf ein Tuch und betupfte die Wunde, so sanft er konnte. Er wusste, dass er sich ungeschickt anstellte, aber Nix ertrug seine Bemühungen. Dann goss er etwas Wasser auf einen sauberen Verband und schob ihn unter sein Hemd auf die Brandwunde. Es war zu dunkel, um das Ausmaß der Verletzung zu inspizieren, aber er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals solche Schmerzen gehabt hatte. Als Nix fragte, ob es sehr wehtue, log er, es sei nicht der Rede wert.

Allmählich ließ ihre Panik nach und wurde schließlich von einer Woge tiefer Erschöpfung abgelöst. Sie lehnte den Kopf an Bennys unverletzte Schulter und meinte: »Ist es nicht lachhaft, dass wir nach allem, was passiert ist, tatsächlich sagen können, dass dies nicht der schlimmste Tag unseres Lebens war?«

Benny wusste, dass sie an diese drei schrecklichen Tage im vergangenen Jahr dachte – den Tag, an dem ihre Mutter ermordet wurde, und die Tage danach, als Nix sich zuerst in der Gewalt von Charlie und seinen Männern befunden und dann zusammen mit Benny, Lilah und Tom einen Angriff auf das Lager der Kopfgeldjäger gestartet hatte. An diesem Tag hatten sie und Benny mehrere Menschen getötet. Auch wenn ihnen keine andere Wahl geblieben war, wurden sie beide von diesen schrecklichen Bildern verfolgt. Dieser Tag hatte sie geprägt, hatte innerlich und äußerlich Narben hinterlassen.

»Ich weiß«, murmelte Benny und versuchte, die Traurigkeit aus seiner Stimme zu verbannen.

Nix tastete in der Dunkelheit nach seiner Hand. »Ich glaube, das hier lässt sich wohl ohne Übertreibung als der furchtbarste Campingausflug der Geschichte bezeichnen.«

Er lachte. »Unbedingt.«

Eine Weile saßen sie still da und lauschten auf die Geräusche des Waldes. Das konstante Zirpen der Grillen wirkte beruhigend.

»Lilah ist irgendwo da draußen«, meinte Nix schließlich. »Sie befindet sich doch in Sicherheit, oder?«

»Auf jeden Fall«, antwortete Benny.

»Tom auch. Ich wette, er hat Chong gefunden, und sie sitzen irgendwo oben in den Bergen in einem Baum und warten auf den Morgen.«

»Genau.« Der Wald war erfüllt vom Zirpen der Grillen und dem sanften Rauschen der Zweige in der Brise. »Nix, es tut mir leid, wie ich mich in der Raststätte benommen habe. Ich glaube, ich bin irgendwie ausgeflippt.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Ich hab mich wie ein totaler Idiot aufgeführt.«

»Ja, das hast du.«

»Um nicht zu sagen, wie der letzte Arsch.«

»Stimmt.«

»Äh, du darfst mich jetzt jederzeit unterbrechen, statt mir beizupflichten …«

»Ha!«, schnaubte Nix. »Man sollte dir einen gehörigen Arschtritt verpassen.«

Benny seufzte. Dann stupste Nix ihn mit der Schulter an.

»Du hältst dich ziemlich gut in Krisensituationen, Benny«, sagte sie, »aber du kannst es nicht ertragen, zu warten, hab ich recht?«

»Es geht nicht ums Warten, Nix, ich komm nicht damit klar, nichts zu wissen. Das macht mich wahnsinnig.«

»Mich auch.«

»Merkt man gar nicht«, fand er. »Du und Lilah … ihr habt euch ziemlich gut geschlagen, bis ich das Maul aufgerissen hab.«

»Du musst das mit Lilah wieder gutmachen«, mahnte sie.

Nix war nett. Sie verlor kein Wort darüber, dass Lilah eine leichte Zielscheibe abgab, oder wie sehr Benny das Mädchen wahrscheinlich verletzt hatte. Irgendwie sorgte ihre Liebenswürdigkeit dafür, dass Benny sich noch mieser vorkam.

Nach ein paar Minuten fügte Nix hinzu: »Es wird nicht immer so sein.«

Benny war sich nicht sicher, ob das eine Feststellung oder eine Frage war. Aber so oder so, die Antwort lautete in beiden Fällen gleich: »Stimmt.«

Sie drückte seine Hand und er erwiderte ihren Griff. Dann entspannte sich ihre Hand, und Benny erkannte, dass Nix eingeschlafen war. Einfach so. Auch wenn er sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, hörte er den langsamen, gleichmäßigen Rhythmus ihres Atems. Er lehnte sich zurück, lauschte in die Nacht und begann, den Tag Revue passieren zu lassen, um Pläne für den Morgen zu schmieden, aber drei Sekunden später war auch er eingeschlafen. Über ihnen und um sie herum spann die Nacht ihr dunkles Netz, während sich die Welt um ihre Achse in Richtung Morgendämmerung drehte.